Gottes Gast sein
28. So A: Mt 22, 1-14
I
Ein Enkel des Rabbi Baruch, der kleine Jechiel, spielte einmal mit einem anderen Jungen Verstecken. Er verbarg sich gut und wartete, dass ihn sein Freund suchte. Als er lange gewartet hatte, kroch er wieder aus seinem Versteck hervor, doch der andere war nirgends zu sehen. Da merkte Jechiel, dass ihn sein Spielkamerad von Anfang an überhaupt nicht gesucht hatte und er begann zu weinen. Unter Tränen lief er in die Stube seines Großvaters und beklagte sich über seinen Spielgefährten. Da flossen dem Rabbi Baruch die Augen über und er sagte: So geht es Gott auch: Er verbirgt sich, aber keiner will ihn suchen.
II
Das Spiel ist aus, wenn einer nicht mehr mittut. Der aber, der das Spiel ernstgenommen hat, steht allein da – ratlos, mit leeren Händen. Mag er sich auch noch so viel Mühe geben – sie bleibt vergeblich. So geht es Gott auch, sagt der alte Rabbi. Und das heutige Evangelium gibt ihm Recht.
III
Was nämlich Jesus mit dem heutigen Gleichnis zur Sprache bringt, ist die geballte Summe der Erfahrungen, die Gott selber mit den Menschen macht von Anfang an. Seit der Zeit der Patriarchen – Jahrtausende schon – müht sich Gott, dass die Menschen seine ausgestreckte Hand der Versöhnung ergreifen. Dass die Kluft zwischen Gotteswelt und Menschenwelt überbrückt wird, die alles Unheil – Kampf und Hass und Not und Trauer – gebiert. Seit Abraham geht Gott auf die Menschen zu, um diese Kluft schließen. Er schenkt ihnen seinen Namen. Ich bin der Ich-bin-da-für-euch –, er schenkt ihnen seine Gebote als Wegmarken für das Abenteuer des Lebens, er sendet ihnen seine gottbegeisterten Könige und Propheten, damit das Werk der Versöhnung gelinge. Das Leben soll ein Fest werden – wie eine orientalische Hochzeit, die sieben Tage und sieben Nächte dauert. Ein Fest ohne Ende. So ist es mit dem Himmelreich. Gott hat alles dafür vorbereitet – aber: die Gäste wollen nicht kommen. Er lädt sie ein, lässt sie rufen – einmal, zweimal. Doch die Geladenen kümmern sich nicht darum. Mehr noch: sie werfen die Diener hinaus und töten sie sogar. Solche Hochzeitsgäste gibt es ja gar nicht; so unmöglich benehmen sie sich. Ungläubig staunend schütteln die Zuhörer Jesu den Kopf über sie – und entlarven sich dabei selber: Denn genau so, genau so unglaublich steht es mit dem Reich Gottes. Gott tut alles für die Seinen, was er nur immer tun kann. Immer wieder neu, immer wieder von vorne. Und die Menschen wissen auch, dass sie Gottes ausgestreckte Hand brauchen, weil nur so – und nicht aus eigenen Kräften – der Riss zwischen Himmel und Erde wieder heilen kann, der mitten durch jede Menschenseele verläuft. Und dennoch schlagen sie Gottes Angebot zur Versöhnung jedes Mal wieder aus. Denn zur Hochzeit gehen, am Fest teilnehmen, das hieße: den eigenen Alltag unterbrechen; die selbstgesetzten Ziele und Zwänge suspendieren; die Logik der Selbstgenügsamkeit sprengen. Am Fest teilnehmen, das hieße: sich etwas schenken lassen; ergriffen werden von einer Atmosphäre, die verwandelt.
