Die Sinnllichkeit des Abendmahls
Gründonnerstag B: 1 Kor 11,23-26 + Joh 3, 1-15
I
Mit dem heutigen Abend beginnt das Triduum paschale, die Heiligen Drei Tage, mit denen wir Quelle, Mitte und Höhepunkt unseres Glaubens feiern. Würde man da nicht erwarten, dass so etwas in „Pomp and circumstance“ – also mit Pracht und Aufwand – begangen wird, so wie eben in der Regel Menschen oder eine Gesellschaft etwas für sie Wichtiges inszenieren? Denken Sie etwa nur an Eröffnungen großer Veranstaltungen, an Amtseinführungen oder prominente Geburtstage!
II
Aber nichts von all dem heute Abend. Im Gegenteil: Kein Prunk, kein sprachliches Genus grande, also eine ornamentierte Festrede, sondern alles im Ton zurückgenommen und verhalten. Und vor allem: In der Mitte zwei im Grunde völlig unsakrale, profane Riten: das gemeinsame Essen gebrochenen Brotes, das Trinken aus dem einen Weinbecher zum einen und zum anderen – im Grunde noch befremdlicher – die Fußwaschung. Und beides gehört so eng zusammen, dass uns ausgerechnet Johannes, der spekulative Theologe unter den Evangelisten, die Sache mit dem Brot und dem Wein erst gar nicht erzählt, dafür umso ausführlicher schildert, wie Jesus den Jüngern die Füße wäscht. Was aber hat das denn überhaupt mit Gott und dem Glauben zu tun?
III
Vielleicht lassen wir doch für einen Moment einfach all die Katechismus-Sätze, die wir gewöhnlich im Sinn haben, beiseite und wagen wir einmal den Gedanken, dass sich gerade in diesem nüchternen Akt der Fußwaschung das Innerste der Botschaft Christi ausdrückt. Was da gesagt sein könnte, deutet ein Fragment an, das sich Novalis zwischen 1799 und 1800 notiert hat. Da heißt es:
Es giebt nur Einen Tempel in der Welt und das ist der menschliche Körper. Nichts ist heiliger, als diese hohe Gestalt. Das Bücken vor Menschen ist eine Huldigung dieser Offenbarung im Fleisch. […]
Man berührt den Himmel, wenn man einen Menschenleib betastet.
Das klingt natürlich erotisch und ist es auch, kein Wunder bei diesem Erzromantiker Novalis und seiner weltstürzenden Liebesgeschichte mit Sophie von Kühn, mit der er sich an ihrem 13. Geburtstag verlobt, um sie zwei Jahre später durch eine tödliche Krankheit zu verlieren, ohne dass seine Seele je hätte von ihr Abschied nehmen können. Aber was er da schreibt, ist nicht nur romantisch und erotisch. Denn das soeben zitierte Fragment endet mit dem Worten:
Über die Tödtung krüppelhafter, alter und Kranker Menschen.
Gemeint ist: Auch Leid, Behinderung und Verfall sind im Licht der Heiligkeit des Leibes zu sehen.
Der Liebesdienst der Fußwaschung also – dieses Bücken vor Menschen, wie Novalis sagt – eine Geste der Ehrfurcht vor der einmaligen Offenbarung Gottes in der Welt, die jeder Mensch in erster Person ist, unerachtet dessen, wie er aussieht und zu bieten hat? Dass Novalis wirklich so gedacht hat, verrät ein Notat aus den Teplitzer Fragmenten, das er ein Jahr vor dem Diktum über den Leib als einzigen Tempel festgehalten hat. Es lautet:
Ist die Umarmung nicht etwas dem Abendmahl Ähnliches. Mehr über das Abendmahl.
Dieses „mehr“ ließe sich vielleicht so ausbuchstabieren: Wenn wir das Brot teilen und aus dem einen Kelch trinken, umarmen wir uns, lassen wir einander Nähe und Wärme spüren, und darin umarmen wir Gott und umarmt uns Gott, indem wir einander umarmen und damit eine dem anderen zusagen: Du bist für mich Tempel, also Ort der Gottesgegenwart und darum wert, dass ich mich für dich und vor dir bücke. Auch dann noch, wenn du angeschlagen bist und nichts mehr hermachst, wie man so sagt. Aber freilich zuvor auch dann, wenn du mich bezauberst und buchstäblich um die Sinne bringst mit deiner erotischen Ausstrahlung, die mich über mich hinausreißt, ohne dass ich mich dieser Ekstase bemächtigen, sie in meine Verfügung nehmen könnte – der Anfang aller Transzendenz, wie schon Platon wusste.
