Geduld und Wahrheit
Diplomfeier Sommersemester 2002: Koh 1,2-4.8-9; 3,1-8 + Röm 8,18-28c + Lk 12,49-53
I.
Mit
ihrer Familie, dem Freundeskreis, der Partnerin oder dem Partner feiern
Sie heute den Abschluss Ihres Theologiestudiums. Sie können in Ihrer
Lebensgeschichte einen Punkt machen. Darüber dürfen Sie sich freuen und
ich gratuliere Ihnen zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen.
Vielleicht schwingt ein wenig Wehmut mit, weil es auch der Tag des
endgültigen Abschieds ist vom Studierendenleben, von vertraut- und
liebgewordenen Menschen, Orten und Dingen. Aber alles hat seine Zeit.
Und Zeit ist für uns Menschenkinder endlich. Darum kommt jetzt anderes.
II.
Was Ihnen die Zukunft bringen wird, weiß noch niemand.
Nur eines steht jetzt schon fest: Sie werden als junge Christinnen und
Christen leben und als Theologinnen und Theologen arbeiten in einer
Welt, wie es sie schon lange nicht mehr gab. Wir erleben in immer
kürzeren Abständen, wie dünn der Boden des Humanum ist, auf dem wir uns
lange so sicher wähnten und selbstbewusst bewegten: Schon der 11.
September 2001 war ein Fanal. Und jetzt, mit dem 26.4. 2002 ist uns in
Erfurt das Entsetzen buchstäblich auf den Leib gerückt. Schnelle
Erklärungen taugen nicht. Aber manches spricht dafür, dass es wohl ein
Gemisch aus Laisser-faire im Moralischen und Leistungswahn ist, was
sich da zu Sprengstoff verdichtet, der im Kleinen wie im Großen die
Netze zerreißt, die menschliches Leben tragen.
III.
Und mitten in all dem bewegen Sie sich mit ihrem
Glauben und Ihrer Gottrede, die Sie sich sogar auf die eine oder andere
Weise zum Beruf gewählt haben. Wird man Sie hören? Hören wollen? Hören
können? Die Aktien stehen nicht gut. Nicht weil es so viele Atheisten
gäbe. Die Fragen setzen längst viel tiefer an. Der
Religionsgeschichtler Jan Assmann beschließt sein Buch "Moses der
Ägypter" mit der These, durch die für die monotheistischen Religionen
Judentum, Christentum und Islam charakteristische Unterscheidung
zwischen wahr und unwahr, Gott und Götze sei der Gedanke der Sünde in
die Welt gekommen. Genau das aber sei das wichtigste Motiv, diese
Unterscheidung in Frage zu stellen. Und der famose
Philosophieentertainer Peter Sloterdijk setzt noch eins darauf: Wenn
Ende des 21. Jahrhunderts einmal in einer großen Ausstellung Resümee
über unsere Epoche von heute gezogen werde, da würden sich die Besucher
über unser Ringen um den Unterschied zwischen wahr und falsch, gut und
nützlich, Sein und Schein als halbarchaische Konfliktfolklore
amüsieren. "An Schaubildern dessen - schreibt er -, was wir heute
denken, werden Schulklassen vorüberziehen und kichern, das waren die,
die an den Gegensatz von Tatsachen und Möglichkeiten geglaubt haben und
an die Kluft zwischen dem Positiven und dem Phantastischen." Ist es
wirklich unaufgeklärter Unsinn, solche Unterschiede zu machen? Mir wird
schwindlig, wenn ich vor solchen Thesen an Ground Zero und das Erfurter
Gutenberg-Gymnasium denke.
IV.
Es gehört zur Provokation des Christlichen, dieser
Versuchung zum Gleichgültigmachen im Kern zu widerstehen. Genau das
steht hinter der Passage aus dem Lukasevangelium, die Sie sich für
heute ausgewählt haben. Nachgerade skandalös mutet dieses Jesuswort
einen an, widerborstig für Ohren, die mit Christsein gewohnt sind, eine
Liebessemantik zu assoziieren. "Feuer auf die Erde zu werfen, bin ich
gekommen." Und nicht Frieden geht von ihm aus, sondern Spaltung bis
quer durch Familien hindurch. Es ist das Echo der ersten christlichen
Generationen, das wir da vernehmen. Die Erfahrung, dass Glauben mit
einer Entschiedenheit einhergeht, die sich nicht von selbst versteht
und darum wehtun kann. Es ist die Entschiedenheit für den Gott Jesu
Christi, die sich da fühlbar macht und ebendeshalb bis zum
Schmerzhaften fühlbar wird, weil sie auf etwas an und in diesem Gott
antwortet, das auch nicht selbstverständlich ist.
