Was Jesus für einen Sinn hat

Siebter Ostersonntag A: Joh 17,1-11a

Erinnerung

In Ropschitz, Rabbi Naftalis Stadt, pflegten die Reichen, deren Häuser einsam oder am Ende eines Ortes lagen, Leute zu verdingen, die nachts über ihren Besitz wachen sollten. Als Rabbi Naftali sich eines Abends spät am Randes des Waldes erging, der die Stadt säumte, da begegnete er solch einem auf und nieder wandelnden Wächter. "Für wen gehst du?", fragte er ihn. Der Wächter gab Bescheid, fügte aber die Gegenfrage daran: "Und für wen geht Ihr, Rabbi?" - Das Wort traf Rabbi Naftali wie ein Pfeil. "Noch gehe ich für niemand", brachte er mühsam hervor, dann schritt er lange schweigend neben dem Mann auf und nieder. "Willst du mein Diener werden?", fragte er endlich den Wächter. "Das will ich gern", antwortete dieser, "aber was hab ich zu tun?" "Mich zu erinnern", sagte Rabbi Naftali.

Was ist mein Ziel?

Ungewollt und unversehens hatte der Nachtwächter Rabbi Naftali vor die Frage nach dem letzten Sinn seines Lebens gebracht. "Und für wen gehst Du?" Worauf zielt dein Studieren, dein Lehren, dein Richten und Arbeiten, und auch dein Beten? Wozu tust du, was du tust? Rabbi Naftali hatte darüber wohl schon lange nicht mehr nachgedacht, sonst hätte sie ihn nicht so getroffen, die kleine Frage. Mühen und Gelingen, Sorge und Glück, Trauer und Trösten hatten ihn so in Beschlag genommen, dass er zu sinnen vergaß, wozu im letzten geschah, was er tat und ließ. Wer aber nicht mehr zumindest fragt nach der einenden Mitte, dem Sinn von allem, dem begegnet bald alles gleich-gültig, egal, ob wahr oder falsch, gut oder bös; und dann nur wenig noch, und er wird sich verlieren im Gewirr der Dinge, die er besorgt. Das hat Naftali gewusst, darum ist er so erschrocken. Und darum auch hat er den Wächter gebeten, sein Diener zu werden - dass er ihn erinnere, immer und immer wieder zu fragen, was er zur Mitte, zum Schwerpunkt seines ganzen Daseins gewählt habe - er, Rabbi Naftali aus Ropschitz, der gläubige Jude. Hätten einen solchen Wächter gegen das Vergessen des eigenen Sinnes wir nicht genauso nötig wie Naftali - am allermeisten dort vielleicht, wo es um den Entscheid über die Grundfärbung des ganzen Lebens, also um den Glauben geht. Und für wen gehst du, Christ oder Christin? Wozu Beten, Bekennen, Umkehren, Feiern, Werke der Liebe? Welchen Sinn hat mein Christsein? Wann haben Sie zuletzt so gefragt? Welche Antwort sich gegeben?

Das Werk gottverherrlichender Existenz

Übrigens - was Wächter betrifft, die für uns gehen, damit wir nicht vergessen, so zu fragen: Wir haben welche. Einer von ihnen ist Johannes mit seinem heutigen Evangelium. Freilich verrichtet er seinen Dienst für uns auf die ihm eigene, völlig unerwartete Weise. Er tut es, indem er uns teilnehmen lässt an einem Gebet Jesu, in dem der Herr für sich selbst eben diese Frage nach dem letzten Sinn seines Daseins und Geschicks beantwortet. Zwischen dem Abendmahl mit der Fußwaschung und seiner Verhaftung hat der Herr gebetet: "Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn, damit der Sohn dich verherrlicht. Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und das Werk zuende geführt, das du mir aufgetragen hast."

