Der Papst der Zukunft

Vor dem Konklave 2013

I
Wenn in einigen Jahrzehnten die Historiker einmal die Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts schreiben, werden sie es wahrscheinlich das Jahrhundert der Kirche nennen. „Die Kirche erwacht in den Seelen", fasste Romano Guardini die Stimmung unter den Katholiken in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zusammen. Das II. Vatikanische Konzil nannte man schon bei seinem Abschluss 1965 ein Konzil der Kirche über die Kirche. Zu keinem Thema haben die Theologen in der Folgezeit mehr und differenzierter gearbeitet als zum Thema „Kirche". Und jetzt – schon seit ein paar Jahren – ist wiederum viel von der Kirche die Rede, diesmal freilich ganz anders als die beiden anderen Male. Um es nur mit ein paar Blitzlichtern anzudeuten: Das Ringen um die Frage, wie viel Moderne die katholische Kirche verträgt – und ob überhaupt. Der offenkundige Neokonservatismus bei jüngeren Bischöfen und jungen Priestern – sofern es Letztere noch gibt. Der Streit um das Memorandum von 2011. Der Missbrauchsskandal – und jüngst das Scheitern seiner wissenschaftlichen Aufarbeitung. Der beschämende Umgang mit einer offenkundig vergewaltigten Frau in Kölner Krankenhäusern. Und zuletzt am 11. Februar der bis dato unvorstellbare Donnerschlag: Papst Benedikt XVI. erklärt seinen Rücktritt zum 28. Februar.
II
Was kommt jetzt? Bald, vielleicht schon übernächste Woche, wird der Nachfolger gewählt werden. Auf ihn warten Herkulesaufgaben. Um diese zunächst sehr grobmaschig zu benennen, stütze ich mich auf zwei Zitate: Das eine ist der Spitzensatz des Dialog-Papiers aus dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken von Dr. Claudia Lücking-Michel (Vizepräsidentin des ZdKs). Er lautete: „Die Kirche in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt ist ungleichzeitig mit dem Selbstbewusstsein heutiger Menschen." Das zweite Zitat stammt aus dem letzten Interview des verstorbenen Kardinals Carlo Maria Martini vom August 2012: „Die Kirche“ – sagte er mit moribunder Stimme – „ist zweihundert Jahre zu spät dran.“ Beides trifft den Punkt.
III
Zum Selbstbewusstsein der Menschen von heute gehört untrennbar der Dialog: Sie erheben Anspruch, in den Belangen, die sie berühren, auch selbst gehört, gefragt, hinsichtlich ihrer Erfahrung ernst genommen zu werden. Im Menschlichen und in den Dingen des Glaubens auch. Jede Frau, jeder Mann ist jemand als Mensch und als Christ. Ist von vornherein wer, kraft eigenen Rechts und nicht erst dadurch und in dem Maß es ihnen von Instanzen und Autoritäten zugestanden wird. Natürlich braucht jedes Sozialgebilde Strukturen, darunter einige, die auch autoritative Funktionen ausüben. Und nochmals in besonderer Weise gilt dies gewiss von der Kirche, weil sie sich, wofür sie steht, ja nicht selbst verdankt, sondern als Anvertrautes zu treuen Händen empfangen hat. Im Zueinander von Amt und Gläubigen spiegelt sich tatsächlich nichts anderes als die buchstäbliche Zuvor-Kommenheit von Gottes Wort der Gnade. Wir müssen uns das Wort, das erlöst, nicht selber sagen. Gott sei Dank. Wir dürfen es uns sagen lassen.

Aber alles hängt daran, wie die Amtsträger diese Zuvor-Kommenheit vergegenwärtigen. Denn bei Strafe der Selbstwiderlegung wird Zuvor-Kommenheit nur dann zuvorkommend sein, wenn sie sich die Mühe macht, ihre Adressaten statt anzuherrschen einzuladen, statt abzukanzeln anzusporen, statt mundtot zu machen für mündig zu halten und also auch damit zu rechnen, dass die Adressaten auch aus sich etwas zur Wahrheit beizutragen haben. So stellte sich die als vermisst beklagte Gleichzeitigkeit zwischen Kirche und Menschen von heute ein. Nur wirklicher Dialog kann für sie aufkommen.