Es ist Gottes Entschiedenheit für seine Geschöpfe, die dahinter
steht. Die ganze Bibel erzählt von ihr. Angefangen von der
Schöpfungsgeschichte über den Sündenfall und seine katastrophischen
Folgen bis hin zum Turmbau von Babel. Und wie dieser Gott dann durch
die Berufung der Väter und Mütter im Glauben, die Sendung der
Prophetinnen und Propheten, der Sänger, Könige und Weisen das Herz des
Menschen wieder für sich zu gewinnen sucht und nach christlicher
Überzeugung so sehr alles daran setzt, dass er am Ende in Jesus sein
Liebstes dafür einzusetzen bereit ist, um dem Menschen zu sagen: "So
viel bist Du mir wert, mehr als ich mir selbst, dass ich mein Innerstes
dafür hergebe, Dich für mich wieder zu gewinnen" - mit all den
Ver-rücktheiten im buchstäblichen Sinn, die sich ein solcher Gott
leisten muss. Gerade so, wie ihn Jesu Bergpredigt schildert: als einen,
der regnen lässt über Gerechte und Ungerechte und seine Sonne scheinen
lässt über Gute und Böse, aber eben nicht, weil gerecht und ungerecht
und gut und böse gleichgültig wären, sondern weil durch diese
Unterscheidung die Wahrheit über den Menschen und über Gott erst zur
Gänze herauskommt: Ja, der Mensch kann nicht nur gut und gerecht sein,
sondern auch böse und ungerecht. Und wenn er es ist, wird er Mal um Mal
die Erfahrung machen, dass er sich aus eigener Kraft den Fangstricken
des Bösen und der Ungerechtigkeit nicht mehr entwinden kann. Aber
gerade dann sagt ihm die christliche Botschaft: "Wenn Du gut warst, ist
Gott für dich da. Und wenn du böse warst, ist er immer noch für Dich
ja. Ja dann erst recht. Denn er lässt dich nicht fallen. Du magst es
tun. Er nicht. Er hofft auf Dich für Dich. Und wartet - durch nichts zu
beirren und zu enttäuschen, auf dass Dich seine Langmut eines Tages
doch bestürze."
V.
Wer einen solchen Gott glaubt, dem kann nichts
gleichgültig sein. Der oder dem wird die Ungerechtigkeit und das Böse,
das eigene und das fremde, auf der Seele brennen. Aber er oder sie wird
gleichzeitig zu glauben wagen, dass das Böse und Ungerechte bei und in
Gott selbst zum Ausgleich und Austrag kommen wird. Das deutet das
Evangelium an, wenn es Jesus von einer Taufe sprechen lässt, mit der er
getauft werden muss und die ihn ängstigt, bis sie vollendet ist. Das
christliche Aufrichten des Unterschieds zwischen wahr und unwahr bringt
kein krankmachendes Verhängnis über die Welt und verlockt auch nicht zu
einem apokalyptischen Szenario, in dem der Mensch selber über
seinesgleichen Standgericht hält - auch wenn die Geschichte der
Christentümer die Versuchung dazu sehr wohl auch gekannt hat. Die
christliche Entschiedenheit, die überzeugt ist und daran festhält, dass
es so etwas wie Wahrheit und Sinn gibt in der Welt, ist zutiefst an
Hoffnung gebunden. Sie weiß darum, dass wir jetzt in einer Zwischenzeit
leben, in der sich der Unterschied zwischen wahr und unwahr bis zur
Unkenntlichkeit verwischen kann. Darum ist diese Weltzeit für
Christinnen und Christen eine Zeit des Seufzens und der Geburtswehen,
wie Paulus in der Lesung aus dem Römerbrief sagt, weil erst noch
herauskommen muss, was es mit dem Leben im Ganzen auf sich hat. Die
Zeit dieser Hoffnung steht darum unter dem Zeichen der Geduld. Es heißt
das Zwielicht aushalten, in das das Leben manchmal getaucht scheint. Im
Glauben an einen Gott, der sich unbedingt für seine Geschöpfe
entschieden hat, darf man das riskieren. Denn wenn dieser Gott der ist,
der er nach dem Zeugnis Jesu und der ganzen Schrift ist, dann sind wir
auch in dieser Wartezeit nicht uns selbst überlassen, auch dann nicht,
wenn wir nicht einmal mehr wissen, worum wir in rechter Weise beten
sollen. Denn wir dürfen darauf bauen: Er wird es zum Guten führen.
VI.
Eben das auch wird, wo immer Sie als Theologin oder
Theologe arbeiten werden, die Mitte Ihres Tuns sein müssen: In Menschen
die Sehnsucht nach der Wahrheit zu wecken und zu nähren und sie
gleichzeitig zu stärken in der Geduld, die sich auf Hoffnung stellt.
Wir Menschen können nicht anders als nach dem Ganzen zu fragen - und
vermögen doch dieses Ganze immer nur im Fragment zu erahnen. Ein
solcher Dienst an der Geduld und der Wahrheit fordert Kraft. Die wächst
Ihnen nur zu, wenn Sie über all Ihren Aufgaben, die sich stellen
werden, immer wieder in erster Person Theologie treiben, also zu denken
wagen, dass das, was christlich von Gott gesagt ist, wahr ist - und
dass zwischen wahr und unwahr, zwischen Gott und Götze ein Unterschied
herrscht. Wie man das tut, hatten Ihnen Ihre Lehrerinnen und Lehrer an
unserer Fakultät nahebringen wollen. Es gibt eine Zeit zum Lernen und
es gibt eine Zeit zum Tun. Jetzt sind Sie dran. Alles Gute!