Gott am Rand

4. Sonntag C: Lk 4, 21-30

I
In der Heiligen Nacht feiern die Christen den Geburtstag dessen, nach dem sie sich nennen. Für viele ist diese Nacht anders als die anderen Nächte im Jahr. Erinnerungen an Heiligabende in der Kinderzeit mögen wach werden – und mit ihnen die Sehnsucht,  über das eigene Leben mit seinen Ecken und Kanten und den wund geriebenen Stellen möge sich etwas breiten so warm wie das Licht der Kerzen, die die Glaubenden in dieser Nacht entzünden. Alle diese Gefühle haben ihr Recht. Und doch ist Weihnachten viel, viel mehr. Weihnachten ist nicht nur Regung. Weihnachten ist auf-regend. Man vergisst das oft, weil die Botschaft der Heiligen Nacht so vertraut klingt. Das Aufregende an ihr entdeckt wieder, wer hinhört, wie uns das Evangelium der Christnacht die Weihnachtsgeschichte erzählt – und vor allem, wie das ganze weitergeht.

II
Schon der Anfang verblüfft: An ihm steht nicht Gott, stehen nicht Maria und Josef oder das Kind, sondern: Augustus, der Kaiser. Er zieht die Fäden. Er gibt den Befehl zu einer Volkszählung. Das macht er nicht aus Neugier, er hat seine Gründe dafür. Militärische und finanzielle: Sind die Bürger erfasst, weiß er, mit wie vielen Soldaten er rechnen, wie viel an Steuern er eintreiben kann. Er schreibt vor, schreibt die Menschen in seine Listen ein und so verfügt er über sie. Das jüdische Volk damals – kein Wunder – hasste diese Zählerei der römischen Besatzungsmacht. Gefährliche Spannung lag in der Luft, wenn sie der Kaiser befahl. Aber er hatte das Sagen.

Sein Befehl treibt auch Maria und Josef auf den Weg – so erzählt Lukas. Und der Weg der beiden ist für damaliges Verständnis keine Reise, sondern ein Skandal. Unerhört, dass sie miteinander reisen, sie, die nicht verheiratet, nur verlobt sind. Und noch unerhörter, dass die Unverheiratete ein Kind erwartet. So etwas hieß damals noch viel mehr als heute: am Rand, außerhalb der Gesellschaft stehen – asozial sein. So erzählt das Evangelium vom Anfang des Lebens Jesu. Eine marginale Angelegenheit.

Das Aufregende ist noch nicht zu Ende: Sollte man nicht erwarten, die Geburt des Christuskindes trage sich so zu, dass wenigstens durch sie erahnbar werde, was da geschieht? Aber nichts davon: Einen ganzen Satz hat das Evangelium dafür übrig: Für Maria kam die Zeit der Niederkunft und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Ein Satz, der auf viele von uns und unsere Mütter genauso passte. Die Geburt des Christuskindes: Normal. Normal bis zur Bedeutungslosigkeit. So bedeutungslos, dass der gerade Mutter Gewordenen und ihrem Neugeborenen verweigert wird, was in dieser Lage wohl selbstverständlich gewesen wäre: Sie muss das Kind in einen Futtertrog legen und bei den Tieren hausen, weil dort, wo Menschen zu leben pflegen, sich kein Platz für sie findet. So “draußen” fängt Jesu Leben an. Weiter draußen geht gar nicht mehr. Der Kaiser, die guten Sitten, die Bräuche schreiben vor. Sie schreiben Zeile um Zeile den Text der Welt. Jesus ist eine Randbemerkung zu diesem Text. Was bedeutet sie?

III    
Das lässt das Evangelium als erste die Hirten entdecken, diese Wanderer, Wächter und Sucher von Wesen. Menschen, die’s nirgends hält; Menschen, die keinen sonderlich guten Ruf genießen und von denen man dennoch irgendwie ahnt, dass sie wissen, dass sie mehr wissen als andere vom Leben und von der Welt. Sie sind die Ersten, denen ein Licht aufgeht. Der Engel des Herrn tritt zu ihnen, sagt das Evangelium dafür. Engel sind so etwas wie Gottes Gedanken in einer Gestalt, wie Menschen sie verstehen können. Und der Engel sagt den Hirten, den Suchern: Das armselige Kind in der Krippe, der Menschenwurm, der nichts hat, nichts kann, nichts leistet, der ist Gottes rettendes Zeichen dafür, wie es gut wird mit uns Menschenkindern. Das Kind in den Windeln ist ein Gleichnis dafür, wie es in Wahrheit um uns ist. Das Kind im Stall von Bethlehem versinnbildet, wie Gott uns gemeint hat. Weil ihm das wichtig ist, sagt er es uns persönlich. Je mehr ich einen mag, desto mehr sage ich ihm Wichtiges nicht mit Worten, sondern dadurch, dass ich selbst bin und tue, was ich ihm nahebringen will. Weil Christen glauben, dass Gott uns Menschen liebt, bekennen sie auch: Im Kind von Betlehem ist Gott Mensch geworden. Er war sich nicht zu gut, sich so klein wie in der Krippe zu machen, damit wir begreifen, wer wir sind.

