Karfreitags-Kunde

Karfreitag B: Joh Pass   

                         
I
Heute ist Karfreitag. Heute tun wir Christinnen und Christen etwas ganz Eigenartiges: Wir feiern ein Sterben. Einen Tod. Wir feiern, dass da einer sein Leben verlor, durch Gewalt anderer, bloß weil er ihnen widersprach, wenn es darum ging, wer Gott ist und was das für den Menschen bedeutet. Und mehr noch: Den, der da starb, bekennen die Glaubenden als Gottes Sohn, als den, der so untrennbar zu Gott gehört, dass Gott ohne ihn gar nicht er selbst wäre. Aber geht das denn, dass da gleichsam etwas von Gott, nein: dass Gott selber stirbt?
II
Schon in der Zeit der Spätantike, als das Christentum in den Raum der kulturellen Öffentlichkeit trat, war eben dies der eigentliche Skandal dieser neuen Religion. Große philosophische Denker wie die Neuplatoniker Kelsos und Porphyrios oder der Kaiser Julian Apostata wandten sich angewidert ab von einem Gott, der am Galgen stirbt. Geschmacklos einfach! Proletenreligion. Den Tod und das Göttliche auch nur von Ferne in Verbindung zu bringen – das konnte ihnen nur Indiz größter Torheit sein.
III
Diese spätantiken Stimmen blieben nicht die einzigen ihrer Art. In ihrer Tradition steht auf ganze eigene Art auch der deutsche Dichterfürst par excellence – Goethe. Bei ihm, der dem Christentum höchst ambivalent gegenüber stand, war daraus im Horizont seiner naturmystisch-pantheistischen Frömmigkeit ein Fundamentalprotest gegen den Tod überhaupt geworden. 1826 sah er in Weimar ein Bild des jungen Malers Carl Friedrich Lessing, eines Großneffen des hochverehrten Dichterfürsten Gotthold Ephraim Lessing. Es zeigte eine Winterszene – einen verfallenen Klosterhof, darin eine schneebeladene zerrupfte Tanne und einen zugefrorenen Brunnen und dahinter Mönche, die einen verstorbenen Mitbruder zu Grabe trugen. Der Anblick des Bildes führte bei Goethe zu einem Wutausbruch:
Das sind ja lauter Negationen des Lebens und der freundlichen Gewohnheit des Daseins, rief er empört. Zuerst also die erstorbene Natur, Winterlandschaft; den Winter statuiere (d.h. akzeptiere) ich nicht; dann Mönche, Flüchtlinge aus dem Leben, lebendig Begrabene; Mönche statuiere ich nicht; dann ein Kloster, zwar ein verfallenes, allein Klöster statuiere ich nicht; und nun zuletzt, nun vollends noch ein Toter, eine Leiche; den Tod aber statuiere ich nicht.
Den Tod statuiert er nicht! Was Wunder, dass er später auch am Begräbnis seines Kollegen und engen Freundes Schiller nicht teilnahm und – Gipfel von allen: dass er zuhause im Bett unpässlich liegen blieb, als man seine eigene Frau an seinem Haus vorbei zu Grabe trug. Welche Angst, welches Entsetzen vor dem Tod muss doch in dieser ansonst so weiten und großen Dichterseele gehaust haben!
IV
Und wir heute? Wir schauen ausgerechnet auf das Bild eines zu Tode Geschundenen und feiern seine Sterbestunde! Dieser Mensch hätte sein eigenes Leben retten können. Aber er verzichtet darauf. Keiner stirbt gern, schon gar nicht, wenn er das Durchkommen zum Greifen nahe hat. Und doch gab dieser Mensch sich selber daran. Wie kommt ein Mensch dazu, so zu handeln? Eines gehört mit Sicherheit dazu: Wer sein Leben für etwas oder jemand einsetzt, ja herzugeben sich entschließt, ist überzeugt, dass zum wirklichen Leben etwas gehört, was mehr bedeutet als da zu sein in der Welt und mitzumachen.
Dieses Darüber hinaus über den eigenen Vorteil und über das Überleben hat schon immer viele Namen und Gestalten gehabt: Menschen sind gestorben für Ideen und Überzeugungen, für die Wahrheit, aus Liebe oder Mitgefühl. Aber sie konnten das nur, weil sie überzeugt waren oder zumindest spürten, dass das, wofür sie ihr Leben drangaben, über ihr eigenes Ende hinaus in Geltung bleibt und nicht zerstört werden kann.
Christen und Christinnen sind überzeugt, dass dieses rätselhafte Darüber hinaus durch das Sterben Jesu in seiner eigentlichen und ganzen Wirklichkeit offenkundig geworden ist. Jesus hat sein Leben einem einzigen Anliegen verschrieben: Menschen nahe zu bringen, dass ihr Leben durch und durch von Gott kommt und an Gott hängt – und dass dieser Gott niemand ist, den man fürchten muss, sondern dem man unbedingt trauen darf. Wenn das wahr ist, hat es für alles Menschliche Folgen, die bis an die Wurzeln reichen: Wenn Gott das Leben trägt – und Gott allein –, gibt es keinerlei andere Trägerschaften, nicht die Natur und nicht die Geschichte, nicht Staat und nicht Gesellschaft, nicht Menschen und Autoritäten und nicht einmal Religion und Kirche. Wenn sich eine dieser Instanzen diese Rolle anmaßt, verfällt sie der Kritik. Genau das hat Jesus getan: Er hat den Menschen radikal freigesprochen, freigesprochen von allen Dienstbarkeiten, allem Unterworfensein, allen Opfern, mit denen er sich von anderen das Recht da zu sein, erkaufen muss oder auch nur meint, erkaufen zu müssen. Der Mensch ist frei und muss sich vor nichts und niemand in der Welt fürchten. Weil Gott für ihn ist.
