Das größte der Feste
Gründonnerstag C: 2 Kor 5, 14-20 [zugewählt]
I
Vierzig Tage der Vorbereitung liegen nun hinter uns. Jetzt treten wir ein in das Hochfest unseres Glaubens, das Triduum Paschale, die drei österlichen Tage. Tief hinab tauchen wir in die alttestamentlichen Lesungen heute, morgen und in der Osternacht, bis zu jenen Wurzelgründen, wo vor Jahrtausenden in archaischen Hirtenfesten suchenden Seelen die erste Ahnung über das Geheimnis von Leben und Tod, Anfang und Ende, Zeit und Ewigkeit zuwuchs – manchmal ganz eingelassen noch in den unablässigen Kreislauf der Natur, manchmal ausgelöst durch bestürzende Begebnisse im Lauf des Geschicks eines Stammes oder Volkes. Und ab dem Ostermorgen geht unser Blick zugleich nach vorn, auf das was wir seit der Predigt von der Auferweckung Jesu hoffen dürfen für uns, hoffen bis hinaus auf die Vollendung von Welt und Zeit, ebenso wie das in jenen leuchtenden Hörbildern aufklingt, die wir gegen Ende der 50 österlichen Festtage in der Offenbarung des Johannes lesen werden.
II
Gleichzeitig aber wird dieser riesige Zeitbogen von den Uranfängen bis zur Vollendung von Allem, samt der Fülle seiner Geschichten und Bilder von einem Grundmotiv zusammengehalten, das eben deswegen bereits am allerersten Tag der Vorbereitungszeit auf Ostern, in der zweiten Lesung des Aschermittwochs aufklingt: Versöhnung. „Wir bitten an Christi statt“ – schreibt Paulus da seiner Problemgemeinde in Korinth – „wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen!“ Unter eben diesem Leitmotiv soll heuer die ganze Osterbotschaft gleichsam durchbuchstabiert und auf ihren inneren Sinn abgehört werden.
III
Versöhnung also. Wo es der Versöhnung bedarf, muss es zu einem Zerwürfnis einer Trennung gekommen sein. Genau davon ist bereits auf den ersten Seiten der Bibel die Rede: um den Spaltpilz des Misstrauens gegen Gott geht es dort in der Sündenfall-Geschichte. Der Mensch findet sich gratis – aus Gnade – in den Lebensgarten der Welt gesetzt, den ihm ein gönnender Gott geschenkt hat. Eines Tages erkennt er sich – obwohl das Unendliche denkend und fühlend – als endlich: Er verfügt nicht über das Ganze. Da springt ihn – in der mythischen Gestalt der Schlange – die Angst an: Ist Gott wirklich der gönnende oder enthält er mir doch Leben vor? Angesichts dieser Frage bleibt nur ein Zweifaches: Der Mensch kann seinem Gott auf alle Selbstabsicherungen verzichtend trauen – oder er muss ihm misstrauen. Vertrauend kann er mit seiner selbsterkannten Endlichkeit und Zufälligkeit versöhnt leben. Misstrauend muss er mit der Kraft der Verzweiflung sich selbst absolut setzen und dadurch alle Bindungen zerstören, die sein Leben tragen. Vor seinem Gott versteckt er sich, empfindet ihn als Konkurrent und strafend. Was die Natur betrifft, verkehrt sich in der Perspektive des Misstrauens der Paradiesgarten in ein Jammertal. Und das zwischenmenschliche Zueinander, ursprünglich auf gegenseitige Hilfe und Freude aneinander angelegt – siehe Adam und Eva – wird in Machtverhältnisse pervertiert, die geradewegs in Gewalt, Zerstörung und Mord führen. Die Angst zu erfahren, ist unentrinnbar mit dem Sich-bewusst-werden des Menschen verbunden. Angst treibt ihn in das Böse. Aber Angst kann durch vertrauenden Glauben überwunden werden. In der Verweigerung des Glaubens aber verfestigt sich die Angst zur Gottesferne – klassisch gesprochen: zur Erbsünde. Erlösung aus ihrem Fluch gewährt nur die Gnade des Glaubens, deren Angebotenwerden und dramatisches Angenommen- und Abgelehntwerden in der Heilsgeschichte seit Abraham gegenwärtig gehalten wird. Die ursprüngliche Entscheidung zwischen Vertrauen und Misstrauen, die das Umkippen der Angst in Sünde verhindern kann, vermag nur aus dem Glauben zu kommen, dass Gott, der Ursprung meines Lebens, wahrhaft ein gönnender Gott ist, der es gut meint mit mir. Und dieser Glaube kann einzig im radikal subjektiven, selbstbewussten, freien Gegenüber zu einer Person entstehen, die jenes Gottvertrauen mit ihrer eigenen subjektiven Persönlichkeit auf menschliche Weise glaubhaft macht und darum für ihr Gegenüber in singulärer Beziehung zu jenem, sein Leben tragendem Geheimnis steht, das wir Gott nennen. Glauben ist immer zuerst und zunächst ein: ich glaube Dir. Ein Dativ, ein Geberfall: ich übergebe mich einem anderen voll Vertrauen. Für die Christinnen und Christen ist dieses Gegenüber Jesus von Nazareth. Das schlechthin Unterscheidende des christlichen Glaubens gegenüber allen anderen religiösen Traditionen besteht gerade in der radikalen Konzentration allen von der menschlichen Selbstvergewisserung angetriebenen religiösen Suchens und Ahnens auf ihn. In ihm und nur in ihm muss der Glaube seinen Anhalt finden. Anders gewendet: Dass er Vertrauen haben soll, dazu will – und muss auch oft – die Psychologie den Menschen ermuntern; dass und warum er Vertrauen haben darf, kann ihm nur die Theologie vermitteln, indem sie den Grund solchen Vertrauens glaubhaft macht.
