Der Gegenspieler
Hochfest Hl. Josef (Patrozinium): Mt 2,13-15. 19-23 [zugewählt]
I
Rabbi Schmelke pflegte von Zeit zu Zeit die Familien seines Dorfes zu besuchen. Eines Tages trat er in ein Haus und traf auf einen Vater, der gerade mit seinem kleinen Sohn spielte. Das Kind stand auf der vierten Stufe der Treppe, der Vater unten breitete die Arme aus, machte dem kleinen Buben Mut – und der sprang und ließ sich von seinem Vater fangen. Jauchzend lief das Kind wieder die Treppe hinauf, jetzt eine Stufe höher. Spring, rief der Vater, und das Kind flog in seine Arme. Wieder lief es hinauf, noch eine Stufe höher. Spring! – Und noch einmal hinauf, noch eine Stufe mehr, jetzt die oberste. Spring! – Das Kind sprang mit lachendem Mund. Der Vater unten trat zur Seite. – Das Kind schlug hart auf dem Boden auf, blutete und weinte herzzerreißend. – Vater, warum hast du mich nicht gefangen? Warum hast du das getan? – Weil ich dich liebe, mein Kind, antwortete der. Darum will ich dich tüchtig machen für das spätere Leben. Hundertmal magst du ihm trauen, doch eines Tages wird es dich trotzdem fallenlassen.
II
Zynisch möchte man wohl nennen, wer ein Kind aufs Leben vorbereitet, indem er es mit Gewalt misstrauisch zu machen sucht. Wenige empfindliche Naturen werden den Vater aus Rabbi Schmelkes Geschichte einen Realisten heißen. Denn gehört es nicht für viele von uns zum täglichen Lehrgeld, dass wir uns nur auf das verlassen können, was wir selber in der Hand haben? – Und dass jedes Mal Angst sich zu regen beginnt, wo immer Vertrauen nötig ist? Fast möchte man glauben, Herodes müsste auch so einen Vater wie den in der Geschichte gehabt haben, dass er panisch bis zum Amoklauf reagiert, als er vom neugeborenen Messias reden hört. Jedenfalls packte das zu seinem angstgeschürten Argwohn, der die Heilige Familie auf die Flucht nach Ägypten treibt, von der das heutige Evangelium erzählt – scheinbar eine kurze Episode, die von den Geschichten über die Geburt des Herrn hinüberleitet zu seinem späteren Leben, in Wirklichkeit aber eine weitere Weihnachtsgeschichte ganz eigener Botschaft, die uns die ganze Dramatik der Menschwerdung, der Jesu und unserer eigenen, offenbar macht.
III
Das Besondere dieser Fluchtgeschichte beginnt schon damit, dass in ihr erstmalig einer als Hauptfigur auftritt, der sonst in sämtlichen Weihnachtsevangelien nur ganz am Rande in Blick kommt: Josef, dessen Hochfest wir heute begehen, der Patron unserer Dominikanerkirche – Josef, der Mann Marias, wie Matthäus ihn nennt. Es ist schon eigenartig: Nahezu sämtliche künstlerischen Darstellungen der Weihnacht – egal ob ostkirchliche Ikonen oder abendländische Bilder so gut wie jeder Epoche – stellen uns den Josef, den Kopf der Familie, abseits von Maria und dem Kind in einer Haltung der Rat- und Fassungslosigkeit vor Augen, so als wollten sie sagen, dass der Kopf, der Verstand dieses göttliche Wunder einfach nicht begreifen kann. Und so ist es wohl auch.
