Von Gottes Schönheit 

ARGE Dog/Fth Freising 2010

I
Wir machen uns in diesen Tagen Gedanken über das Ästhetische. Schon vor knapp 20 Jahren kam das Thema auf die Agenda unserer Arbeitsgemeinschaft. Eigentlich ist nicht zu begreifen, warum es so lange gedauert hat, bis wir uns nun mit der Materie wirklich befassen, zumal doch im Fall des Christentums eine Beziehung sui generis zum Ästhetischen vorliegt.

Das hat natürlich mit der Inkarnation, der Fleischwerdung Gottes als der christlichen Basis-Überzeugung zu tun. Auf dem Mutterboden des Christentums, also den jüdischen Glaubenstraditionen und ihrer Sedimentierung im Tenach, der jüdischen Bibel, begegnet dem Ästhetischen, den Bildern und ihrem Anschauen, zunächst eine ausgesprochene Reserve. Für sie steht das Stichwort „Bilderverbot“. Wichtiger ist da zunächst das Hören. Aus gutem Grund sprach Erich Zenger von den für Israel normativen Hörbildern.  Eher spät tritt eine Tendenz zur Visualisierung hinzu, die mit dem Begriff der „kabod“ (Herrlichkeit) auch den des Erscheinens konnotiert.

Deutlich anders im Raum der christlichen Traditionen von Anfang an: 227 Mal begegnen im Neuen Testament, dieser schmalen Broschüre, die Worte „doxa“ (Herrlichkeit, Erscheinung) und „doxazein“ (erscheinen, aufstrahlen). Mehr als alle anderen Bücher des Neuen Testaments bestimmt das Johannes-Evangelium eine ästhetische Achse: Von Anfang bis Ende redet es vom Menschen Jesus aus Nazaret als dem, an dem die „doxa“ Gottes aufleuchtet, von 1,14 – 13,31. 1,14 heißt es:
„Und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt,
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit [wörtlicher: voll Charme und Treue; K. M.].“ (Joh 1,14)
Und 13,31 steht:
„Als Judas [beim Abendmahl; K. M.] hinausgegangen war, sagte Jesus: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist in ihm verherrlicht“ (Joh 13,31) –
weshalb ja auch für Johannes der Gekreuzigte, der Verherrlichte, also die Herrlichkeit Gottes Versinnbildende ist, der die auf ihn Schauenden ergreift, so dass für Johannes Karfreitag, Ostermorgen und Pfingsttag ineins fallen.

II
Es versteht sich von selbst, dass dieser durch den Materialismus der Fleischwerdung Gottes freigesetzte ästhetische Grundzug des christlichen Bekenntnisses fundamentale Folgen für das Verständnis des Religiösen wie des Ästhetischen nach sich ziehen musste. Es gibt bis dato keine sinnlichere Religion als das Christentum. Gelegentliche anti-sinnliche Revolten – wie etwa der Ikonoklasmus, die Zerstörung religiöser Bilder in der Ostkirche des 8. und 9. Jahrhunderts, aber auch im Westen unter dem Vorzeichen des Calvinismus und der Französischen Revolution – bestätigen das nur. Umgekehrt hat das Ästhetische im Horizont des christlichen Kerygmas einen nicht zu überschätzenden Gewichtszuwachs erfahren.

III
Vielleicht wird das nirgends deutlicher als an Karl Barth. Barth hat die „Dialektische Theologie“ mitbegründet. Dieser gilt alle Religion – alles Opfern, Feiern, Beten – als in sich bereits sündhafte Anmaßung des Menschen, sich des unverfüglichen Gottes zu bemächtigen. Und vor allem das menschliche Reden von Gott am Leitfaden von Ähnlichkeiten mit dem Kreatürlichen – also das seinem Kern nach ästhetische Prinzip der Analogie – erachtet Barth als die „Erfindung des Antichrist“ , deretwegen man nach seiner Ansicht nicht katholisch werden kann, wobei ihm alle anderen Gründe dafür, nicht katholisch zu werden, im Vergleich dazu als – nochmals wörtlich – „kurzsichtig und unernsthaft“  gelten. Doch ebendieser Karl Barth, der solches zu Protokoll gibt, schreibt im gleichen Werk, in dessen Vorwort die eben reportierte Invektive gegen die Analogie steht, etwas später einen knapp 50 Seiten langen Traktat über Gottes Schönheit.  