Wenn wache Christen diesen Dialog in der Kirche endlich vehement einfordern, geschieht das keineswegs aus kosmetischen Gründen, weil sich solcher Stil halt besser macht oder ins Heute zu passen scheint. Verpflichtet sind die Glieder der Kirche auf den dialogischen Umgang miteinander vielmehr aus einem eminent theologischen Grund: Das Wort Gottes – von oben – ist seinem Wesen nach auf die Antwort der Hörer des Wortes angelegt. Erst zusammen mit dieser kommt seine Wahrheit ganz zur Sprache. Anders könnte sich ja auch niemals Gottes Wort in dem so vielschichtigen und vielfältig gebrochenen Menschenwörtern der Bibel etwa verlautbaren. Jede Hörerin, jeder Hörer des Wortes hat etwas zu sagen über Gott und den Glauben und die Welt, wie der Glaube sie sieht – mitsamt der Kirche darin. Das Vaticanum II hat eben dies dadurch zum Ausdruck gebracht, dass es davon sprach, jeder Christ habe – noch diesseits jeder amtlichen Beauftragung – bereits kraft seiner oder ihrer Taufe Anteil am prophetischen Amt Christi, also an demjenigen Amt, welches Wahrheit verbürgt. So steht das im Dekret über die Kirche „Lumen Gentium" Nr. 12.
IV
Wenn solche Grundkompetenz im Glauben jeder Christin, jedem Christen aus Prinzip eignet, kann es in der Kirche ebenso prinzipiell keinen anderen als einen dialogischen Stil der Wahrheitsfindung geben – und am wenigsten dort, wo über praktische Konsequenzen und Konkretionen der Wahrheit zu befinden ist.
Wer an diese christliche Kompetenz aller Getauften erinnert, muss sich aus bestimmten Ecken vorhalten lassen, er huldige damit nur dem modischen Zeitgeist. Die Geschichte belehrt eines Besseren, denn sie kennt herausragende Zeugen für diese Kompetenz aus der Taufe. Zu ihnen gehört auch der Hl. Papst Leo der Große, ein Petrusnachfolger, der alles andere als verdächtig ist, was das Amt in der Kirche betrifft. Ist er in Person doch so etwas wie ein Meilenstein bei der Durchsetzung des Primats für den Bischof von Rom. Aber Leo war als Theologe groß und der Wahrheit streng genug verpflichtet, um in einer Predigt sagen zu können:
„So sehr ist keiner durch das heilige Amt vom andern getrennt, dass sein bescheidener Teil keinen Zusammenhang mit dem Haupt mehr hätte. In der Einheit des Glaubens und der Taufe besitzen wir eine ungeteilte Gemeinschaft und eine gemeinsame Würde.
Alle, die in Christus wiedergeboren sind, macht das Zeichen des Kreuzes zu Königen und weiht die Salbung des Heiligen Geistes zu Priestern."
Darin gründet die Pflicht aller in der Kirche zum Dialog. Im Maß diese Pflicht Erfüllung im innerkirchlichen Dialog findet, wird man es der Kirche dann auch abnehmen, wenn sie behauptet, den Dialog mit dem Denken und Fragen außerhalb ihrer zu suchen. Die katholische Kirche als der älteste Global Player der Welt wäre der prädestinierte Werkraum für die Einübung einer solchen Kultur der Verständigung, an der nichts Geringeres als die Zukunft der einen Menschheit hängt.

V
Was heißt das aber nun konkret und mit Blick auf den künftigen Petrusnachfolger? Mir geht es jetzt nicht um einen vorgezogenen Nachruf oder so etwas. Ich wünsche Papst Benedikt von Herzen noch ein paar gute Jahre, die er seiner geliebten Theologie und dem Gebet widmen kann. Ich möchte nur ein paar Dinge aufrufen, die dringend anstehen und die zu realisieren Papst Benedikt nicht vergönnt war, obwohl er Manches davon erkennbar gewollt hat. Sie merken schon: Es geht jetzt keinesfalls um die klassischen Reizthemen Empfängnisverhütung, geschiedene Wiederverheiratete, Frauenordination und Zölibat, von denen der famose Erzbischof Gerhard-Ludwig Müller in seiner notorisch rüden Polemik behauptet, sie seien irrelevant und würden nur von theologischen Dünnbrettbohrern immer neu aufs Tapet gebracht – da täuscht sich Exzellenz gewaltig. Doch bevor man diese Dinge vernünftig in Angriff nehmen kann, stehen ein paar fundamentalere Dinge an:

Erstens: Endlich echte Kollegialität: Die Bischöfe der Welt sind nicht Stellvertreter des Papstes, sondern Nachfolger der ersten Nachfolger der Apostel mit unmittelbarer Verantwortung für ihre Ortskirche. Stattdessen hat sich der im 19. Jahrhundert erfundene römische Zentralismus nach dem II. Vatikanischen Konzil nochmals verstärkt – inklusive einer Konzentration auf die Figur des Papstes, die dieses Amt nur noch überfordern konnte.