Es geht dabei um eine Glaubensbegründung nicht nach von außen herangetragenen Maßgaben (weil es solche gar nicht gibt), sondern von innen, von der Stimmigkeit der in den Bildern und Symbolen des Glaubens artikulierten Botschaft her. Die Begründung besteht darin, dass der angesprochene Mensch eben diese Stimmigkeit der Botschaft von seinem Eigenen, seinem Innern, d.h. von seiner Verfasstheit und deren Ansprüchen her bewahrheitet.
IV
Das aber ist viel leichter gesagt als getan. Denn zu unserer conditio humana gehört auch, dass wir den Riss in unserer Existenz, der sich in der Daseinsangst geltend macht, in Eigenregie zu schließen suchen. Und das probateste Mittel dafür scheint uns die Moral zu sein. Denn ist es nicht unglaublich beruhigend, wenn man meint sich sagen zu dürfen, einigermaßen anständig durchs Leben gekommen zu sein? Doch das ist trügerisch, höchst trügerisch. Diese Einsicht verdanken wir Friedrich Nietzsche. Niemals vor ihm und bis heute auch nicht nach ihm, hat einer wohl intelligenter und aggressiver gegen das Christentum gewütet als er. Was ihn daran am meisten aufregte, war das Moralische. Moral hat mit Werten zu tun, und Werte galten ihm als raffinierte Erfindung derer, die an sich keinen Wert haben und sich dadurch schützen, dass sie Werte erfinden. Zum Beispiel die Barmherzigkeit: Barmherzigkeit propagieren die, sagt Nietzsche, die zu dumm, zu schwach, zu gehemmt sind, um sich durchzusetzen und das Ihre zu holen. So lügen sie ihre Schwäche in Tugend um und werfen damit zugleich den Starken Knüppel zwischen die Beine.
„Der christliche Gottesbegriff – Gott als Krankengott, Gott als Spinne... – ist einer der corruptesten Gottesbegriffe, die auf Erden erreicht worden sind; ... Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu sein!",
schreibt er in seinem Werk „Antichrist". Dieser Kritik gäbe es wahrlich genug bereits an Theoretischem entgegenzuhalten. Und trotzdem erinnert sie indirekt an etwas ungeheuer Wichtiges: dass christlicher Glaube mehr ist als Moral. Denn wäre er nur dies, dann hätte Nietzsche im Letzten Recht.
V
Worin aber besteht dieser Überschuss des christlichen Glaubens über das Moralische hinaus? Gar nicht so einfach zu sagen – und doch lassen sich im Neuen Testament Spuren davon ausmachen, Spuren freilich, die eher als Stolpersteine denn Wegzeichen anmuten. Besonders dicht begegnen diese Spuren innerhalb der Bergpredigt in Gestalt der von Jesus bis zum Exzess verschärften Gebote der jüdischen Tradition – die berüchtigten Antithesen: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht töten; wer aber jemand tötet, soll dem Gericht verfallen sein. Ich aber sage euch, Jedem, der seinem Bruder auch nur zürnt, soll dem Gericht verfallen sein" (Mt 5, 21-22a). Oder: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen" (Mt 5, 27-28).