Umso bedeutsamer aber, was uns im heutigen Evangelium über diesen nicht begreifen könnenden Josef gesagt wird: dass er, um das Kind zu retten, dreimal tätig wird auf Weisung eines Engels, der ihm im Traum erscheint. Er, der Kopf, der nicht verstehen kann, traut der Eingebung Gottes, der Stimme seines Gefühls in seiner Seele und bringt die ihm Anvertrauten in Sicherheit außerhalb des Machtbereichs des Königs Herodes. Damit sieht der Evangelist den Josef als den eigentlichen Gegenspieler des Herodes. Beide sind ja – auf gewiss sehr verschiedene, aber in einem letzten Punkt doch vergleichbare Weise – Häupter, Oberhäupter, solche, die das Sagen haben. Aber beide reagieren im Angesicht des Neugeborenen, des gottgeschenkten Lebens unvergleichlich verschieden. Beide begreifen nicht: Herodes wird darum misstrauisch und mordet; Josef hört die Engels-Stimme im Traum, er vertraut der Botschaft seiner Seele und schützt das Neugeborene, damit es überleben und groß werden kann.
Jeder Mensch, den irgendwann einmal die Botschaft der Heiligen Nacht ergriffen hat und der sich glaubend auf sie einlässt, gerät eines Tages unweigerlich vor diese Alternative: Josef oder Herodes. Denn wem die Weihnachtsbotschaft zu Herzen geht, der hat ja hören dürfen: Gott will unbedingt, dass ich bin; ich darf sein so, wie ich bin; ich muss mir mein Leben nicht verdienen. Ich bin frei und mir geschenkt; dass es mich gibt, das genügt, um gemocht zu sein. Und dadurch, dass Gott selbst in einem kleinen Kind zu uns kommt, das nichts hat und nichts leistet, hat er diese Wahrheit unhintergehbar und unüberbietbar beglaubigt. Jetzt aber: Wie stehe ich zu dieser Wahrheit? Macht mir dieses Geheimnis meines Daseins, dass ich gratis, unverdient leben darf, macht mir das am Ende Angst um mein Recht und meine Macht – wie dem Herodes, so dass ich das neu aufkeimende Leben in mir unterdrücken und auslöschen muss? Oder stelle ich mich statt dessen mitsamt der Kraft meines Verstandes – obwohl er nichts so recht begreift davon – hinter den gottgeschenkten Neuanfang in mir und behüte ihn damit er heranreifen kann – wie Josef?
IV
Wie ich dazu komme, die Erzählung von der Flucht der Heiligen Familie auf die Geschichte unseres eigenen Lebens zu übertragen, fragen Sie jetzt vielleicht. Sehr einfach: weil das Evangelium selber das tut. Nicht zufällig führt die Flucht ja nach Ägypten, und nicht zufällig befiehlt nach dem Tod des Herodes ein Engel dem Josef im Traum, mit dem Kind und seiner Mutter in das Land Israel zu ziehen. Sie ahnen es schon: Hinter diesen Worten leuchtet die Erinnerung an ein ganz anderes, an das wichtigste Ereignis des ganzen Alten Bundes schlechthin auf: Israels Auszug aus Ägypten ins gelobte Land. Der Exodus ist das Drama, wie Gott sein Volk in die Freiheit führt, heraus aus der Unterdrückung, heraus aus allem, was wahres Leben abwürgt und unmöglich macht, heraus aus dem Diktat von Macht, Herrschaft und Leistung, wie es der Pharao und seine dem Volk Israel aufgezwungenen Lebensumstände repräsentieren. Diesem Durchbruch folgte über die Jahrhunderte hin ein Auf und Ab von Hoffnung und Angst, das immer zu tun hatte mit einem Hin und Her des Volkes zwischen Vertrauen und Misstrauen gegen seinen rettenden Gott.
Mit der Geschichte von der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten und der folgenden Rückkehr, sagt uns das Evangelium, dass Jesus sozusagen persönlich das Geschick des erwählten Volkes auf sich nimmt, d.h. seine bewegte Freiheitsgeschichte, in der sich ja nur äußerlich verdichtet, was einem jeden Menschen auf seiner sehnsüchtigen Suche nach gelungenem, befreiten Leben widerfährt. Das nimmt Jesus auf sich – dazu ist er von Gott gesandt –, um die dem Abraham gegebene Verheißung der Heilung allen Lebens vom Misstrauen und der ihm entstammenden Unfreiheit endlich einzulösen und damit zu tun, was sein Name besagt: Jeshua – Gott rettet.
