Kritischer Spiegel

Maiandacht: Lk 1, 46.47

I
Ein alter Scheich hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Spiegel gesehen. Daher wusste er nicht, wie er aussah. Eines Tages kam ein Fremder von weit her und brachte ihm einen Spiegel mit. Der Scheich blickte hinein – und ließ den Spiegel vor Schreck fallen, so dass er in Scherben ging. Der Scheich hatte sein eigenes Gesicht gesehen. Ich bin krank, sagte er zu seinem Diener, legt mir Heilkräuter auf Brust und Stirn. Ich will mich drei Tage ins Zelt legen, damit ich wieder gesund werde. Als er so da lag, nahm er immer wieder eine Spiegelscherbe in die Hand und fing an, in sich hineinzuschauen. Und je länger er sich ansah, desto mehr wunderte er sich. Manchmal meinte er, sich vor Allah in den Sand werfen zu müssen als Dank für all das Schöne, das er schaute. Manchmal wurde er jedoch sehr traurig, denn er entdeckte viel Hässliches, das er vorher noch nie gesehen hatte. Nach den drei Tagen befahl er seinen Dienern: Holt mir den Fremden! Ich will ihn bitten, dass er mir einen neuen Spiegel bringt. Den will ich in meinem Zelt aufhängen, auf dass ich mich immer darin sehen kann.

II
Erst wer sich selber anschaut, kann um seine Größe wissen – und auch um sein Elend. Erst wer sich vor sich selber kommt, kann begreifen, wer er ist und was er sein kann. Solcher Einkehr in das eigene Wesen bedarf nicht nur der Einzelne. Auch jede Gemeinschaft von Menschen, also auch die Kirche braucht sie. Immer neu muss sie sich fragen, wie sie ist, um zu erfahren, was sie sein solle. Den Spiegel für diesen Blick auf sich selber trägt die Kirche seit der Stunde ihres Anfangs bei sich – in der Gestalt Marias, der Mutter Jesu. Genau das haben die Kirchenväter gemeint, wenn sie Maria Typos, Urbild der Kirche nannten. In besonderer Weise ereignet sich solches Selbsterkennen der Kirche dort, wo das Evangelium uns die Gestalt Marias durch deren eigenen Worte vor Augen bringt. Am dichtesten geschieht das im Lied des Magnificat.

III
Bei der Ankündigung der Geburt Jesu hatte der Engel Maria als Zeichen für die Wahrheit seiner Worte gesagt: Siehe, Elisabeth, deine Verwandte hat noch in ihrem Alter einen Sohn empfangen. Maria eilt zu Elisabeth. Sie findet das verheißene Zeichen – und da bricht es aus ihr heraus: Meine Seele preiset die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter. Das ist ein persönliches Dankgebet. Aber was für ein Dankgebet! Nicht irgendetwas ist der Grund des Jubels, sondern Gott selber. Maria preist ihn als Retter und Heiland. Denn sie, die gläubige Jüdin weiß sehr genau, was die Worte des Engels und jetzt dieses Zeichen bedeuten: dass Gott endlich anfängt die Dinge wieder ins Lot zu rücken. Alles wird er heilen, was verwundet und verzerrt ist. Er sendet seinen Messias, der Gottes Recht wieder aufrichten und den Himmel mit der Erde wieder versöhnen wird. Sie, die wohl zu den Armen gehörte und auch die Geisteshaltung der Armenfrömmigkeit teilte, sie war überzeugt, dass sie alles Recht und alles Heil allein von Gott erwarten konnte. Wie sehr hatte sie sich danach gesehnt. Und jetzt beginnt das wirklich zu werden durch sie – meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter.

Es geht ihr dabei mit keinem Wort um sie selber. Deshalb sagt sie nicht „Ich preise den Herrn“, sondern viel verhaltener „Meine Seele preist…“ Sie ist außer sich vor Freude, hingerissen in die Atmosphäre des Jubels. Es, nein – alles in ihr jubelt über Gott, diesen Gott, der sich den Menschen so sehr zu Herzen nimmt, gerade die, die unten stehen, und dann gerade den unwahrscheinlichsten aller Wege zu ihrer Rettung wählt. Unbeschreibliche Freude – das ist das Erste, was Maria über die Lippen kommt, wenn sie „Gott“ denkt. Diese Freude ist nicht Marias Tat; diese Freude überkommt sie. Solcher Jubel bricht hervor, wo Gott selber die Welt berührt. In ihm leuchtet der Widerschein des An-wesens Gottes. Luther hat deshalb von Marias Freude zu Recht gesagt, sie sei mehr ein fröhliches Erleiden…, das sich mit Worten nicht lehren, sondern nur durch eigene Erfahrung kennenlernen lässt. Und Luther fügt hinzu: Zu dieser Erfahrung kommt niemand, der nicht Gott von ganzem Herzen vertraut. Vom ernsthaften Glauben – und von ihm allein – also lebt jene Erfahrung, die den Jubel Marias auslöst. Ihre Freude ist so unendlich groß, weil auch ihr Glaube keine Grenzen kennt – ihr Glaube an den Neuanfang, den Gott in ihr setzt und mit ihr wagt.