Ich erinnere mich, wie wenn es heute gewesen wäre: Religionsunterricht in der vierten Klasse der Grundschule. Die Bergpredigt ist dran. Nach erster Einführung werden gemeinsam die Verse gelesen, wie sie im Religionsbuch stehen. Nach der Antithese zum Ehebrechen meldet sich eine Schülerin spontan und sagt: „Herr Kaplan, dann hat mein Vati schon oft die Ehe gebrochen." Vermutlich Erfahrungen im Kopf mit dem, was der Vater vor dem Bildschirm oder auf der Straße über Frauen an Bemerkungen losließ, hatte das Kind treffsicher ausgesprochen, worauf Jesu Verschärfung des alten Gebotes in Wirklichkeit zielt: dass es mit dem Einhalten eines Gebotes überhaupt nicht getan ist, solange sich einer sozusagen unterhalb seiner äußerlichen Verletzung ein Schlupfloch offen hält. Nur: Wer könnte von sich wirklich sagen, so etwas – egal wo – noch nie getan zu haben? Anders gesagt: Jesu Verschärfung der Gebote ist nur ein scheinbare. Sie ist vielmehr die Bankrotterklärung der Gebots- und Verbotsmoral. Wer wirklich gerecht, wirklich gewaltlos, wirklich treu sein will, vermag das nur dadurch, dass sie oder er mehr als gerecht, gewaltlos und treu ist. Legion ist der Zeugnisse, dass zutiefst ungerecht handeln kann, wer unbedingt gerecht sein will, höchst gewalttätig, wer alle Gewalt verabscheut, treulos, wer das Ideal der Treue hochhält. Ein Leo Tolstoi etwa – fasziniert, geradezu besessen, gemäß der Bergpredigt zu leben – hat seiner Frau das Leben zur Hölle gemacht. Worin aber besteht jenes Mehr, das zugleich solcher Verdrehung wehrt? Es besteht darin, dass ein Mensch zutiefst versöhnt ist mit sich und dem Leben und darum auch mit Gott. Besser andersherum: Dass er mit Gott versöhnt diesem Gott zutraut, dass der es gut meint mit seinem Geschöpf – und dass dieses Geschöpf darum "ja" sagen kann zu den eigenen Stärken und den Schwächen, die Stärken kreativ lebt, die Schwächen geduldig erträgt – und zu hoffen wagt, dass es gut wird mit ihm.
Diesen christlichen Vorrang der Versöhnung selbst noch vor der Gerechtigkeit bringt Paulus in für ihn so eigentümlicher wie gleichermaßen verblüffender Weise an der eingangs schon erwähnten Stelle des Zweiten Korintherbriefes zum Ausdruck: "Wir bitten an Christi statt: Lasst euch mit Gott versöhnen" (2 Kor 5,20). Was natürlich heißt: Jesu Wirken hat die Grundform der Bitte, sonst könnte der Apostel nicht an seiner statt bitten. Und Gegenstand der Bitte ist die Versöhnung mit Gott. Sie – die Versöhnung – muss darum offenkundig das Grundlegende sein zwischen Gott und Mensch, jedenfalls aus christlicher Perspektive.
VI
Von einem namentlich Unbekannten ist das Diktum überliefert, der Christ sei primär kein Gerechter, sondern ein Versöhnter. Der Unbekannte hat Recht gehabt. Vielleicht hätte er sogar das „primär" weglassen sollen. Denn wo ist einer der Menschen überhaupt gerecht? Der österreichische Dichter Robert Musil hat das in seinem Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften" so gesagt:
„Ich glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind... Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte... Die Moral, die uns überliefert wurde, ist so, als ob man uns auf ein schwankendes Seil hinausschickte, das über einen Abgrund gespannt ist... und uns keinen anderen Rat mitgäbe als den: Halte dich recht steif!... Ich glaube, man kann mir tausendmal aus geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mir gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht. Ob ich davon zum Leben erweckt werde oder nicht."
VI
Musils Feuer hinter der Moral, das ist für den Glaubenden die Versöhnung mit Gott, um die ihn oder sie Christus bittet. Bittet! Er macht sich zum Bittsteller und versinnbildet darin, wie Gott selber zu uns ist. Die Gründonnerstagsversion dieser Bitte ist – die Fußwaschung. Dass derjenige bittet, der das gar nicht nötig hätte, dass die Rollen gleichsam vertauscht werden – diese zuvorkommende Bestürzung ist das Wesen des Christlichen. Einzig von ihr erzählt die ganze Schrift. Einzig um sie geht es in den heiligen Zeichen, die wir begehen. Sei mir wieder gut, sagt Gott uns durch beides. Ich warte auf Dich. Das Fest der Versöhnung beginnt.