Er beschließt seine Ausführungen über „Die Wirklichkeit Gottes“, also die systematische Gotteslehre, mit einem umfänglichen Kapitel über „Gottes Ewigkeit und Herrlichkeit“. Und in dessen Schlussteil wiederum kommt er zur wirklichen Durchklärung des Begriffs der Herrlichkeit Gottes auf das Schöne zurück:
„Der Begriff, der sich hier in unmittelbarer Nähe befindet und der zur Bezeichnung des uns noch fehlenden Momentes des Begriffs der Herrlichkeit legitim und dienlich sein dürfte, ist der Begriff der Schönheit. Dürfen und müssen wir sagen, daß Gott schön ist, dann sagen wir eben damit, wie er erleuchtet, überführt, überzeugt. Wir bezeichnen dann nicht bloß die nackte Tatsache seiner Offenbarung und auch nicht bloß deren Gewalt als solche, sondern die Form und Gestalt, in der sie Tatsache ist und Gewalt hat. Wir sagen dann: Gott hat jene für sich selbst sprechende, jene gewinnende und überwindende Überlegenheit und Anziehungskraft eben darin, daß er schön ist – göttlich, in seiner ihm und ihm allein eigenen Weise schön, schön als die unerreichbare Urschönheit, aber gerade so wirklich schön und eben darum nicht nur als ein Faktum, nicht nur als eine Kraft, oder vielmehr: als Faktum und Kraft in der Weise, daß er sich durchsetzt als der, der Wohlgefallen erregt, Begehren schafft und mit Genuß belohnt und das damit, daß er wohlgefällig, begehrenswert und genußvoll ist: der Wohlgefällige, Begehrenswerte und Genußvolle, das zuerst und zuletzt allein Wohlgefällige, Begehrenswerte und Genuß-volle. Gott liebt uns als der, der als Gott liebenswürdig ist. Das sagen wir, wenn wir sagen, daß Gott schön ist.“
Außerhalb des Horizonts des Inkarnationsgedankens wäre es Barth nach eigenem ausdrücklichen Bekenntnis nicht möglich gewesen, von so etwas wie der Schönheit Gottes zu sprechen, sofern
„[...] wir es hier mit dem Zentrum und Ziel und so auch mit dem verborgenen Anfang aller Werke Gottes zu tun haben.“  

IV
Für Barth geschieht in der Inkarnation eine Selbstunterscheidung Gottes in Gestalt einer unbegreiflichen Erniedrigung Gottes zum Menschen, die zugleich nichts anderes als eine unbegreifliche Erhöhung des Menschen zu sich selber ist und als solche die Herrlichkeit Gottes repräsentiert.  Barths eigene Konsequenzen dieses Befunds führen sozusagen senkrecht in das Innerste der christlichen Gottrede, also die Trinität. Derzeit erhält Barths systematisch-spekulative Beanspruchung der Ästhetik für eine Dogmatik so etwas wie ein empirisches Gegenstück: Alex Stock ist seit vielen Jahren daran, seine Poetische Dogmatik vorzulegen, die in einer schier ungeheuren Wolke von Zeugnissen den inneren Zusammenhang von Ästhetik, Evangelium und Humanität konkretisiert.  

Ich bin mir ziemlich sicher: Uns steht in der theologischen Ästhetik noch bevor, was der philosophischen Ästhetik in der religionsphilosophischen Sattelzeit ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einst widerfuhr: In wenigen Jahrzehnten von einer erkenntnistheoretischen Hilfsdisziplin zum Zentraltraktat der Philosophie emporzu-schießen. Und wenn es katholisch einen Ort für diese Nobilitierung der Ästhetik gibt, dann die Liturgie mit allem, was zu ihr gehört. Würden wir dem gerecht, folgte daraus nicht zuletzt eminent Politisches: Nicht nur die ganze Gipsmadonnen-Romantik der Pius-Brüder erledigte sich von selbst. Sondern ungleich bedeutsamer täte sich für uns ein ganz neuer Weg für den Dialog mit dem Islam auf, denn hinter dessen uns Westler so beirrenden wie betörenden Rezitationskunst des Kor’an steht nichts anderes als die bis in die Herz-mitte gläubiger Muslime reichende Überzeugung: Gott ist schön. Und kein Zufall, dass kein anderer als der im vergangenen Juli verstorbene Aufklärer Nasr Hamid Abu Zaid es war, der diese Grundwahrheit seines Glaubens gegen alles Eiferertum bis zu persönlichen Opfern verteidigt und vergegenwärtigt hat. Allein solche Tiefenströme des Geistes schon wären es wert, dem Schönen in unserer Theologie endlich einzuräumen, was ihm gebührt.