Den Vater auf Erden verherrlichen, das also hat Jesus als den Sinn seines ganzen Daseins betrachtet: Davon reden und in Gesten, ja durch sein bloßes Umgehen mit Menschen sichtbar machen, wie Gott wirklich ist - so besorgt um den Menschen, so voll entgegenkommender Güte, von so unbeirrbarer Zuneigung, dass der Mensch sich einen solchen Gott gar nicht mehr ausdenken, ihn nicht begreifen, dass er vor diesem Gott nur noch staunen kann, überwältigt von dem warmen Glanz, der ein Menschenherz durchflutet, wenn er glaubend dem nachlauscht, was Jesus von Gott verkündet - das ist: Den Vater verherrlichen. Daher rühren auch die Spuren solchen Beglücktseins über Gott an Jesus selbst, wie sie etwa aufleuchten im Gleichnis von der kostbaren Perle, die ein Kaufmann findet und die ihn voller Freude heimgehen und alles verkaufen lässt, um diese eine Perle dafür zu erwerben. Oder noch deutlicher in den Seligpreisungen der Bergpredigt, mit denen uns in Gestalt eines Selbstportraits Jesu das Inbild des erlösten, weil über Gott glücklichen Menschen geschenkt ist. Damit beginnt Jesu Werk der Verherrlichung des Vaters, dass er die unbeschreibliche Herrlichkeit Gottes, die Faszination, die er ausstrahlt, ja, wenn ich einmal sagen darf, dass er Gottes Charme - wobei Charme vom griechischen Wort charis, zu deutsch: von Gnade kommt -, dass er das alles durch seine Gleichnisse im Menschlichen sich spiegeln lässt.

Zu Jesu Werk gehört aber zugleich auch, dass er diese Botschaft vom herrlichen Gott nicht nur ausspricht, sondern ihre Wahrheit geradezu greifbar besiegelt: Das geschieht in dem, war wir die Wunder Jesu nennen. Wenn Jesus einen Kranken heilt, gar einen Toten erweckt, wenn er Hungernde sättigt oder in Überfülle Wein schenkt wie bei der Hochzeit von Kana, dann niemals dazu, um im Durchbrechen sogenannter Naturgesetze übermenschliche Macht zu demonstrieren, sondern: Das Gesund- und Lebendigwerden, das Sattsein und überschwängliche Feiern schenkt er als sichtbares Gleichnis dafür, wie Gott will, dass unser Leben wieder werde. Brechungen der Herrlichkeit im menschlichen Prisma von Leib und Seele sind die Wunder; sprechende Ahnungen, wie der Gott sein muss, der unser Leben so heil, so erfüllt und festlich will.

Aber noch nicht einmal das ist Jesu ganzes Werk. Hat er doch die Verherrlichung Gottes absolut als den Sinn seiner selbst gewusst, was soviel bedeutet wie: dass sich Jesus und sein Werk gar nicht mehr auseinanderhalten lassen. Nicht nur Teile und Taten seines irdischen Lebens machen Jesu Werk aus, sondern sein ganzes Dasein. Er selbst ist das Werk, das er vollbringt für Gott. Er ganz. Erinnern wir uns: Der Herr spricht von diesem seinem Werk unmittelbar vor seiner Verhaftung, vor jenem Augenblick, da ihm das Gesetz des Handelns ganz aus der Hand genommen, er selbst in absolute Ohnmacht verfügt wird: Ich habe dich auf der Erde verherrlicht und, das Werk zuende geführt, das du mir aufgetragen hast - zu diesem Ende wohlgemerkt. Also: Auch dieses Ende, auch die Passion gehört noch zur Verherrlichung Gottes. Doch wie? Müsste der, der da als Repräsentant Gottes auftrat, - müsste der jetzt, da er als gemarterte, zerschundene Leiche am Kreuzgalgen hängt, nicht eher Verhöhnung denn Verherrlichung Gottes wirken?

So zu denken, kann unbestritten für sich in Anspruch nehmen, menschlich plausibel zu sein, hat aber noch nicht den unbedingten Ernst erfasst, mit dem Jesus von Gott redet und an ihn glaubt. Dass Jesus für seine Botschaft von Gott lieber stirbt als aus taktischen Gründen auch nur ein Jota von ihr zurücknehmen, damit bezeugt er in nicht mehr zu überbietender Klarheit, dass er diesem Gott nicht nur alles zutraut, sondern mehr als alles, also das Ganze; dass er ihm zutraut, um das Ganze seiner Existenz, also um das Leben einschließlich des Sterbens besorgt zu sein - und das heißt: dass er zu glauben wagt, dieser sein Gott - den er Abba, lieber Vater nennt -, dieser Gott werde auch noch mit der menschlich beirrendsten Situation des Daseins, mit seinem radikalen Abbruch im Tode noch etwas anfangen, ja diesen Abbruch selbst zu einem neuen Anfang machen können. Ein letzter Sinn des Lebens, der nicht auch den Tod noch umgriffe, wäre auch nichts anderes als seine eigene Karikatur. Und: Vermöchte Jesus Größeres - also Herrlicheres - von Gott zu bekunden als dieses unbedingte "Dein bin ich im Leben und im Tode"? Darum ist sein Gang ans Kreuz der unüberbietbare Höhepunkt seines Werkes, der Verherrlichung Gottes. Kein Zufall daher auch, dass das letzte Wort des sterbenden Herrn am Kreuz nach dem Zeugnis des Johannes lautet: Es ist vollbracht - das Werk seiner gottverherrlichenden Existenz. Und die österliche Auferweckung dann ist Gottes beglückende Antwort auf das bedingungslose Zutrauen in ihn und deshalb die Erfüllung der aus solch unbedingtem Glauben gesprochenen Bitte Jesu: "Vater, die Stunde ist da. Verherrliche deinen Sohn!"

