Gottes Überschwänglichkeit
31. So C: Lk 19, 1-10
I
Aus den Tagen, als die DDR zusammenbrach, hätten sich Christen einen Namen merken müssen. Er ging damals durch ein paar Zeitungen. Heute kennt ihn schon keiner mehr: Uwe Holmer. Die letzten politischen Figuren des Regimes wurden mit Schimpf und Schande aus ihren Ämtern gejagt, am spektakulärsten verständlicherweise der Spitzenmann Erich Honecker. Denen im Westen, die ihm noch wenige Jahre zuvor den roten Teppich ausgelegt und innig die Hand geschüttelt hatten, galt er von heute auf morgen als Verbrecher, der umgehend vor Gericht gestellt gehört. Und die eigenen Genossen ließen ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Er stand buchstäblich auf der Straße. Uwe Holmer nahm die Honeckers auf. Uwe Holmer war evangelischer Pfarrer, Leiter der Hoffnungstaler Alten- und Behindertenanstalten in Lobetal, 20 km von Berlin entfernt. Der Pastor brachte Honecker nicht irgendwo in der Anstalt unter, denn die Wartezeit für die Aufnahme betrug zwei Jahre. Holmer räumte zwei Zimmer in seinem Privathaus, lieh seinen Gästen ein paar Möbel, Bücher von den Kindern. Holmer hatte absolut keinen Grund so zu handeln: Keines seiner zehn Kinder hatte – trotz glänzender Noten – die Oberschule besuchen dürfen. Weil sie Christen waren. Holmer handelte trotzdem so. War das dumm? War es christlich? Oder ist christlich soviel wie dumm?
II
Dieser Meinung waren hunderte von Briefschreibern, die in der Folgezeit bei Pastor Holmer statt Gnade Rache anmahnten. Etliche erklärten demonstrativ ihren Kirchenaustritt. Und das alles, weil ein Pfarrer ein Stück Evangelium wörtlich nahm. Seltsam. Aber nicht neu.
III
Lukas berichtet, dass immer wieder Zöllner und Sünder mit Jesus zusammenkamen. Und dass er sich mit ihnen abgab, bis zum Mahlhalten hin, was für fromme Juden schon ein mittlerer Skandal war. Nirgends steht, die wären gekommen, weil sie sich bekehrt hätten, oder sie wären alle als Bekehrte von ihm weggegangen. Die Frommen empörten sich darüber. Wörtlich schreibt Lukas an einer Stelle: „Sie murrten“ ein Wort, das jedem Juden wohlbekannt war aus den Geschichten vom Auszug aus Ägypten ins Gelobte Land hinüber. Ihre Vorfahren hatten dort auch „gemurrt“ gegen Gott, aus Misstrauen gegen ihn, und mit ihrem Murren den Einzug ins verheißene Land aufs Höchste gefährdet.
Genau vier Kapitel vor dem heutigen Evangelium, Jesus antwortet auf dieses Murren über sein Verhalten den Sündern gegenüber mit zwei Gleichnissen, dem vom verlorenen Schaf und dem von der verlorengegangenen Drachme. Beide kennen wir gut – und überhören darum ihren Doppelsinn: Wenn einer von euch hundert Schafe hat und eins davon verliert, lässt er dann nicht die neunundneunzig in der Steppe zurück und geht dem verlorenen nach, bis er es findet?, fragt Jesus. Nur, wer mit seiner Frage auf ein „Ja“ hinaus will, fragt so. Auf die Antwort „ja“ hinauswollen aber muss nur, wer diese Antwort seitens seiner Zuhörer nicht von selbst und nicht selbstverständlich erhält. Darin besteht die kritische Doppelsinnigkeit des Gleichnisses. Indem Jesus so spricht, dass die Hörer gar nichts anderes können, als „ja“ zu sagen, deckt er ihnen – wortlos zwischen den Zeilen – auf, dass in ihnen zutiefst eigentlich ein „nein“ bereitliegt. Die Art, wie Menschen normalerweise handeln in solchen Fällen, verrät das ja auch ungeschminkt: Denn kaum ein Hirt wird das Risiko eingehen, wegen eines davon gelaufenen Tieres die 99 anderen unbewacht mitten in der Steppe stehen zulassen. Er wird stattdessen die Zäune höher machen, den Pferch besser schließen, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt. Und