Doch dieses Geschenk der Verwandlung ist ihnen zu viel. Ein bisschen Hilfe, die ist willkommen, in den ärgsten Nöten, wenn alle selbstgestrickten Sicherheiten ihre trügerischen Fratzen zeigen. Ein bisschen Hilfe – ja. Aber nicht so viel, dass sie uns gleich zu anderen macht. So denken gerade die, die Gott kennen und berufen sind, Gottes auserwähltes Volk zu sein. Ihre Weigerung, an Gottes Fest teilzunehmen, löst freilich einen regelrechten Erdrutsch aus. Gott lädt an ihrer Stelle andere ein. Er wird auch ohne sie seine Sache durchbringen und gerade darin erweisen, wer er wirklich ist. Diese Kehre, ja dieser Umsturz im Herzen Gottes ereignet sich greifbar mitten unter den Menschen: er geschieht in der Person Jesu von Nazaret. Er zieht übers Land und sagt ausgerechnet Bettlern und Sündern, Zöllnern und Kranken auf den Kopf zu: Kommt in den Hochzeitssaal. Gott hat die Tür geöffnet für euch. Und – sie kommen. Sie folgen seinem Ruf. Ihr Herz ist feinfühlig und wach für das, was Gott da anbietet. Ihre Schmerzen und Nöte haben sie empfindlich gemacht und sehen gelehrt – sehen mit den Augen des Herzens. Gerade die, die aus sich nichts sind und weniger als nichts, gerade sie werden so zu den Bürgern des Gottesreiches. Sie werden die Träger des zeichenhaften Anfangs einer verwandelten Welt. Zachäus der Zöllner will nicht nur einfach, sondern vierfach zurückerstatten, was er vorher zu Unrecht kassiert hatte. – Eine Frau von eindeutigem Ruf, weil zweideutigem Lebenswandel wirft sich Jesus zu Füßen und heult ihr ganzes Elend heraus, ihre Sehnsucht nach einem endlich befriedeten und erfüllten Dasein. Und er: Ihr werden viele Sünden vergeben, weil sie viel geliebt hat, sagt er, und lässt den umstehenden den Atem stocken. Und zu der Frau: geh hin in Frieden. Ihr tiefster Wunsch ist erfüllt. – Alle sie: Zachäus und die Frau, Bettler, geheilte Lahme und befreite Besessene, sie sind die Ersten des Gottesreiches, die Boten und Zeugen einer von Gott geheilten und verwandelten Welt. Auf sie ist die Berufung Gottes übergegangen von denen, die mit dem Mund zwar fromm, im Herzen aber selbstzufrieden waren.
Gute und Böse füllen den Hochzeitssaal. Herkunft und Verdienst, ja nicht einmal Moral spielt eine Rolle. Denn dass sie Jesu Einladung Folge leisten, dass sie sich seinem Wort anvertrauen – allein dadurch sind sie qualifiziert für das Gottesreich. Ihr schlichtes Ja zur Einladung reinigt sie von allem, was nicht zum Fest passt. Ihr Ja verwandelt sie, macht sie zu neuen Menschen. Denn ihr Ja bezeugt und besiegelt ihre Umkehr, ihre Hinkehr zu Gott. Unerwartet und unverdient eingeladen sein zum Fest des Lebens – das führt die Gemeinde zusammen zu ihren Hymnen und Liedern auf das Erbarmen Gottes. Das macht die Christen zum Neuanfang Gottes mitten in der Welt.
Die Christen singen zu Recht vor Freude über Gottes Ruf, der sie dazu befreit, ganz Mensch zu sein. Aber die Christen wissen gleichzeitig auch um den Ernst der Berufung, die ihnen geschenkt ist. Matthäus hat nicht umsonst dem Gleichnis von der Einladung eng verbunden das andere Gleichnis vom Mann ohne Hochzeitskleid angefügt. Er will davor warnen, die Berufung ins Gottesreich auf die leichte Schulter zu nehmen. Das alte Kleid des Werktags passt nicht zum Fest. Gewiss: das Gottesreich ist und bleibt Geschenk. Aber: es lässt sich nicht nebenher mitnehmen – so als hätte einer mit der Taufe ein für alle Mal Gottes Berufung hinter sich. Christ wird man nicht im Vorbeigehen. Wer ja gesagt hat zur Einladung, kann nicht der alte bleiben wollen. Er muss die Einladung bestätigen mit dem Gewicht seines ganzen Lebens. Die verwandelnde Kraft Gottes will ihn ergreifen und zu einem neuen Menschen machen – bekleidet mit dem Festgewand. Dem Umsturz im Herzen Gottes, der uns, die Bettler und Lahmen von den Straßen, so reich beschenkt, diesem Umsturz muss die Umkehr in den Herzen der Menschen entsprechen, die Gottes Ruf vernommen haben. Wer diese Umkehr verweigert, nimmt nur zum Schein am Fest teil. Er tut nur so, als wolle er – wie der Spielkamerad des kleinen Jechiel. Aber: nur so tun – das heißt: das Fest zerstören. Deshalb lässt der König den Mann ohne Festkleid wieder in die Dunkelheit werfen. Christ sein wollen nur zum Schein verdirbt die Lieder.
