Wie der gute Hirte hütet
4. Ostersonntag B : Joh 10, 11-18
I
Vor langer Zeit herrschte in Arabien der König Hatim Tai. Ein anderer König wollte ihm sein Reich wegnehmen. Als man am Hofe Hatim Tais davon hörte, begannen die Ratgeber sofort, zum Verteidigungskrieg zu rüsten. Doch Hatim Tai sprach zu ihnen: Lasst das! Ich werde fliehen, der fremde König wird sich mit eurem Dienst begnügen, wenn ihr euch freundlich ergebt, und so wird kein Blut fließen. – Nach diesen Worten nahm er nichts als einen Stock und wanderte in die Berge, wo er eine Höhle fand und in tiefe Meditation versank. So kam es, dass der fremde König Hatim Tais Reich in Besitz nahm. Doch je länger, je mehr, da wurde es ihm unerträglich: Denn er hörte munkeln, dass er zwar ein neues Reich erobert habe, dass er dies aber doch Hatim Tai und dessen Edelmut verdanke.
Deshalb dachte der fremde König: ich werde erst dann wirklich Herr des Landes sein, wenn ich Hatim Tai selber gefangen habe. Und er versprach 5000 Goldstücke dem, der ihm Hatim Tai auslieferte. Hatim Tai wusste von all dem nichts bis zu dem Tag, da er vor seiner Höhle das Gespräch zwischen einem armen Holzfäller und seiner Frau anhörte. Der erzählte von dem Preis, der auf Hatim Tai ausgesetzt war und meinte: Wenn wir Hatim Tai nur finden könnten, dann wäre durch die Goldstücke endlich die Zukunft unserer Kinder gesichert. Da stand Hatim Tai auf, gab sich zu erkennen und sprach: Liefert mich aus, dann könnt wenigstens ihr leben! Der Holzfäller war beschämt vom Edelmut des Hatim Tai. Als sie dann vor dem fremden König standen, brachte es der Holzfäller nicht mehr über sich, Hatim Tai des Goldes wegen preiszugeben. Da trat Hatim Tai vor und sagte: König, ich bin Hatim Tai, dieser Mann hat mich gefangen. Gib ihm die Belohnung! Da fiel der Holzfäller nieder und erzählte dem fremden König die Wahrheit, wie Hatim Tai sich als Opfer für die gesicherte Zukunft der Holzfällerfamilie angeboten hatte. Der neue König aber war so überwältigt von dieser Geschichte, dass er mit seinem Heer abzog und Hatim Tai wieder den Thron überließ.
II
Zwei Könige. Zweimal Herrschaft. Der eine herrscht mit Gewalt. Der andere durch Güte – wenn man es denn noch Herrschaft nennen darf. Dass die wehrlose Güte den Gewalttätigen treffen kann – so treffen kann, dass er umkehrt und auf seine Gewalt verzichtet – wer glaubt denn noch, dass es das überhaupt gibt?
III
Christinnen und Christen müssten daran glauben, solange sie auch nur einen Augenblick lang ernst nehmen, was sie in der Osternacht gefeiert haben. Ihre Botschaft redet doch von dem, was menschliches Leben ermöglicht, Leben bewahrt, sogar endgültig macht. Genau auf die Frage danach – wie Menschen ganz und gültig leben können – hat Jesus antworten wollen. In einer seiner Predigten hat er es mit dem uralten Bildwort vom Hirt und seiner Herde gesagt. Mit ihm will er uns andeuten, was er für unsere Ursehnsucht nach Leben sein kann und sein will: Der, der weiß, wo es langgeht; der sich auskennt; der vor der Gefahr schützt. Er kennt auch seine Schafe, sagt er – das bedeutet: er weiß um sie, um ihre Sehnsucht, ihre Verletzlichkeit, ihre Angst. Wer das Leben sucht, braucht nur seiner Stimme nachzulauschen im Gewirr der anderen Laute und seiner Spur zu folgen – behauptet er. Und was die, die das tun, bei ihm finden, ist dabei alles andere als ein bisschen Lebenshilfe für den Notfall: Er gibt sein Leben für sie, auf dass sie bestehen. Der Hirt Jesus führt also das Leben der Seinen dorthin, worauf alles in uns vom ersten Atemzug an hinaus will: dass dieses Leben durch alle Beirrung und Gefährdung hindurch einmal endgültig werde, gerettet aus dem Sog des Nichtseins, der uns doch schon jedes Mal anhaucht, wenn uns Leid oder Krankheit berühren.
Wie aber kommt Jesus dazu, all das von sich zu behaupten? Er sagt es so: Weil seine hütende Hand nichts anderes als die Hand des Vaters, die Hand Gottes ist. Im Tun Jesu handelt Gott selbst auf menschliche Weise – da handelt der, von dem her sich entscheidet, was Heil, Unheil und Leben meinen. Wo einer sich hörend und folgend ihm anvertraut, begibt er sich in die bergende Hand Gottes hinein – sagt Jesus.
