Zwischen Kairos und Parusie

1. Adv C: LK 21, 25-28. 34-36 + 1 Thess 3,12-4,2

I
Mit dem heutigen Sonntag beginnt der Advent. Er macht den Anfang im Kreis des Kirchenjahres, mit dem wir die Geheimnisse des Glaubens feiern. Trotz der unguten Entleerung so vieler Zeichen und Bräuche des Glaubens und trotz der Hektik, die sich nicht wenige immer noch machen in den Wochen vor Weihnachten, – trotzdem haben diese adventlichen Tage etwas Besonderes an sich: das warme Licht der Kerzen in der Dunkelheit, grüne Zweige, ein leises Lied – das macht nachdenklicher als sonst; und wenn einer nicht ganz abgestumpft ist, rührt es ihn in der Seele an.

II
Seltsamerweise steht am Beginn des Advents in der Liturgie ein Evangelium, das gar nicht zu dem Gefühl zu passen scheint, das wir mit diesen Tagen verbinden. Aber das ist nur scheinbar so: in Wirklichkeit redet uns das Evangelium am ersten Tag des Kirchenjahres – gleichsam wie die Ouvertüre am Beginn eines musikalischen Werkes – davon, was sich wie der rote Faden durch das ganze Kirchenjahr zieht: vom Grund unseres Glaubens und von der Kraft, die in ihm wirkt.

III
Da spricht Jesus von Zeichen am Himmel, vom Tosen des Meeres, davon, dass die kosmischen Kräfte erschüttert und die Menschen vor Angst vergehen werden. Wie immer in der Bibel steht dabei das, was als äußeres, sichtbares Geschehen erzählt wird, als Sinnbild für die inneren Dinge, von denen die Rede ist. Und das ist hier in diesem Evangelium – so steht es da – die Angst. Sie alle wissen, wie das ist, wenn man Angst vor etwas hat, Angst um jemand, auch um sich selbst vielleicht: da fällt einem die Decke auf den Kopf; der Himmel mit den Sternen, das ganze Gewölbe unserer Ideale und Orientierung bricht ein: der Boden unter den Füßen scheint nicht mehr verlässlich zu tragen, wir fühlen, dass wir buchstäblich untergehen in der Angst wie in einem uferlosen, tosenden Meer, dem nichts Einhalt gebieten kann. Wenn wir Schuld auf uns geladen, wenn wir schwere Fehler begangen, einen lieben Menschen verloren oder schlimm versagt haben, da wird uns so, als ob wir vergehen müssten. Nicht nur einmal im Leben stürzt dem Menschen die Welt ein, manchmal so oft, dass er gar nicht mehr leben kann.

Aber ganz eigenartig verbindet unser Evangelium die Erschütterung durch die Angst mit einem Versprechen: Wenn all das beginnt, dann richtet euch auf, denn eure Erlösung ist nahe! Dann werdet ihr den Menschensohn mit Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke kommen sehen. Mit diesem alttestamentlichen Sinnbild vom gottgeschickten Retter aus aller Not meint das Evangelium: Wenn dir, Mensch, alles aus der Hand gleitet, wenn du nichts mehr hast, um dich selbst zu sichern und dir etwas vorzumachen; wenn du dich nicht betäubst – durch Rausch und Trunkenheit –, und auch nicht mit der Geschäftigkeit des Alltags die Angst überspielst, sondern sie dir eingestehst, dann kommst du vor deine eigene Wahrheit, eine Wahrheit, die dich frei macht.

IV
Diese urchristliche Erfahrung hat übrigens im 20. Jahrhundert eine ganz eigenwillige, faszinierende Wirkungsgeschichte entfaltet, denn sie wurde für einen der größten wie auch umstrittensten Denker der Zeit zu einem der Dreh- und Angelpunkte seiner Beschreibung von Welt und Leben: Martin Heidegger. Heidegger hat nämlich 1920/21 als junger Privatdozent in Freiburg Vorlesungen über den Ersten Thessalonicherbrief und über ein Buch der „Confessiones“ des Augustinus gehalten. Das hatte gar nichts damit zu tun, dass da ein Philosoph herumzutheologisieren versuchte. Heidegger hatte zwar nach dem Abitur zunächst ein Theologiestudium begonnen, dieses aber nach vier Semestern abgebrochen, weil er immer mehr zu der Überzeugung gelangte, dass die katholische Theologie seiner Zeit mit ihrem neuscholastischen Begriffsapparat das nicht zu erfassen vermochte, was in den Worten des Neuen Testaments als urchristliche Lebenserfahrung festgehalten ist: dass nämlich das faktische Leben, das Leben so wie es wirklich und eigentlich ist, nicht im Horizont der platonischen Philosophie, sondern der urchristlichen Erfahrung entdeckt worden sei: die Einmaligkeit seiner Situation, in die es durch das Kommen Christi gestellt ist, der Kairos, und andererseits sein Gefährdetsein, sein Ausgerichtetsein auf die Zukunft, nämlich das Wiederkommen Christi, die Parusie.
Der 1. Thessalonicherbrief, aus dem die zweite Lesung vorhin stammte, ist übrigens die älteste erhaltene Schrift des Urchristentums, das älteste Stück des Neuen Testaments, so dass dort unmittelbarer als in den anderen Schriften der Originalton dieses ursprünglichen Glaubensbewusstseins laut wird – man merkt das übrigens auch an der Fremdheit, die für Leserinnen und Leser von heute nicht wenige Passagen dieses Paulusbriefs durchzieht, so etwa, wenn an einer Stelle von der Posaune Gottes die Rede ist, die die Toten weckt und mit ihnen die Lebenden auf den Wolken in die Luft entrückt oder Ähnliches. Aber weil die Theologie mit erborgten Mitteln, mit platonischen und aristotelischen Kategorien an die ihr aufgegebene Sache herangeht, verfehlt sie das, was sie eigentlich weitersagen sollte. Und darum muss sich nach Heideggers Überzeugung die Philosophie an die Aufgabe machen, jene ursprüngliche Wahrheit über den Menschen und das Leben authentisch zu Gehör zu bringen. Gerade in dieser frühen Auseinandersetzung mit der urchristlichen Lebenserfahrung hat Heidegger auch die Bahnen ausgelotet, auf denen später die Grundgedanken seines großen Werkes „Sein und Zeit“ zur Entfaltung kommen sollten. Und einer der Leitgedanken dort lautet, des Menschen Leben sei im tiefsten ein „Sein zum Tode“.