IV
Meiner Überzeugung nach gibt es in der gesamten Menschheitsgeschichte keine sinnlichere Religion als den Katholizismus, weil er auch und gerade in der Liturgie, im Gottesdienst diese Dimension des Leiblichen vergegenwärtigt und als Ort der Gottesbegegnung zur Geltung bringt. „Experimentalreligionslehre“ sagt Novalis dazu. Und erst von eben daher kann ja dann auch verständlich werden, dass und warum in der katholischen Tradition der Leib im Zusammenhang der österlichen Botschaft von Passion und Auferstehung so bedeutsam ist.
Das hat im Kern ja etwas durch und durch Verstörendes. Durch entsinnlichende Ritualisierung ist ganz viel davon verloren gegangen. Umso wuchtiger meldet es sich dort, wo sich jemand getraut, den ursprünglichen Zusammenhang von Gott und Leib präsent zu machen. Einer von diesen Mutigen war der österreichische Bildhauer und Graphiker Alfred Hrdlicka, einer der ganz Großen in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Sein Anti-Kriegs-Denkmal in Hamburg und das Shoah-Gedenkmal vor der Albertina in Wien sind legendär. Von ihm gibt es in wenigen Exemplaren auch eine großformatige und handkolorierte Radierung mit dem Titel „Pier Paolo Pasolini restauriert das Abendmahl Leonardo da Vincis“. Als das Bild vor wenigen Jahren bei einer Wiener Ausstellung in kirchlichen Räumen gezeigt wurde, musste es wegen der wutentbrannten Proteste rechtskatholischer Gruppen abgehängt werden.
Sie ahnen vielleicht schon aus dem genannten Titel, worum es geht: Pasolini, berühmt geworden durch seinen Film Das Evangelium nach Matthäus von 1964 war bekennender und praktizierender Homosexueller (wie übrigens Leonardo auch). Und das nahm Hrdlicka zum Anlass, in seiner Radierung das Abendmahl, ikonographisch streng angelehnt an das gleichnamige Werk Leonardos in S. Maria delle Grazie in Mailand, als eine Art homoerotisches Fest zu inszenieren – mit zahlreichen gestischen Zitaten aus anderen berühmten Kunstwerken. Wie Leonardo zeigt er uns Christus in der Zentralperspektive des Bildes als Fels in der Brandung, mit den Seinen über den gemeinsamen Tisch verbunden in den Gesten, mit denen seine Hände auf Brot und Wein weisen, und Judas, anders als auf vielen anderen Bildern, ihm ganz nah, ja sogar die augestreckten Hände der Kreuzigung vorwegnehmend und sich erbrechend – drastische Verschärfung jenes Selbstekels, der ihn in Leonardos Original wie gefroren vor der Brotschale zeigt.
Sofort gebe ich zu: Auf den ersten Blick ist das Werk schockierend. Aber wenn man davor aushält, merkt man auf einmal: Da stimmt alles bis ins Detail: Passio – das untrennbare Ineinander von Leidenschaft und Leiden, das keiner und keinem unbekannt ist, die und der je aus der Tiefe der Seele geliebt hat. Das Leibliche als das entscheidende Medium der Offenbarung. Die Liebe – vom Eros bis zur Agape und zum selbstlosen Dienen, zum Novalis’schen Bücken – als Herzmitte des Gründonnerstags. All das findet sich in dem Werk wieder. Und eben dadurch vermag es die geistlichen Augen zu öffnen, denn es macht klar:
V
Zu dem atemberaubenden jesuanischen Gottesprojekt gehört von seiner Wurzel her eine durch und durch gehende Verletzbarkeit, die immer zuerst eine solche des Leibes ist, ein Ausgesetztsein an die Logik der Gewalt, weil er selbst von Wesen einer Logik des Gewaltverzichts folgte, folgen musste. Das Für-dich der Liebe, das Umarmen will nie zwingen. Es kann es einfach nicht. Das ist sein Preis dafür, dass es bis in die Mitte selbst verhärtetster Herzen vordringen kann. Johann Sebastian Bach hat genau das im Blick, wenn er in seiner Matthäus-Passion auch noch dem zum Verräter Gewordenen Judas in einer Bass-Arie mit Violin-Solo nachsingen lässt:
Gebt mir meinen Jesum wieder!
Seht, das Geld, den Mörderlohn,
Wirft euch der verlorne Sohn
Zu den Füßen nieder.
Gebt mir meinen Jesum wieder!