Zweitens eng damit zusammenhängend: Endlich eine Kurienreform. Benedikt wollte eine solche wohl in Angriff nehmen, wurde aber von vatikanischen Kräften schlicht ausgebremst. Es ist ihm nicht gelungen, die Kungeltruppen und Seilschaften unter Kontrolle zu bringen, die seit Jahren um Macht, Einfluss und Geld ringen. Eine der schillerndsten Figuren war dabei der Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone. Ich konnte es nicht glauben, als ich kürzlich in einem Interview von Kardinal Meißner las, er habe schon vor Jahren dem Papst geraten, Bertone aus dem Amt zu werfen, weil sich bei diesem auf unselige Weise Unfähigkeit mit Machtbewusstsein paaren. Und Bertone war in der Tat zumindest mitverantwortlich für den Skandal um den Holocaust-Leugner Williamson, für die Verschleppung mancher Neuregelung bei der Missbrauchsbekämpfung, für die bis heute nicht beendeten Skandale um die Vatikan-Bank und dergleichen mehr. Benedikt hat Bertone nicht rausgeworfen, dafür ist er zu irenisch und konfliktscheu. Und Menschenkenntnis fehlte ihm schon als Theologie-Professor.

Drittens: Endlich auch innerkirchlich Subsidiarität und Transparenz. Subsidiarität meint, dass die höhere Instanz erst tätig wird, wenn die niedrigere damit nicht fertig werden kann. Warum, so frage ich etwa, muss das Nihil obstat bei Berufungen in theologischem Lehramt weltweit von römischen Instanzen erteilt werden? Können das die Bischöfe nicht? Übrigens hat Rom diese Verfahren erst in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts an sich gerissen. Und Transparenz täte so dringend not bei der Bestellung von Bischöfen. Das schlösse auch die Mitwirkung der Gläubigen ein, für die ein neuer Hirte berufen wird. Kraft solcher Transparenz gäbe es mit Sicherheit weniger Fehlberufungen als in den letzten Jahrzehnten.

Und viertens: Endlich Katholizität als Einheit in wirklicher Vielheit. Keine Frage: Das wird immer eine Gratwanderung bleiben. Aber es ist völlig sinnlos, den zahllosen Kulturen der Weltkirche ein Einheitskorsett überzustülpen, das ein paar römische Schreibtischarbeiter erfunden haben – etwa in der Frage der Liturgie und der Sprache der liturgischen Bücher. Wir haben doch schon differente Formen z.B. in den unierten Ostkirchen oder den uralten Kirchen des Vorderen Orient oder – um ein junges Beispiel zu bringen – im Fall der zur katholischen Kirche zurückgekehrten Anglikaner, die ihre liturgischen Formen behalten durften. Warum soll das nicht der Normalfall sein? Und könnte das nicht auch die Lebensform der Priester, also den Zölibat betreffen oder die Frage der Ordination von Frauen. Die uniforme Monontonie-Einheit, die ein paar Kurialen vorschwebt, ist ohnehin nur eine Fiktion. Verdeckt wird längst Vielheit gelebt. Warum mit ihr nicht sorgsam umgehen? Ich bin überzeugt: Gerade dadurch würde die Einheit gestärkt.

VI
Sie merken: Jetzt sind wir aus der Logik der anstehenden Grundaufgaben wie von selbst auf die Themen gekommen, von denen manche – wie erwähnt – behaupten, sie seien irrelevant. Um diese Grundaufgaben und dann die anderen Dinge in Angriff zu nehmen, braucht der Nachfolger von Papst Benedikt einen loyalen und kompetenten Mitarbeiterstab, der davon überzeugt ist, dass es ein geistlicher Auftrag ist, mit der modernen Welt in einen so produktiven wie konstruktiv kritischen Dialog zu treten. Hoffentlich sucht und findet er ein solches Team. Und vielleicht hat ihm Benedikt dafür ausgerechnet durch seinen mutigen Rücktritt einen Spalt die Tür geöffnet. Denn klar ist: Das Papstamt wird in Zukunft nie mehr sein, was es durch den machtbesessenen Bonifaz VIII. im 13. Jahrhundert wurde, um dann im 19. Jahrhundert durch Pius IX. auf unerträgliche Weise verabsolutiert zu werden. Das Petrusamt ist seit dem 28. Februar für immer entmystifiziert und desakralisiert. Gott sei Dank. So wird es frei für seine wahren Aufgaben.

Eine Sorge bleibt noch: Als Coelestin V. – quasi als einzig wirklicher Vorgänger Papst Benedikts – 1294 zurücktrat, wurde der vorhin erwähnte Bonifaz VIII.  sein  Nachfolger, derart von sich eingenommen, dass er am Aschermittwoch den Empfang des Aschekreuzes verweigerte, weil er das kraft seiner Erleuchtung und Machtfülle nicht nötig habe. Ein paar solche Typen gibt es auch derzeit im Kardinalskollegium. Gebe der Himmel, dass keiner von denen eine Mehrheit erringt. Das wäre der Weg der katholischen Kirche in den Status einer Sekte. Aber bis auf weiteres bin ich getrost. Den Heiligen Geist gibt’s ja auch noch.