Jesus ist nur eine Randbemerkung zu der Welt der Augustusse, der Gesetze und Gepflogenheiten unter Menschen. Randbemerkungen passen nicht zu dem dazu, was geschrieben steht. Sie stellen stattdessen in Frage, melden Widerspruch an. Christen sind überzeugt: Gott selbst hat diese Randbemerkung “Jesus” geschrieben. Er wollte sagen: Nicht aufs Haben, aufs Können, aufs Leisten musst du pochen; Dasein wie ein Kind – im Vertrauen, dass du gemocht bist und gemocht werden musst einfach deswegen, weil es dich gibt: So fangen Menschen an, Menschen zu sein. Weder Rang noch Rasse zählen dabei. Wenn Gott persönlich auf Erden um unseretwillen so anfängt, ist es dann zuwenig, wenn auch wir so anfangen mit uns? Das scheinbar Unbedeutendste unseres ganzen Lebens – das es uns halt gibt –, ist für Gott das Wichtigste. Sagen wir in Gottes Namen auch “ja” dazu, also “ja” zu uns, kehrt jener Friede ein, den die Engel im Weihnachtsevangelium ausrufen. Wie auch anders! Kann ich mit mir vergänglichem Erdenwesen einverstanden sein, weil Gott selbst es schon immer ist, vermag ich ohne Angst und Abwehr auch zu meinesgleichen “ja” zu sagen. So aufregend einfach macht Weihnachten unser Leben. Es fängt am Rand an. Manchmal geht uns das auf. Dann kommen wir uns, so an den Rand gesetzt, armselig vor. Das ist richtig. Aber eben das lehrt uns auch die aufregende Wahrheit, wie ungeheuer wenig es braucht, um selig zu sein. Es genügt, dass es mich gibt, um vor allen Mächten und Mächtigen der Welt zu bestehen, um alle Übermächtigung als Unrecht zu entlarven. Ich bin – das ist gewiss wenig. Aber es ist genug, um geliebt zu sein. Arm-seligkeit. Christsein heißt: den Bindestrich zwischen dem “arm” und dem “selig” nicht zu vergessen. Er ist das Geheimnis dieser Nacht, die die Christen die “Heilige” nennen. Und er verbindet uns mit dem Himmel und befreit dazu, dass wir einander menschlich begegnen.

IV    
Und jetzt fragen sie mich mit bestem Recht, warum ich Ihnen vier Wochen nach Weihnachten nochmals eine Weihnachtspredigt halte. Ganz einfach: Weil uns das heutige Evangelium sagt, dass das, was an Weihnachten geschah, sozusagen der Cantus firmus des ganzen weiteren Lebens Jesu ist.

Lukas erzählt uns, wie Jesus erstmals in seiner Heimatstadt öffentlich auftritt. Man hatte schon gehört von ihm – von seinen faszinierenden Predigten und auch von den Taten anderswo. Und jetzt kommt er heim. Am Sabbat beim Synagogen-Gottesdienst tut er, was jedem erwachsenen Juden zu tun erlaubt war: Er liest ein Stück aus dem Alten Testament vor und legt es aus. Prophetenworte liest er vor, die das ersehnte Kommen eines von Gott gesandten Retters verheißen, – eines, der allem beschädigten Leben aufhelfen und Freiheit schenken wird. Jesu Auslegung dieser uralten Verheißungen besteht aus einem einzigen Satz: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Heute! In dieser Primizpredigt von Nazaret wird das Gotteswort des Alten Bundes zum Evangelium, zur Proklamation einer guten Nachricht.

Und frappierend: Die Leute scheinen auf diese Ansage geradezu gewartet zu haben: Seine Rede fand bei allen Beifall, berichtet Lukas. Natürlich staunen sie, sind wohl auch fassungslos. Woher hat er das alles? Wie kommt er dazu, so zu reden? Ist er nicht einer von uns? Hier aufgewachsen, jedem bekannt von Kindesbeinen an. Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? Auf seltsame Weise zweideutig, nämlich gespannt und irritiert zugleich wird ihr Staunen gewesen sein.