das davongelaufene Tier, wenn’s denn nicht zufällig von selber wieder in die Nähe kommt, das wird abgeschrieben. So spricht Jesus zu den Frommen, die an seinem Verhalten zu Sündern, zu Fortgelaufenen Anstoß nehmen. Das Gleichnis besitzt seine kritische Spitze heute noch immer und gewiss nicht weniger als damals. Und wahrlich nicht nur, wenn’s um die sogenannten Fernstehenden geht. Da reicht schon ein einfacher Meinungsunterschied. Im Gleichnis der Hirt bemüht sich um das Weggegangene ganz besonders, und mehr als die anderen. Da kommt die Weltfremdheit des Gleichnisses her. Und sein Fortgang bestätigt das nur: Der Hirt findet das Schaf. Und er treibt es nicht mit Stockhieben und Schimpfworten zurück, sondern trägt es auf seinen Schultern nach Haus. Freude ist ihm die Last dabei. So sehr, dass er daheim angekommen die Freunde und Nachbarn zusammenruft, dass sie seine Freude teilen. Solcher Überschwang, nur weil etwas wieder in Ordnung gebracht ist, was doch eigentlich gar nicht hätte sein dürfen. Und das Murren der Pharisäer und Schriftgelehrten wird sich mit Gewissheit nicht besänftigen durch die Herzlichkeit, die Jesus mit dem Gleichnis denen zuerkennt, die doch eigentlich eher das Gegenteil verdient hätten. Aber gerade so weltfremd verhält es sich im Himmel – denn diese Unverhältnismäßigkeit, das ist Gott. Und jeder, jeder der lebt von ihr. Der Gerechte und der Sünder, der ganz besonders. Und darum ist Gottes Freude besonders groß, wenn einer von ihnen sich diesen Überschwang der Sorge Gottes gefallen lässt. Wer weiß, ob er sich nicht von ihm zur Umkehr besiegen lässt. Pastor Holmer hat gleichnishaft gehandelt. Ob sich Herr und Frau Honecker darob bekehrt haben werden? Das geht uns nichts an, sondern Gott allein. Aber Pastor Holmer hat gleichnishaft gehandelt. Und das geht uns an.
IV
Ein ganz ähnliches Gleichnis erzählt Jesus im heutigen Evangelium nicht, sondern er inszeniert es buchstäblich. Da ist in Jericho der Oberzollpächter Zachäus. Ausdrücklich heißt es von ihm: Er war sehr reich – und klar, warum: Weil er an der Zollschranke, die er von den verhassten Römern in Kommission übernommen hatte, seinen eigenen Landsleuten die letzten Drachmen abpresste, dieser verdammte Kollaborateur, dieses Ekelpaket. Alle schnitten den widerlichen Geldsack, wo immer sie nur konnten.
Als Jesus eines Tages vorbeikommt, klettert der kleinwüchsige Zachäus auf einen Baum, um diesen Jesus wenigstens aus der Ferne zu sehen. Und nun passiert es. Jesus geht von sich aus auf den Zachäus zu, so als ob er ihn schon lange kennte. Jesus wartet nicht, bis Zachäus irgendwann einmal demütig zu Kreuz gekrochen kommt. Er geht zu ihm, aber nicht, um ihm eine Moralpredigt zu halten und Besserung zu fordern, damit er, der Sünder, würdig sei, ihm in die Augen zu schauen, sondern um ihm jetzt seine Nähe und Zuwendung zu schenken, mit ihm sogar Tischgemeinschaft zu halten, Zeichen inniger Zusammengehörigkeit für jeden Juden bis heute. Hat Jesus damit die Sünden des Zöllners verharmlost, gar gutgeheißen? Bei Gott, nein! Aber: Er hat zuerst einmal „Ja“ gesagt zu Zachäus, dem Sünder, wie er jetzt ist, mitsamt seiner Schuld. Denn Jesus weiß, was der Mensch zuerst braucht, damit er überhaupt umkehren und ein anderer werden kann: Zachäus hat in der Begegnung mit Jesus das erste Mal wieder erfahren, wie es ist, nicht gehasst, nicht verachtet, nicht geschnitten zu werden. Er hat zum ersten Mal wieder gefühlt, was es bedeutet, angenommen und geliebt zu sein. Das hat den sündigen Zachäus überhaupt erst einmal frei gemacht, umzukehren und einen neuen Anfang zu machen.