Der Verlorenste der Verlorenen noch gehört zu den Heimkehrenden, wenn er sich nicht selbst aus der bedingungslosen Zugewandtheit des Gottes exkommuniziert.
IV
Leonardo und andere haben schon richtig gesehen: In der Szene des Letzten Abendmahls geschieht tatsächlich nichts anderes als eine bis zum letzten zugespitzte Verdichtung dieser Reich-Gottes-Botschaft Jesu, ihrer Revolution, die das Oberste zuunterst kehrt, das Sinnlich-Leibliche zum Ort des Heiligen macht. Der Gründonnerstag ist das sinnlichste Fest des ganzen Kirchenjahres.
Dann darf uns aber auch nicht wundern, dass diese innerste Mitte des Abendmahls zugleich die Mitte jeder seiner Vergegenwärtigungen bildet und darum jedes Mal aufklingt, wenn wir Eucharistie feiern. Wir hören es bloß meist nicht mehr, weil es so vertraut ist. Dabei hat Paulus das, worum es geht, im Ersten Korintherbrief in ein geniales Wortspiel gefasst, das in den Hochgebeten der Messe anklingt:
Ich habe vom Herrn empfangen,
was ich euch dann überliefert habe:
Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert wurde, Brot...
Im griechischen Urtext steht in beiden Sätzen an der Prädikatstelle – nur um eine Silbe anders im Deutschen – das gleiche Wort: eine Form von paradidonai – das gleiche Wort also für überliefern und für ausliefern. Auch im Lateinischen ist das so: tradere, traditio heißt es da – und das Wort steht gleichermaßen für Überliefern und für Ausliefern im Sinn von Verraten. Außer Frage steht, dass der Rhetoriker Paulus das nicht mit Absicht so gesagt hätte, dass das Überliefern der Abendmahlsszene in das Ausgeliefertwerden Jesu einschwingt und umgekehrt. Ist dieses Oszillieren einmal wahrgenommen, weitet es sich sozusagen schlagartig ins Große: Das menschliche Ausgeliefertwerden Jesu gründet darin, dass Gott selbst ihn und in ihm sich selbst leiblich ausgeliefert hat, weil er in seinem bedingungslosen Für-seine-Geschöpfe-Dasein sich so verletzlich gemacht hat. Und umgekehrt ins Kleine gewendet: Das Brotbrechen und Trinken aus dem einen Kelch ist nichts anderes als Überlieferung, traditio dessen, was in der Abendmahlsnacht zum Vermächtnis wurde: dass im Tun, wie er getan hat, die Auslieferung Jesu und in ihr wiederum das Innerste Gottes Gegenwart wird, der Reich-Gottes-Herzschlag sozusagen.
Das Dramatische an diesem Ineinander wird noch gesteigert, wenn man den größeren Zusammenhang hinzu nimmt, in dem Paulus auf die zu ihm gelangte Überlieferung zu sprechen kommt: Er erinnert daran, weil er seinen Adressaten, der Gemeinde von Korinth, vorhalten muss, dass sie drauf und dran sind, das Vermächtnis Jesu, seine Herzenssache, die Reich Gottes heißt, – Achtung – zu verraten! Kamen doch die Wohlhabenden der Gemeinde zusammen und schlugen sich den Bauch voll, ohne auf die Armen zu warten, die Tagelöhner, die bis zum Abend schuften mussten und erst dann Zeit hatten für die Gemeindeversammlung. Das symbolische Brotbrechen, in das sie dann noch einbezogen wurden, war eine Farce, hatte mit dem gelebten Leben, mit dem Leib und darum mit gelebtem Glauben im Horizont der jesuanischen Gottesrede nichts mehr zu tun. Paulus hielt das schlicht und einfach für – Achtung! – Verrat. Verrat an der Überlieferung von der Auslieferung Gottes, an seinem eben bis ins Leibliche reichenden Für-sein.
V
Wir halten jetzt Gründonnerstag-Abend, die Stunde von Jesu Abschiedsmahl. Indem wir begehen, was er uns überliefert hat, liefern wir uns dem aus, was sein Ein und Alles war – im Wissen darum, wie hauchdünn die Trennscheide zwischen Überlieferung und Verrat sein kann. Und wer könnte ernsthaft von sich sagen, sein Eucharistiefeiern wäre nie im Widerspruch zu dem gestanden, was er/sie getan und gelassen hat! Hoffen nur können, aber dürfen wir auch, dass wir durch das, was wir jetzt tun, im Letzten hineingezogen sind in das, was Gott selber tut – und ist. Mehr können Menschen nicht wollen.