Logos
Weihnachten am Tage C: Joh 1, 1-18
I
Gerade seit ein paar Stunden ist die Heilige Nacht vergangen. Wir haben
die vertrauten Geschichten aus der Bibel gehört, die Lieder gesungen,
den einen oder andern alten Brauch daheim gepflegt, der selbst noch die
anrührt, die gern von sich sagen, dass sie religiös unmusikalisch
seien. Jetzt ist Weihnachten.
II
Aber Weihnachten ist mehr, viel, viel mehr als diese Geschichten, die
Lieder, die wunderschönen Krippen und jene Bräuche vielleicht. Auf
dieses „Mehr“, diesen Überschuss stößt uns geradezu das Evangelium des
Weihnachtstages, das wir eben gehört haben: Auch ein Hymnus, ein Lied
gewiss – aber doch von einer Nüchternheit und so sehr gleichsam von
weit oben herab, dass es beinahe kühl wirkt vor dem Hintergrund des
Dunkels und der milden Lichter der Heiligen Nacht.
III
Denn in diesen Versen, die den Anfang des
Johannesevangeliums bilden, da geschieht etwas Ungeheures. Da wird das
Geschehen im Stall von Betlehem ohne Wenn und Aber ins Verhältnis zum
Ganzen der Welt, ja mehr noch: zum Ganzen der Schöpfung gesetzt:
Im Anfang war das Wort,
und das Wort war bei Gott,
und das Wort war Gott.
Alles ist durch es geworden,
und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist…
Und das Wort ist Fleisch geworden. Usw.
So steht es in den liturgischen Büchern und unseren Bibeln heute. Doch
im Grunde verrät diese Übersetzung so gut wie nichts von dem, was da
wirklich gesagt wird.
Johannes hat da nämlich ein Wort aufgegriffen, das schon
damals von weit her kommt, nämlich aus dem 6. vorchristlichen
Jahrhundert von einem Philosophen, dem sogenannten Vorsokratiker
Heraklit. Diesem Denker war eines Tages aufgefallen, dass es ganz viele
verschiedene Dinge gibt in der Welt, dass die auch noch dauernd in
Bewegung und Veränderung begriffen sind – und dass trotzdem irgendwie
alles, was es da gibt, zusammenhängt und ein sinnvolles, beständiges
Ganzes bildet. Darum war er überzeugt: Wenn das, was solchermaßen ist,
Bestand hat, muss es ein einendes Prinzip geben, das alle
Unterscheidungen übergreift und zusammenhält. Dieses Prinzip hat er
„Logos“ genannt, wörtlich übersetzt: „Lese“ oder „Sammlung“. Und dass
wir Menschengeister, wir kleinen, auch halbwegs etwas von all diesem
Wirklichen verstehen können, verrät, dass unsere Seele an diesem
Prinzip irgendwie Teil hat – und aussprechen können wir dieses Gedachte
auch noch so, dass andere uns verstehen, weshalb er Beides, das Denken
und Aussprechen, auch noch „Logos“ nennt. Daher kommt auch, dass wir
diesen griechischen Ausdruck „Logos“ gern mit „Wort“ übersetzen, obwohl
das nur einen kleinen Teil von dem ausdrückt, was er eigentlich meint.
Aber jetzt kommt der Paukenschlag: Diesen Logos, dieses alles
zusammenhaltende, alles verständlich und transparent und aussprechbar
machende Prinzip identifiziert der Evangelist mit Jesus von Nazareth.
Er will sagen: Was er, dieser Jesus sagt, was er tut, wie er ist, das
macht verständlich, wie alles zusammenhängt und zusammengehört: Gott
und Mensch, Himmel und Erde, und all das, was uns Menschenkinder zu
Lebzeiten bewegt: Das Kommen und Gehen, geboren Werden und Sterben, das
Gute und das Böse. Er, Jesus, das Kind im Stall, das später an einem
Galgen sterben wird und – verrückt genug – durch all das zusammen etwas
aufstrahlen lässt vom Geheimnis Gottes, er in Person ist jener Logos,
jenes Grundmaß alles Wirklichen – nur dass es jetzt christlich gesehen
nicht mehr ein nur wenigen zugängliches, elitäres philosophisches
Prinzip ist, sondern gleichsam Menschenantlitz besitzt: Der Logos ist
Fleisch geworden und hat unter uns sein Zelt, seine Bleibe
aufgeschlagen, sagt Vers 14.
IV
Wie kommt Johannes zu dieser verwegenen These? Um das
zu verstehen, muss man gleichsam den Blick ein bisschen im Neuen
Testament schweifen lassen. Und wenn man das tut, findet man zwei
Haltepunkte, die weiterhelfen. Da gibt es zum einen im 1. Johannesbreif
den lapidaren Satz „Gott ist die Liebe“. Und zum anderen stößt man auf
einen viel älteren Gedanken im Philipperbrief des Apostels Paulus
Kapitel 2, in Versen, die wie ein Hymnus klingen, aber wohl in Wahrheit
so etwas wie Paulus’ emphatischste Programmangabe seines ganzen Denkens
und Handelns sind:
„Er [Jesus] war wie Gott,
hielt aber nicht daran fest Gott gleich zu sein,
er entäußerte sich,
wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich“. (Phil 2, 6-7).
Er entäußerte sich – griechisch: ekenosen: die Denkfigur der Kenosis, wie die Theologen sagen.