IV
Der Einladung vonseiten Gottes kann unsererseits nur Umkehr entsprechen. Der empfindsame Martin Luther hat das mit allen Fasern seines Herzens gespürt und diese Erfahrung in den steilen Ruf geprägt: All unser Leben muss Buße sein. Er meinte damit nicht, zum Wesen des Christseins gehöre die Leichenbittermiene und lauter Sündenangst. Im Gegenteil: Umkehr im Sinne Jesu, ist brennendes Licht, gesalbtes Angesicht, Musik und Tanz – denken Sie nur an das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Umkehr im Sinne Jesu. ist Freude, Freude des Kindes, das heimkehren darf und in Gott seinen liebenden Vater wiedererkennt. Umkehr beginnt also nicht erst im Beichtstuhl. Sie fängt ganz anders an: nämlich damit, dass wir aus ehrlichstem Herzen, Wort für Wort das Vater unser beten: Abba, lieber Vater, dein Reich komme. Das ist das Erste und Wesentlichste der Umkehr, alles andere: Reue, Bekenntnis und Vergebung wird uns dann dazugegeben.
So einfach ist die Umkehr. So einfach ist der Weg zum Fest. Und dies umso mehr, als auch noch ein Kriterium für die Echtheit dieser Heimkehr in unsere Hände gelegt ist, denn: echt ist Umkehr nur und nur dann, wenn sie spürbar unser Leben erneuert. Wo immer ein Mensch ohne Gewinn – scheinbar draufzahlend – für einen anderen einsteht; wo einer – scheinbar getreten – um des Friedens willen auf das letzte Wort verzichtet; wo einer eigene Schuld eingesteht und um Vergebung zu bitten vermag – überall da geschieht solche Erneuerung. Überall da leuchtet von Christus ermöglichtes Menschsein auf – der Stoff, aus dem die wahren Feste sind.
V
Als Matthäus dieses Gleichnis ein paar Jahrzehnte, nachdem Jesus es geprägt hatte, weitergab, da floss ihm unwillkürlich mit in die Feder, wie er die Durchsetzung der Botschaft Jesu erfuhr: Vor allem im Konflikt zwischen der Synagoge und der jungen Christen-Gemeinde. Wie auch anders: Die Etablierten und die Autoritäten schlugen aus, was Jesus von Gott mit Leib und Leben bezeugte. Fischer, kleine Handwerker, Bettler, Krüppel, Huren und Zöllner trauten dem Evangelium.
Matthäus fühlte sich in diesem Konflikt gewiss auf der richtigen Seite. Aber eines hat ihn dabei trotzdem beunruhigt: Als die Diener auf die Straßen hinausgingen, um die neuen Hochzeitsgäste einzuladen, da holten sie alle zusammen, Böse und Gute; mit ihnen füllte sich der Festsaal, erzählt das Gleichnis. Das entspricht genau dem, was Jesus auch sonst predigte vom himmlischen Vater, der regnen lässt über Guten und Bösen und gerade durch solche bedingungslose Zuwendung dem Sünder überhaupt erst die Möglichkeit auftut, ein anderer zu werden. Den doch so sehr auf die rechte und ganze Erfüllung des Gesetzes bedachten Matthäus – und nicht nur ihn – wird wohl irritiert haben zu erleben, wie das Gleichnis Jesu in der jungen Kirche sich in Wirklichkeit übersetzte: Da kamen tatsächlich Gute und Böse zusammen und gewiss nicht jeder der Sünder rutschte gleich zerknirscht auf den Knien daher, weil Bekehrungsprozesse Zeit und Geduld – und mehr als genug davon – bedürfen und manches Fehlverhalten vielleicht gar nicht zu ändern, sondern nur in Erbarmen und Güte mit durchzutragen war. Das wohl hat Matthäus bewogen, dem Gleichnis Jesu fugenlos noch eben jene andere Geschichte anzufügen von dem Gast, der ohne Festgewand zu einer Hochzeit kam und eben, weil er sich in keiner Weise vorbereitet hatte, vom Gastgeber wieder hinausgeworfen wurde.
VI
Falsch lag – und liegt – Matthäus mit seiner Sorge gewiss nicht. Aber sie darf auch nicht die Einladung zum Fest an alle überblenden. Christliches Leben entfaltet sich sozusagen im Raum der Spannung zwischen beiden Geschichten: Zum Sondertarif nebenher mitnehmen lässt sich das Gottesreich nicht. Aber vielleicht sind wir öfter eingeladen, als wir meinen. Eingeladen, obwohl wir uns gar nicht zugehörig, nicht geeignet fühlen. Doch um dieses Gefühl geht es gar nicht. Es geht um’s Hingehen, um’s Tun, wo etwas oder jemand in unserem Lebenskreis danach ruft, das Gewohnte zu unterbrechen. Christen und Christinnen rechnen damit, dass sich dahinter Gott verbirgt und ein Fest bereitet hat.