Die größere Seligkeit

Maiandacht: Lk 11, 27-28   


I
Der schlesische Theologe Joseph Wittig erzählt in seinen Kindheitserinnerungen von einem Bettler, der alle paar Monate in sein Elternhaus kam. Der Mann pflegte an der Stubentür stehenzubleiben und, ohne anzuklopfen, zu beten anzufangen: Vater unser, der du bist im Himmel… – Wenn dann Wittigs Mutter mit einer Schüssel Mehlsuppe oder einem Stück Brot hinausging, sagte er: Der himmlische Vater gibt’s euch wieder. Wenn ihn aber jemand fragte: Wer sind Sie denn eigentlich?, da antwortete er: Ich bin der Sohn Gottes. Alle kannten diese Antwort schon von früher, und wenn dann einer sagte: Ich denke, Sie sind der Bayer Ignaz aus Falkenbergen, dann erklärte er mit ruhiger Stimme: Ja, das bin ich einmal gewesen. Aber als ich getauft wurde, da kam eine Stimme vom Himmel und sprach: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.

I
Stellen Sie sich einmal vor: Uns heute würde einer so etwas an der Tür sagen! Die meisten hielten doch dafür, dass, wer so spricht nicht mehr alle Tassen im Schrank hat und empfehlen ihm die Therapeutencouch. Der Sohn Gottes sei er, sagt er!

III
Und doch: Sogar noch, wenn jener andere aus purem Ulk so geredet hätte, hätte er noch immer die Wahrheit gesagt. Vielleicht muss man ein Stück weit Außenseiter geworden, aus den gewohnten Bindungen des Alltags herausgefallen sein, wie der Bettler in Wittigs Geschichte, um das zu begreifen. Aber es stimmt: Wir Menschen stehen nicht irgendwie in Bezug zu Gott, zu einem, der in unendlicher Ferne wohnt. Vielmehr sind wir von Wesen her zuinnerst mit Gott verbunden, ja in seine Wirklichkeit hineingenommen derart, dass wir uns – menschlich gesagt – als ein Stück von seinem Fleisch und Blut begreifen dürfen. So hat Jesus sich selbst verstanden, darum sagt er von sich: Wer mich sieht, hat den Vater gesehen. Und so hat er jeden anderen verstanden, sonst hätte er – im Blick auf sein Amt als richtender Maßstab am Ende von allem – nicht sagen können: Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan oder verweigert habt, dass habt ihr mir getan oder vorenthalten.

IV
Gott in uns. Wir in ihm. – So reden halt fromme Seelen, denken Sie jetzt vielleicht. Und ich halte Ihnen entgegen, dass das kleine Evangelium von vorhin genau dieses innige, wirkliche Einssein mit Gott als das Wirklichste und Größte für den Menschen bezeichnet, das es geben kann.

Eine Frau, die Jesus bei der Predigt zuhört, ruft ihm – begeistert von dem, was er sagt und wie er ist – zu: Selig die Frau, deren Leib dich getragen und deren Brust dich genährt hat. – Sie hat ja auch recht: Es ist so etwas wie das Wurzelgeheimnis unseres Glaubens, dass in Jesus Gott selbst sich als Mensch, geboren von einer Frau, zu Erkennen gegeben hat. Darum nennen wir Maria auch „Gottesmutter“ und sagen damit etwas ganz Einmaliges von dieser jungen Frau aus Nazareth, etwas, was eines Seligrufs gewiss würdig ist. Doch jener Frau, die solches ausruft, antwortet Jesus: Selig vielmehr die, die das Wort Gottes hören und es befolgen. Das heißt: Es gibt die Seligkeit, Jesus geboren zu haben, also Gottesmutter zu sein. Aber es gibt noch eine andere Seligkeit, die – so Jesus – die eigentliche ist; darum: Selig vielmehr… Und die besteht darin, Gottes Wort zu hören und zu leben – also zu glauben. Damit sagt Jesus: Gläubigsein ist mehr als Gottesmuttersein. Ist dies schon groß, so jenes noch größer. Der Grund: Glaube ist nichts anderes als das ausdrückliche, gelebte Ja zu jener innersten Verbundenheit mit Gott, die mich in ihm und ihn in mir sein lässt und die sich daran zeigt, dass ich ganz Ohr bin für das, was von Gott kommt. Ist die Menschwerdung die Wurzel unseres Glaubens, so dieses Einssein mit Gott sein Ziel.

V
Je vorbehaltloser ein Mensch ganz Ohr ist für seinen Gott, desto vollständiger wird diese Einheit an ihm Wirklichkeit. Hat einer ganz geglaubt, so gehört er darum im Augenblick, da sein Dasein endet, restlos in Gott hinein – mit Leib und Seele sagen wir treffend –, mit allem, was zu seinem Dasein gehört. Weil das Evangelium Maria als gänzlich Glaubende bezeugt, bekennen wir etwa mit dem jüngsten Mariendogma von 1950, der Himmelfahrt Mariens ihr gänzliches Hineingenommensein in Gott. Von ihr wissen wir auch durch das Zeugnis der Hl. Schrift mit Gewissheit, was vielleicht auch schon von anderen gilt, weil auch sie – vielleicht unentdeckt von anderen – ganz geglaubt haben. Auch von uns will das freilich gelten: Wir in Gott. Er in uns. Das ist unser Ziel. Wie wir es erreichen, wissen wir auch schon: Selig, die Gottes Wort hören und es befolgen. Maria geht uns darin voran. Darum ehren wir sie so.