Dahinter steht ein atemberaubender Gedanke: Gott hat sich in die
Menschwerdung seines Gottseins begeben, hat sich klein gemacht. Doch
warum? Antwort: Könnte, wenn das wahr ist, – könnte dann nicht sein,
dass er genau darin seine größte Größe erweist? Wenn und weil Gott Gott
ist, hat er es gar nicht nötig, sich in Gesten und Taten der Macht zu
manifestieren, sondern – menschlich gesprochen – tut er das darin und
dergestalt, dass er sogar noch auf das Mächtigsein verzichtet, um das
zu sein, was er in Wahrheit ist: Quelle und Urgrund von allem, was
lebt.
Wenn die Macht des denkbar Mächtigsten – also Gottes,
traditionell gesprochen – in der Preisgabe dieser Macht zugunsten von
anderem besteht – dass dieses andere sei –, und wenn sich darin das
wahre Mächtigsein dessen zeigt, worüber hinaus Mächtigeres nicht
gedacht werden kann, dann kann es in der Welt nichts Mächtiges mehr
geben – keine Moral, kein Dogma, keine Autorität –, das sich diesem
Kriterium des Seins-für-Anderes zu entziehen vermöchte. Und auch wenn
es so etwas wie Gottes Allmacht gibt, dann kann sogar diese nur die
Form des unbedingten Seinlassens von anderem haben. Der italienische
Philosoph Gianni Vattimo füllt die Hohlform dieser Macht, die sich im
buchstäblichen Seinlassen von anderem vergegenwärtigt, wortwörtlich mit
dem Begriff der „caritas“, der Liebe, übrigens in bemerkenswerter Nähe
zu Augustinus, der einmal in seinem Johannesbriefkommentar sinngemäß
geschrieben hat: Jemandem bekennen „Ich liebe dich“, heiße, ihm oder
ihr zu sagen: „Ich will, dass Du bist.“ Darum vorhin mein Hinweis auf
den 1. Johannesbrief.
V
Das ist die Mitte der Weihnachtsbotschaft: Gott macht
sich selber klein und gibt dadurch dem Menschlein, das klein ist und
sich oft klein fühlt, eine durch nichts anderes zu gewinnende Würde.
Kritiker des Christentums von der Spätantike bis zur jüngsten Gegenwart
hat eben das am meisten aufgeregt: dass der Mensch, dieses
zerbrechliche, fehlbare, für Störungen und Verletzungen anfällige Wesen
so wichtig sein soll, dass Gott sich seiner annimmt bis dahin, dass er
selber seinesgleichen wird. Für die Heiden von einst und heute ist das
ein einziger Skandal, eine Geschmacklosigkeit sondergleichen.
Aber genau das ist das christliche Zentrum: Was Gott uns
unbedingt sagen will, sagt er in der sichtbaren, leiblichen, deshalb
auch sterblichen Existenz Jesu von Nazaret. Was Gott uns unbedingt
sagen muss um unseretwillen, sagt er uns nicht als hehre Formel, auch
nicht als Befehl, noch nicht einmal als Wunsch, sondern sagt er als
Zeit-Wort, als Tun-Wort, indem er Mensch wird. Die göttliche Botschaft
ist das Fleisch. Johannes sagt nicht: Das Wort ist Mensch geworden,
oder: Das Wort ist Person geworden. Nein: Fleisch ist es geworden, sagt
er. Also: Gott identifiziert sich mit der menschlichen Wesensart: mit
ihrem Anfang und ihrem Ende, mit ihrer riskanten Freiheit und ihrem
Verdanktsein, auch mit ihren Grenzen und mit der Frage, die sie sich
selbst für immer bleibt. Das alles gehört zu euch, sagt er uns. Du
musst nicht anders sein als ich dich schuf, um dein Glück zu finden.
Wenn wir Jesus von Nazaret wirklich als Gottes Botschaft zu glauben
wagen, dann hat er uns in ihm gesagt: Traut euch, Mensch zu sein im
Zutrauen zu mir. Getrau dich deshalb, alles anzunehmen, was du in dir
findest, sogar das, was dir jetzt hässlich und niedrig und gefährlich
erscheint. So wird es nur, weil du es unter deine eigene Macht und
Verfügung gestellt hast. Du hast nicht mehr Fleisch sein wollen, du
hast wie Gott sein wollen aus Misstrauen, ich hätte dir etwas
vorenthalten am Leben. Darum kann so viel Gutes, was ich dir gab, auch
böse werden: deine Triebe, dein Verstand, sogar dein Schönstes, deine
Liebe, kann zwielichtig sein.
Deshalb: Trau dich wieder, Mensch zu sein! Schau auf den, den ich
gesandt habe! Vertrau dich ihm an, ihm, der mein Wort ist an dich, das
dir sagt, was Leben ist. Auch wenn viele es nicht hören wollen. Nimm du
ihn auf in dich, schließ dich ihm an! Trau dich, mit ihm zu sein! Denn
alle, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, sagt
Johannes. Wer dem fleischgewordenen Wort traut, lebt wie neu geboren,
nicht aus dem Willen des Fleisches, sondern aus Gott. Wer es wagt, von
Gott getragen Fleisch zu sein, ein zerbrechlicher, ungesicherter
Mensch, der einzig davon lebt, dass er Vertrauen und Liebe empfängt und
Vertrauen und Liebe schenkt, – wer das wagt, hat begonnen, Gottes Kind
zu sein. Der lebt in Gottes Nähe, hat teil an Gottes Frieden. Der ist
wie Gott geworden. Aber jetzt nicht mehr gegen Gott, sondern so, wie
Menschen wirklich wie Gott zu sein vermögen. Das ist unsere Berufung,
Ihre und meine. Weihnachten ist – alles Gemütvolle an ihm in Ehren! –
ein großes, ein einziges Wahrheitsfest. Und was Besseres könnte uns
passieren, als an Tagen wie diesen, da unsere Seele sich auftut wie
selten sonst, gesagt zu bekommen, wer wir in Wahrheit sind!