Durch diese Botschaft von Gott ist Jesus in Konflikt geraten mit denen, die das anders sahen und vor allem anders wollten, weil sie daraus ihre Vorteile zogen. Darum wurde beschlossen, den Prediger dieser aufständischen Freiheit zu beseitigen. Je länger, je mehr hat Jesus selbst das kommen sehen. Trotzdem hat er sein Gotteszeugnis nicht zurückgenommen und ist er vor den Folgen dieses Zeugnisses nicht geflohen. Er blieb sich treu, weil er Gott treu sein wollte, denn er war gewiss: Weil Gott so ist, wie ich ihn verkünde, wird er mir treu bleiben auch und gerade dann, wenn mir das Letzte abverlangt wird für mein Zeugnis von ihm. Ich habe ihn "Abba" genannt, lieber Vater, der da ist für uns auf Du und Du, und so da ist, wie nur ein Gott da sein kann: unbedingt. Darum bleibt er der Daseiende auch dort, wo ich für mich nichts mehr bin. Nicht nur nichts und niemand in der Welt muss mich in den Abgrund der Angst stürzen, sondern auch das nicht, was mir an der äußersten Grenze als Letztes widerfährt: das Sterben. Weil es mehr gibt als Leben und Sterben: Gott, der da ist für mich und da bleibt im Leben und Sterben sogar. Dafür verbürgt sich Jesus, indem er alles gibt, was er hat, sich selbst, und darum frei das Kreuz annimmt.
V
So macht sein Sterben das rätselhafte Darüberhinaus über das irdische Leben, das so vielgestaltig begegnen kann, als das offenbar, was es in Wahrheit ist. Alle, die ihr Leben drangeben für jemand oder etwas, tun es um eines ihr eigenes Ende überdauernden Willen. Alle Enden wirklich überdauern aber vermag eines allein, weil, wenn es etwas Unbedingtes gibt, es nur ein Unbedingtes geben kann: Gläubige Menschen nennen es "Gott". Er selbst – und er allein – ist darum jenes Darüberhinaus, das mitten im gelebten Leben da ist und begegnet und das einem Menschen den Mut geben kann, sein irdisches Dasein in die Bresche zu werfen dafür, dass andere gerettet werden und gerade dadurch ihrerseits etwas erahnen von dem, was den, der sie gerettet hat, getragen hat.
Das verrät das Kreuz Jesu vom Menschen: In allem, was eine oder einer tut und lebt, ist jener tragende Grund, der unbedingte, der Gott heißt, immer schon zugegen. Sichtbar wird das immer dort, wo ein Mensch an seine Grenze rührt und sie annimmt. Mehr noch dort, wo er im Vertrauen auf den ihn tragenden Grund zu diesem Ende ja sagt. Auf einmalige Weise dann, wenn dieses Ja um dieses Grundes willen selbst, der Gott heißt, gesprochen wird, wie Jesus das am Karfreitag getan hat.
VI
Das Einmalige von Jesu freier Annahme des Todes rührt daher, dass in seinem Ja zum Ende so etwas wie eine wunderbare Umkehrung begann: Indem er für Gott starb, wurde er am Kreuz selbst zu einem menschlichen Bild, einem Gleichnis des Gottes, für den er einstand. Jesus gab alles, was er war, für Gott. So bezeugte er mit Leib und Leben, wie der Gott ist, auf den er baut: Einen, der alles gibt, sich selbst, damit wir sind. Wo und wann immer auf der Welt ein Mensch seither sein Leben um dessentwillen einsetzt, was größer ist als er selbst, spiegelt er auf menschliche Weise etwas von dem Gott, der alles von sich einsetzt um dessentwillen, was kleiner ist als er selbst. Der oder die Betroffene müssen das nicht einmal wissen – und leben doch eine Wahrheit, die größer ist als sie selbst. Daher kommt das Fesselnde, die Würde, die all diese Menschen ausstrahlen: eine Anne Frank etwa, ein Dietrich Bonhoeffer, ein Alfred Delp. Selbst die Seele des großen Goethe war zu klein für diese Revolution der Denkungsart. Und die spätantiken Geistesgrößen ziehen ihretwegen die junge Christengemeinde des Atheismus, der Gottlosigkeit gemessen am Maßstab dessen, was man seit jeher meinte, dass ein Gott zu sein habe.
Genau diese grundstürzende Wahrheit über uns und über Gott ist es, was am Karfreitag zugänglich wurde. Daher kommt, dass wir Christinnen und Christen nicht nur den Ostermorgen, sondern auch Jesu Sterben feiern müssen, denn wir ahnen: Karfreitag und Ostern sind eins.