V
Und Zachäus hat ihn gemacht, diesen neuen Anfang: Die Hälfte seines Vermögen will er den Armen stiften und zu viel Gefordertes vierfach zurückerstatten. An dieser Reaktion wird offenkundig, dass Zachäus zutiefst verstanden hat, was ihm widerfahren ist: Denn in seiner Bereitschaft, Schaden nicht nur auszugleichen, sondern Wiedergutmachung im Übermaß –vierfach– gut zu machen, da spiegelt sich im Medium seines gelebten Lebens jene ungeschuldete Überschwänglichkeit wieder, die ihm, dem Sünder, durch Jesus von Seiten Gottes zuteil wurde und aus dem Gefängnis seines Sünderseins befreit hat.
VI
Genau besehen müssten wir an dieser Stelle auch gleich noch das Gleichnis vom barmherzigen Vater lesen, das eigentlich besser „Gleichnis vom schwierigen Erstgeborenen“ heißen sollte. Denn jedes Mal, schon beim Gleichnis vom verlorenen Schaf und der verlorenen Drachme, bei diesem dritten Gleichnis und erst recht bei der Begegnung mit Zachäus ist der schwierige Punkt nicht das Sündersein der Sünder, nicht der Akt ihrer Bekehrung, sondern – die Reaktion derer, die sich selbst für gerecht, für Nicht-Sünder halten, und darum der felsenfesten Überzeugung sind, ihrerseits jener Zuvorkommenheit Gottes gar nicht zu bedürfen, dafür aber mit um so mehr Recht über die anderen da, die da draußen, urteilen zu dürfen.
All diese Passagen des Lukas-Evangeliums sind darum so etwas wie Exerzitien, also Einübung christlicher Feinfühligkeit. Vom Reich Gottes, in dem das gilt, was die Gleichnisse und Taten versinnbilden, hat Jesus nicht wie von einem fernen Traum geredet. Er hat sein Kommen angesagt, – das es unmittelbar bevorstehe. Und in seinem eigenen Handeln ist es auch angebrochen. Sein Umgang mit den Sündern bezeugt es. Der Grund dafür: Wie im Himmel, will Gott, dass es auch auf Erden sei. Wann immer wir das Vaterunser beten – wie auch hernach gleich – sagen also wir „ja“ auf Jesu Gleichnisfrage, ob wir denn so tun wie der Hirte und die Frau mit der Drachme. Und das heutige Evangelium fragt uns gleichsam ohne Worte und zwischen den Zeilen: Freust du Dich mit mir über den Zachäus? Freust Du Dich wirklich? Und machen wir uns ja nichts vor, das kann uns in Situationen bringen, die uns durch und durch gehen. Was ist denn etwa, wenn es um jemanden geht, der etwas getan hat, was wir verabscheuen, der aber dennoch den Weg heraus aus seiner Verstrickung gefunden hat? So etwas gibt es, höre ich von den Fachleuten, etwa auch im Zusammenhang der Missbrauchsfälle, die die Kirche seit Monaten erschüttern, und zwar nicht einmal selten.
Und dann freuen, dass einer herausgefunden hat und wieder ganz dazugehören kann? Wer würde da nicht im ersten Moment den Atem anhalten? Und dennoch gilt: Missgönnte Barmherzigkeit zerstörte die selbst schon empfangene. Über jedes Gleichnis, jeden Akt der Güte Gottes froh zu sein, steht dem Christen, der Christin besser an, und machte sie, machte ihn selbst zum Gleichnis des Gleichnisses. Die Feier der Eucharistie ist auch so ein Gleichnis – und ein ganz besonderes dazu. Recht begangen werden wir Sie haben, wenn wir barmherziger, wenn wir gütiger weggehen als wir gekommen sind. Das wünsche ich Ihnen – jeden Sonntag neu.