V
Doch Jesu Reaktion auf den Empfang in seiner Heimatgemeinde macht die Situation mit ein paar Sätzen eindeutig. Mit einem Sprichwort und zwei Beispielen entlarvt er das Staunen der Leute: Ihr Beifall ist nichts anderes als Ausdruck der Erwartung, dass er jetzt für sie, für die Seinen, Wohltätiges ins Werk setzen wird. Was du rund um Kafarnaum getan hast: Brot vermehrt, Kranke geheilt, Dämonen ausgetrieben, das wirst – wirst!!!! – du jetzt auch für uns tun. Bitte sehr. Daher ihr Wohlgefallen an dem seltsamen Prediger. Das „Arzt, heile dich selbst!“ aus dem Sprichwort hatte den Nagel auf den Kopf getroffen: Arzt, heile uns! Sonst bist du keiner – so treten Jesus seine Landsleute entgegen. Dass er sie mit seinem Hinweis auf Elija und Elischa dann auch noch daran erinnert, dass immer schon gerade die, die Wunder Gottes erfahren haben, die nicht einmal auf den Gedanken gekommen wären, darauf einen Anspruch zu haben – und dass den andern, den auf Recht und Billigkeit Pochenden, das Wunderbare verschlossen blieb, – das macht das Fass voll. Jesus stellt seine Zuhörer in ihrem Zweckmäßigkeitsdenken bloß, in dem sich auch noch das Heilige – Gott selbst – dienstbar zu machen suchen. Und das ist so beschämend, dass der anfängliche Beifall von einem Augenblick zum andern umschlägt in blinde Wut gegen den, der das aufdeckt. Aus den Augen muss der, der daran schuld ist, dass der ganze Egoismus und die Erbärmlichkeit des gelebten Werktags – auch des religiösen Werktags – so zutage tritt: Und sie sprangen auf und trieben Jesus zur Stadt hinaus und brachten ihn an den Rand des Berges, um ihn hinabzustürzen. Jesus am Rande! Schier unglaublich: Nach dem siebten Satz seiner Antrittspredigt schon wird das Evangelium zur Passionsgeschichte.

VI
In dem Augenblick, da sich die Einladung der Frohen Botschaft nicht mehr verwenden lässt zum Nutzen der eigenen Lebenspläne, wird der Bote dieser Botschaft marginalisiert, an den Rand hinausgedrängt. Dass Jesus drei Jahre später auf Golgatha draußen am Kreuz aus der Welt hinausgeworfen wird, außerhalb des Tores, wie der Hebräerbrief sagt (Hebr 13, 12-13), ist darum gar nichts Überraschendes mehr, sondern nur noch Vollendung dessen, was mit der Predigt von Nazareth seinen Anfang nahm. Es gehört untrennbar zum Geschick Jesu, dort wo er sein Herzensanliegen auch nur ausspricht, an den Rand getrieben, verdrängt, zum Schweigen gebracht zu werden. Die Prophetenworte aus Jesu Mund in der Synagoge von Nazaret benennen diese Anliegen, die Mitte seiner Sendung in absoluter Unzweideutigkeit: gute Nachricht für die Armen bringen, Entlassung den Gefangenen, Freiheit den Zerschlagenen. Das heißt: allem kurzgehaltenen und zu kurz kommenden Leben beispringen, ihm aufhelfen, alles Leben seiner unentwindbaren Würde, seines Selbststandes, seiner Freiheit zu versichern, die es von Gott her besitzt. – Logisch, dass diese Ansage als unsägliche Provokation wirkte überall dort, wo ein Oben und Unten, ein Treten und Getretenwerden gilt, wo die einen – oft raffiniert getarnt auf Kosten der anderen leben und Kosten und Nutzen und Macht den Ton angeben. Evangelium heißt doch soviel wie: Mensch, du bist! Das genügt! Ich habe dich gewollt. Lebe! Das Auftreten Jesu ist die göttliche – die definitive – Inkraftsetzung dieser Zusage. Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt. Was Wunder, dass es in diesem Heute zum ersten Hinauswurf Jesu kommen muss in einer Welt, die weiß Gott viel von Freiheit und Würde schwätzt, beides aber umso weniger gewährt. Heute hat es sich erfüllt! Heute ist immer heute. Auch heute, Lukas hat uns nur den Normalfall der Konfrontation von Welt und Evangelium erzählt. Das Heute von Nazaret ist immer noch heute. Auch heute ist es heute.