Weil wir so selbstverständlich meinen, Bescheid zu wissen über das Evangelium, spüren wir vielleicht im ersten Moment gar nicht, welche Provokation in diesen Worten Jesu steckt – der Anspruch, dass er selbst zu tun hat mit dem definitiven Gelingen menschlichen Lebenkönnens. – Ist dieser Anspruch Jesu wahr, weil gedeckt? Ist er kühn? Ist es gar Unverfrorenheit? Hüten wir uns, die Antwort darauf zu schnell zu geben. Denn: Recht und Wahrheit des Anspruchs Jesu, Hirt zum Leben zu sein, – dieser Anspruch ist durch sein Leben und dessen Ende am Karfreitag nicht nur nicht bestätigt, sondern auch für die Jünger – widerlegt, zumindest unentscheidbar geworden. Es ist kein Zufall, dass wir das heutige Evangelium an einem Sonntag nach Ostern gehört haben. Denn: Ob Jesu Anspruch wahr ist oder nicht, lässt sich erst im Licht der Osternacht eindeutig mache. Die unbezwingbare Erfahrung der Jünger, dass Jesus trotz des Kreuzes nicht im Tod geblieben ist, sondern lebt, diese Erfahrung erst hat wahrgemacht, dass er weiß, wo ein Mensch sein Leben ganz finden und endgültig finden kann: nämlich dadurch, dass einer sein ganzes Leben mitsamt seinem Sterben entsichert Gott anheimgibt. Erst diese Erfahrung des auferstandenen Herrn hat ihn beglaubigen können als Hirt, der seine Herde zum Leben zu führen vermag.
Durch Ostern ist Jesu Anspruch also wahr geworden – aber: wie ist er wahr geworden! Jesus hat diese Bewahrheitung nicht durchgesetzt mit einem spektakulären Triumph über seine Gegner. Er hat kein Machtmittel gebraucht. Er hat die Bewahrheitung seines Anspruchs an sich geschehen lassen in Passion und Kreuz auf eine Weise, wie sie sich radikaler und konkreter nicht denken lässt. Er hat sich selber mit Leib und Leben bis zum Grund ins Spiel gebracht für seine Wahrheit. Er hütet seine Schafe nicht mit dem Stock, sondern – durch sein Sterben, seine Hingabe. Schau doch, so bin ich! Nicht caesarischer Herrscher, nicht personifizierte Moralinstanz, nicht philosophisches Grundprinzip, wie der Philosoph Alfred North Whitehead schrieb, sondern „großer Begleiter“, „Mitleidender, der versteht“. – Was also musst du noch fürchten?
IV
Sämtlichen Völkern des Alten Orients galten der Hirt und seine Herde als das Inbild der Herrschaft, wie sie sein soll unter Menschen: ein Leiten, das sich nicht der Macht verschrieben hat, sondern liebevoller Sorge gehorcht. Irgendwie haben die Menschen ja von Anfang an geahnt, dass es nur so, jenseits der Gewalt und jenseits herrischer Gebärde gelingendes Miteinander unter Menschen geben kann. Der auferstandene Gekreuzigte hat diese Ahnung in ihrer ganzen Wahrheit offenbar gemacht. Und viele haben – von ihr beseelt und begeistert – diese Wahrheit hochgehalten. Das sind die, die um Gottes willen Lieblosigkeit – und manchmal sogar Tod – eher ertragen als zurückgeschlagen haben – und die eben dadurch ihr Leben gültig machten. Sie haben ihre Gewänder im Blut des Lammes weiß gemacht, sagt die Offenbarung über sie in einem seltsamen Bildwort. Von Stephanus bis Oscar Romero und die namenlosen Erschossenen in Nigeria und anderswo reicht ihre Kette. Zu ihr gehört jeder, der der wehrlosen Liebe zutraut, Unmenschlichkeit zu verwandeln.
Freilich: Hatim Tai und der gewalttätige Eroberer bewohnen meist zugleich unsere Seele. Oft genug trauen wir Hatim Tai nicht ge-nug und der andere gewinnt wieder und wieder die Oberhand. Das ist dann, wenn auf einmal zwischen Menschen die Fäden reißen. Wenn sie nicht mehr richtig miteinander reden können; wenn Andersdenkende kurzerhand diffamiert werden; wenn man schuldig spricht und sogenannte klare Verhältnisse schafft. Sie wissen ja, wie schnell das geht – daheim; wenn es knistert zwischen Kollegen; oder wenn politische Ansichten aufeinan-derprallen. Das ist unser Werktag. Und in der Kirche geht’s oft genug nicht anders zu. Da wir der Liebe nicht mehr getraut. In der Mitte unseres christlichen Glaubens, da stünde das Gegenbild zu all dem: der gekreuzigte Auferstandene. Wenn wir auf ihn schauten, uns seine Züge einprägten, ihn so uns nahe kommen ließen, da fingen wir an, der Liebe wieder zu trauen. Sie ist ein Stück vom Geheimnis Gottes, das uns ins Herz geschrieben ist: die Güte, die uns zu Menschen verwandelt. Der gute Hirt weist uns in sie ein durch sein Geschick.