Gott und der Tod
Karfreitag A14: Passionsgeschichte passim
Gedicht vom toten Gott
Es flackern die Lichter
schon auf in der Stadt,
die Sonne glüht rot.
Und da man dich, Christus,
gekreuzigt hat,
ist Gott nun tot.
Kyrie eleison.
Kommt, lasst uns die Finsternis
singend bestehn,
in der er hängt,
auf dass wir darinnen
die Sonne sehn,
die uns umfängt.
Kyrie eleison.
Wir preisen anbetend
dich, ewiges Licht,
für deine Nacht,
die göttliches Leben
dem Knechte verspricht,
der wartet und wacht.
Kyrie eleison.
In Ungnade gefallen
Nach dem letzten Konzil hat man unter anderem die Bücher für den Gottesdienst grundlegend erneuert. Damals entstand auch dieses Gebet. Ein Dichter unserer Zeit hat es niedergeschrieben. Hartnäckige Gerüchte sagten, es habe von Heinrich Böll gestammt. Es stand im Stundenbuch für das Abendgebet. Aber nicht lange. Wenige Jahre später, in der endgültigen Ausgabe des Breviers, war es kommentarlos verschwunden. Es hieß, gegen das Gebet hätte es so viele Proteste gegeben, dass die Verantwortlichen meinten, es wieder zurückziehen zu sollen.
Wenn das so war, dann kann man sich freilich unschwer ausrechnen, was den Protest aufgestachelt hat:
Und da man dich, Christus, gekreuzigt hat,
ist Gott nun tot.
Gott tot? Ist denn der Karfreitag nicht Durchgang zum Ostermorgen hinüber? Wo bleibt denn der Sieg, den wir bis heute nicht ungern in jenen Liedern mit den stürzenden Wachen besingen und mit dem Felsen, die so trefflich erkrachten? Es gab und gibt für Christen kein größeres Missverständnis als eben dies: dass das Kreuz und das Sterben Jesu nur eine Episode gewesen wäre, auf die sich der Nazaräer getrost hat einlassen können, weil er sich doch ohnehin gewiss war, in der Auferstehung über seine Widersacher zu triumphieren.
Jesu Ende ernst genommen
Nichts in der Welt aber gibt uns das Recht, wegzuhören, dass Jesus in schlimmster Qual starb; dass sich ihm alles, was er bisher mit seinem Gott erlebt und erfahren, was er von ihm gedacht und über ihn gesagt – dass sich ihm das alles bis in den letzten Abgrund verfinsterte. Wir müssen es uns klar machen, müssen es zu denken wagen: Am Karfreitag stand nicht ein guter Mensch gegen einen neidischen Klerus – nein. Am Karfreitag kam es vielmehr zum Kampf zwischen Gott und dem absoluten Gegenteil Gottes: dem Tod, der alles, was ist, zerstört und vernichtet. Und dieser Kampf wurde an Jesus ausgetragen, weil er ihn auf sich nahm. Warum?
Weil erst in dieser allerletzten Möglichkeit seines Lebens dieses sein Leben und die Botschaft, die es war, auf nicht mehr zu widerlegende Weise glaubhaft geworden sind. Der Mensch Jesus ist im Gang seines durchaus seltsamen Lebens immer tiefer in die glaubende Gewissheit hineingewachsen: Gott, der Gott unserer Väter, der Gott Israels, der in der Sternstunde seiner Geschichte mit diesem Volk die Zusage gab: Ich bin der Ich-bin-da für-euch, und immer und jedes Mal wieder – dieser Gott braucht mich, unverzichtbar. Durch mich will er dem Menschen etwas sagen, was noch niemand gehört hat, aber im Grunde alle schon immer hören wollten und wollen: dass jenes Ich-bin-da-für-euch Gottes unbedingt gilt und durch nichts widerrufen werden kann: durch Not nicht, durch Leid nicht, durch Schuld nicht, nicht einmal durch den Tod.
Je tiefer Jesus in diesen seinen Auftrag hineinwuchs, desto klarer trat ihm vor Augen: Diese Zusage Gottes will nicht nur ausgesprochen sein, wenn sie Glauben finden soll. Sondern dann muss sie gelebt, verkörpert werden im buchstäblichen Sinn. Und genau dieses Weltlich-Werden des innersten Geheimnisses, das hat Jesu Gegner so auf die Palme gebracht: das Leute-gesund-Machen am Sabbat, das Mit-den-Sündern-Essen, die Kritik an den Selbstzweck und Alibi gewordenen religiösen Bräuchen – das alles war ja nichts anderes als durch und durch weltlich, diesseitig gewordener Gott nach Jesus-Art.