V
Damit hatte sich der Philosoph freilich unbeschadet des urchristlichen Motivs im Ansatz weit vom Christlichen entfernt. Denn die Glaubenden haben nie aufgehört, diese Botschaft vom Ausgespanntsein des Lebens nach vorne auch als Trost und Hoffnungswort zu verstehen. Wenn du anerkennst, ganz und gar ungesichert zu sein, dann wird dir wie von selbst aufgehen, was allein dir Halt gibt und Boden unter den Füßen: der Menschensohn. Das meint: Wo nichts mehr in meiner Macht steht, bleibt mir, Mensch zu sein, wie Gott es gedacht hat: also die Menschlichkeit.

Was Menschlichkeit ist, das wissen Christinnen und Christen von dem Menschen aus Fleisch und Blut, den das Evangelium, weil er so ist, wie er ist, den Menschensohn nennt: Jesus von Nazaret. Das Gottvertrauen und die Güte, die ihn beseelten, sie haben gemacht, dass seine Menschlichkeit Menschen durch und durch ging, manchmal so sehr, dass einer durch seine bloße Gegenwart gesund geworden ist, wenn er zuvor von der Angst zerrissen gar nicht mehr er selber hat sein können. Jesu Gottvertrauen und seine Güte, die haben Menschen ermutigt, neu anzufangen mit Gott und mit sich. Die haben ihnen die Kraft gegeben, die Not ihres Lebens menschlich zu bestehen – und manchmal auch sogar des Sterbens noch, dasjenige von lieben Menschen und das eigene einmal, ohne in der Angst unterzugehen. Gott zu trauen wie Jesus und ein wenig auch nur von der Güte zu leben, für die er steht, das macht stark gegen das Chaos, das die Angst anrichtet. Und das lässt einen am Ende auch vor dem bestehen, an dem wir alle gemessen werden von Gott: am Menschensohn, an dem also, der Mensch war, wie Gott will, dass Menschen sind.

VI
Glaube heißt: ich lasse den Menschensohn – das, wofür er steht – in mir mächtig werden. Wie das anfängt, das werden wir bald in allen Einzelheiten hören: in den Geschichten von der Geburt des Menschenkindes, in dem der Menschensohn einer von uns geworden ist, um uns auf Du und Du, menschlich nahezubringen, was es heißt, ein Mensch zu sein. Darum auch steht das Evangelium, das sein Kommen verheißt, am Beginn der Zeit, in der wir uns auf das Geheimnis der Menschwerdung, auf Weihnachten vorbereiten. Und das große Zeichen dieser Tage – der Adventskranz – macht vielfältig sichtbar, welche Hoffnung unser Glaube wagen darf: Da ist der Kranz, der nicht Anfang und Ende hat – so treu ist Gott, immer und ohne Ende. Der Kranz ist aus grünen Zweigen gewunden, Lebendiges mitten in der toten Winterzeit – auch da, wo alles aus scheint, gibt es einen neuen Aufbruch. Je länger wir auf den Menschensohn warten, desto mehr Kerzen entzünden wir – desto heller wird es in uns und um uns. Und die bunten Bänder am Kranz lassen uns ahnen, dass dem Christen trotz der Not, die sein Leben treffen mag, Freude kein Fremdwort wird. Darum auch beendet Paulus seinen ersten Brief an die Thessalonicher unter anderem mit den Worten:
… ermutigt die Ängstlichen,
nehmt euch der Schwachen an,
seid geduldig mit allen!
Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergilt,
sondern bemüht euch immer, einander und allen Gutes zu tun.
Freut euch zu jeder Zeit!
Betet ohne Unterlaß!
Dankt für alles, das will Gott von euch,
die ihr Christus Jesus gehört!
Löscht den Geist nicht aus!

Prüft alles, behaltet das Gute!

Das ist gleichsam ein biblischer Adventskalender – lauter kleine Fenster aus Worten in das Geheimnis geborgenen Lebens hinein. Wenn wir auch nur das eine oder andere daraus ein wenig in unseren gelebten Werktag zu übersetzen suchten, hätte wir mit diesem Advent einen neuen Anfang mit dem Glauben gemacht.