Kirchengründung theologisch

Jesu Werk der Verherrlichung Gottes aber bleibt nicht einsam in der Geschichte stehen. Es treibt gewissermaßen eine Frucht hervor: Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart, die du mir aus der Welt gegeben hast - d.h.: Ich habe Menschen deine Herrlichkeit sichtbar gemacht... und sie haben an deinem Wort festgehalten. Das Offenbar werden dessen, wie Gott wirklich ist, hat eine Gemeinschaft entstehen lassen: derer, die dem was sie da erfahren, fasziniert Glauben schenken, mit allen Konsequenzen. Nicht menschlich beschlossener Zusammenschluss zu einem Verein also hat Kirche begründet - auch wenn sie sich nicht selten als Verein meint, gebärden zu sollen -, sondern das Aufstrahlen der Herrlichkeit Gottes, das in Jesus geschah. So denkt das Evangelium von uns.

Uns als Kirche und Gemeinde als so von Gott gegründet zu verstehen heißt aber zugleich: Auch anerkennen, wer Jesus ist und woher er kommt: Sie haben erkannt, dass alles, was du mir gegeben hast, von dir ist. Gemeinde ist die Reaktion der Welt auf das Offenbarwerden wer Gott ist, und darin Loblied auf den, der dies mit dem ganzen Gewicht seiner menschlichen Existenz ins Menschliche übersetzt und so offenbart hat: "Alles, was mein ist, ist dein, und was dein ist, ist mein; in ihnen bin ich verherrlicht." Die faktische Existenz der Gemeinde macht sichtbar, wie unausdenklich und wunderbar - wohl auch: wie bestürzend - das ist, was uns durch Jesus Christus zutage tritt. Wirkliches Gemeindeleben - das Einander-dienen, das Füreinander-einstehen; das einander Glauben-helfen, das Mitleiden und Mitfeiern in allen seinen Weisen lässt die Wirklichkeit Christi aufleuchten und damit zugleich etwas vom tiefsten Geheimnis Gottes durchscheinen. In der Bindung an Jesu Wort die unbedingte Sympathie Gottes mit den Menschen - allen vorweg mit den Kurzgehaltenen und zu kurz Gekommenen - widerspiegeln und sie so unzweideutig widerspiegeln, dass Außenstehende sich zumindest im stillen manchmal wunderten über die Unbeirrbarkeit und auch noch in der Enttäuschung stabile Unverbesserlichkeit der Liebe zueinander: das ist Verherrlichung Jesu durch die Seinen; lobpreisende Anerkennung seines Herzensanliegens, die Gott seinem Jesus schenkt durch unseren Glauben.

Und damit ist auch schon die Antwort ausgesprochen, die das Evangelium uns auf die Frage nach dem letzten Sinn unseres Christseins und damit im Grund unserer ganzen Existenz anbietet: Der Sinn unseres gläubigen Lebens ist: Christus verherrlichen und in ihm Gott - wobei wir im Vorgang dieses unseres Werkes hineingezogen werden in Gottes faszinierende Wesensart, so dass auch unser eigenes Leben ein wenig davon ausstrahlt. Diese Sinngebung mag auf den ersten Blick ungeheuer fremd erscheinen, vielleicht sogar provokativ. Und doch gibt es keinen Sinn für uns, der uns menschlicher, weil freier machte, weil der Glaube und sein Werk nicht dem furchtsamen Gnädigstimmen einer fernen Majestät dienen; nicht einmal dem Genügen gegen ein allgemeines Gesetz, sondern weil sie beglückter Dank an Gott ist dafür, dass er ist, wie er ist. Nicht Moral gibt dem Glauben seinen Sinn, sonder das Wunderbare Gottes - seine Schönheit. Keine Frage dann aber, dass deshalb auch der sichtbare Grundakt unseres Glaubens - die Feier der Eucharistie - etwas von dieser Schönheit Gottes spiegeln und so Verherrlichung Jesu sein wird. Dächten wir öfter daran, für wen wir Christen gehen, unser Beten und Singen würde gewiss strahlender.