Genau von diesem auf den Leib gerückten Gott wollten die Widersacher Jesu nun endgültig wissen, was es mit ihm auf sich hat, und sie waren sich ihrer Sache gänzlich sicher. Dieser Gott war ja greifbar für sie in Jesus, greifbar im buchstäblichen Sinn. In ihm setzte sich Gott ja, wenn es denn wirklich Gott war, – er setzte sich ihnen aus. In Jesus hatte seine Zusage des Ich-bin-da-für-euch, sein Innerstes, Fleisch und Blut und war verletzlich. Als es ihnen endlich zu viel war, legten sie darum Hand an Jesus.
Und was geschah? Nichts. Nichts. Verstehen Sie, was das bedeutet? Gott, sein nach außen gekehrtes Innerstes, was er durch und durch ist, wird getötet. Und es geschieht – nichts. Gott ist so Gott, dass er auch das noch aushält. Er hält das Umgebracht-Werden aus, er hält darum noch in seinem Tot-Sein seine Zusage aufrecht. Ich bin der Ich-bin-da-für-euch. Glaubt ihr es jetzt wenigstens? Dass ich es vermag und dass ich es tue?
Der Aushalte-Gott
Man kann das nur noch schwer denken, es geht ja auch um buchstäblich alles. Vielleicht ist es gut, wenn wir uns für einen Augenblick auf ein Gedankenexperiment einlassen: Was wäre gewesen, wenn am Karfreitag anderes geschehen wäre, als geschah – nämlich nichts? Angenommen, Gott hätte das nicht mehr aushalten wollen, auch noch getötet zu werden, von denen, die von ihm leben. Oder angenommen – ich sage es einmal einfach so – Gott hätte das nicht mehr aushalten können, weil im Allerletzten doch der Chaosrachen des Todes stärker gewesen wäre: Was wäre dann geworden? Dann wäre im Augenblick des Sterbens Jesu am Karfreitag die Welt zerborsten. Sie hätte ja ihren alles tragenden Grund verloren. Sie wäre einfach nicht mehr.
Eine der eigenartigsten Darstellungen der Passion, die ich kenne, bringt genau das ins Bild. In Florenz, im ehemaligen Kloster San Marco, hat einer der Ordensbrüder, Fra Angelico, etliche der Mönchszellen mit biblischen Szenen ausgemalt, darunter mehrfach auch den Beginn der Passion Jesu: Vor nachtschwarzem Hintergrund sieht man Jesus stehen, ruhig, ohne sichtliche Bewegung. Aber rings um ihn herum etwas Gespenstisches: Wie losgerissene menschliche Körperteile fliegt es auf ihn zu: Lippen, die auf Jesus spucken, eine Hand, die mit dem Schlagstock ausholt, ein Stiefel, der nach ihm tritt, ein Mund, der Hohn ausgießt über ihn. Da ist es: In Jesu Henkern fängt die Welt schon zu bersten an, das Menschliche ist schon verstümmelt. Aber Jesus steht. Und er bleibt und zieht die Vernichtungsmächte auf sich und verwindet sie in Gott hinein, in den Aushalte-Gott. Seht, das ist mein Knecht – seht den Menschen – seht das Lamm Gottes, das hinwegträgt, was wider Gott wütet.
Gottesbeweis
Vielleicht müssen wir in unserem Gedankenexperiment noch einen Schritt tun. Wenn die Welt nicht mehr sein könnte, wenn Gott nicht das Sterben ausgehalten hätte – dann gibt es ja so etwas wie einen Beweis dafür, dass er es ausgehalten hat. Dieser Beweis sind – wir. Wir mitsamt unserer Welt. Es könnte uns nicht geben, wenn der Tod dem Innersten Gottes etwas hätte anhaben können. Aber es gibt uns. Ob das nicht vieles ändern müsste an der Weise, wie wir von uns selber und voneinander, wie wir von Gott denken – und vor allem, wie wir vom Kreuz denken? Das Kreuz ist der Beweis der unbedingten Verlässlichkeit Gottes – und unser Dasein ist seine Besiegelung. Ob wir uns aber dann noch vor etwas oder vor jemandem fürchten müssen? Nicht einmal vor der Nacht, in die alle, die uns nahe sind und einmal wir selber weggehen werden.
Kommt, lasst uns die Finsternis
singend bestehn,
in der er hängt,
auf dass wir darinnen
die Sonne sehn,
die uns umfängt.
Kyrie eleison.