V
Die scheinbar so beiläufige Fluchtgeschichte deutet uns also an, was der Sinn all dessen ist, was im Evangelium nachfolgend von diesem Jesus noch alles erzählt wird – angefangen von der Taufe im Jordan bis hin zu Kreuz und Auferstehung. All das geschieht einzig und allein um unserer Befreiung willen, damit jeder als er selbst leben kann, so wie Gott ihn geschaffen hat. Dass dem Josef nach der Rückkehr aus Ägypten durch ein drittes Traumwort befohlen wird, nicht nach Judäa zu gehen, wo in Gestalt des Archelaos immer noch Herodianisches, also Todbringendes regiert, sondern nach Galiläa, das klingt wie eine allererste Vorahnung, dass die in Jesus geschehende Befreiungstat Gottes nicht geradlinig ans Ziel kommen, sondern sehr unerwartete, abseitige Wege gehen wird – der allererste Widerhall der Passion ist das schon. Aus der Osternacht wissen wir, dass Gottes Heilsplan mit uns dennoch sein Ziel erreichen wird. Die Geschichte von der Flucht aus Ägypten sagt uns, wie diese Absicht Gottes überhaupt anfangen kann, wirklich zu werden: einzig durch das, was Josef unbeirrbar aufgebracht hat, um das neugeborene Jesus-Kind zu retten: Vertrauen in Gott, das das eigene Leben von ihm geführt weiß.
VI
Nicht nur, weil es vom Motiv her auf der Hand liegt, begegnet diese Geschichte vom Lebenkönnen und Freisein im Lesejahr A auch in der Liturgie am Fest der Heiligen Familie. Schon lange weiß man aus der Seelenkunde, dass, ob ein Mensch vertrauen kann oder misstrauisch sich nur in sich selbst verkrümmt, ob eine oder einer frei zu leben vermag oder einzig durch das Erfüllen der Wünsche und Befehle anderer meint, ein Daseinsrecht zu haben –, dass all das unentrinnbar zusammenhängt mit dem, was er als Kind einst in der eigenen Familie erlebt hat. Ob er in einer Atmosphäre des Vertrauens, der Liebe und des Staunens geborgen war oder ob nur Recht und Pflicht und Leistung bestimmten, was Geltung hatte. Vergegenwärtigen wir uns gegen alle frommen Klischees von der Heiligen Familie doch auch dies: Der Gehorsame in der Familie von Nazareth war Josef, weil ganz Ohr für die traumnahe Gottesstimme des Engels in seinem Herzen. So hat er das Kind behütet und ihm ein Leben aufgetan, in dem es heranreifen konnte zu einem eigenen Gehorsam seiner göttlichen Bestimmung gegenüber, der ihn so frei und menschlich hat werden lassen, dass er zum Befreier all derer hat werden können, die sich ihm anvertrauen. Wie viel menschliches Leid, wie viel Glaubensnot, wie viel Hass auf die Kirche auch würden nie entstanden sein, wenn die christlichen Familien nicht das bürgerliche Kitschbild der Heiligen Familie zu kopieren suchten, sondern selber eine solche Lebensschule sein möchten, wie sie Jesu Eltern in Wahrheit gewesen sind. Darum ehren wir an diesem Tag den Hl. Josef einmal in besonderer Weise.
Und als Patron unserer Kirche mag er uns beständig daran erinnern, worauf es im Glauben und Leben zuerst ankommt: nicht auf das Machen und Auftreten und sich Inszenieren, sondern das Hinhören auf die leise Engelsstimme, mit der Gott auch in unsere Seelen spricht.