Die Freude Marias im Magnificat ist so die Außenseite ihres gottinnersten Glaubens. Ihr Glaube ist die Innenseite ihres Jubels. Beide – Glaube und Freude – verhaften sich in der lebendigen Erfahrung von Gottes Wirken in ihr und an ihr. Glaube, Erfahrung Gottes und Freude bestimmen so die Gestalt Marias, wie das Magnificat sie uns vor Augen stellt. Auf diese Gestalt der Maria des Magnificat nun blickt die Kirche, wenn sie sich fragt, wer sie selber denn sei. Nicht zufällig ragt unter allen Liedern der Bibel das Magnificat als das heraus, das die Kirche mehr als alle anderen als Ausdruck ihrer Grundverfassung, als ihren Bauplan anerkennt. Deshalb erklingt es seit mehr als 1500 Jahren als Höhepunkt der täglichen Vesper. Unablässig soll sich so vertiefen, womit die Gemeinschaft der Kirche steht und fällt.

Wenn wir so in den Spiegel des Magnificat schauen, wird es uns wohl ähnlich gehen wie dem alten Scheich. Wir werden staunen über das, wozu wir nach Gottes Absicht als Kirche bestimmt sind. Aber wir werden auch erschrecken müssen wie der Scheich – erschrecken und traurig sein über das viele Hässliche, das dieser Spiegel an uns – der Kirche – entlarvt. Was uns zu allererst treffen muss, sind natürlich die entsetzlichen Dinge wie der Missbauch von Kindern durch kirchliche Amtsträger oder das verbiesterte Ignorieren brennender Fragen, wie es denn weiter geht mit den Gemeinden angesichts des Priestermangels und so fort. Was uns aber auch treffen muss, sind die scharfen, bitteren Züge, die das geistliche Gesicht der Kirche entstellen. Allen voran tut das die Furche der Freudlosigkeit. Oft genug stoßen wir auf sie:

Wenn wir Gott mit frostigen Gebeten begegnen; wenn wir uns halbherzig nur mühen um seine Wahrheit; wenn wir Eucharistie zu feiern meinen und ein paar Riten abspulen; wenn wieder einmal Recht vor Gnade ergeht, Buchstabe vor Geist, damit ja alles seine Ordnung hat und kontrollierbar bleibt – überall da verrät sich das große Fehl der Freude, das die Kirche so unglaubwürdig macht.

Hier, im Angesicht der Freudlosigkeit vielen kirchlichen Tuns verliert die Gestalt Marias vollends alles Weiche und auch Weichliche, das wir ihr bisweilen anhaften. Sie tritt uns gegenüber als kritisches, ja schmerzliches Menetekel, das die heimlich praktizierte Gottlosigkeit auch der Kirche bis in seine Wurzeln hinein entlarvt. Wo immer in der Kirche Freude und Jubel verschwinden und nur noch "Muss" und "Soll" und Recht und Pflicht den Ton angeben, da ist verlorengegangen, wovon allein das Wunder der Kirche zu leben vermag – und wovon allein das Wunder Maria gelebt hat –: das ernsthafte Ja des Glaubens, das noch rechnet mit Gott, dem unbegreiflichen und unwahrscheinlichen.

IV
Aus Glauben Gott erfahren und darüber jubeln – so geschieht Kirche. Die Gottesmutter selbst übrigens weist uns mit dem Magnificat den Weg, auf dem die Erfahrungen von Gottes Wirken in unser Leben einströmen. Was ist das für ein Weg? Nicht zufällig besteht fast das ganze Magnificat aus Versen, die dem Alten Testament entnommen sind. Im Grunde finden wir darin kein einziges persönliches Wort Marias, sondern lauter Rufe aus dem heiligen Buch ihres Glaubens. Maria hat die Ereignisse ihres eigenen Lebens zusammengelesen mit den unzähligen Geschichten ihres Lebens, mit den Gottesgeschichten verstrickt und so daraus eines gemacht. So sind ihre Geschichten selber zu Gottesgeschichten geworden. Das war der Anfang der Heilsgeschichte des Neuen Bundes. Im Magnificat hat Maria die Widerfahrnisse ihres Lebens als Erfahrung des Wirkens Gottes entdeckt und als heiliges Tun Gottes gedeutet.

Sie hat das nicht für sich allein getan, sondern für alle, die mit ihr und nach ihr Gott suchen. Das Magnificat wird so für uns zu einer Grundschule gläubiger Lebensdeutung. Wo aber dies geschieht, wird auch die Freude am Christsein nicht fehlen –. Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott meinen Retter. Freude an Gott, Freude am Christsein. Sie wäre unser überzeugendstes Zeichen für die, die Gott nicht mehr kennen.