Geheimnis der Geschichte
6. OSo C: Offb 5, 11-14 (erweitert)
I
Es ist wohl das rätselhafteste, das verstörendste Buch der ganzen Bibel. Dennoch stammen aus ihm die zweiten Lesungen an den Ostersonntagen des gegenwärtigen Lesejahres: die Offenbarung des Johannes oder Apokalypse. Der Seher, von dem wir nicht wirklich wissen, ob er mit dem Evangelisten Johannes identisch ist, spricht so gut wie nur in Sinnbildern. Die schöpft er aus der jüdischen Tradition genauso wie aus der politischen Theologie seiner Zeit, also der Epoche des Imperium Romanum. Kritiker des Christentums verweisen gern auf die Apokalypse, um die angebliche Liebes- und Friedensbotschaft des Christentums Lügen zu strafen: Wimmle es doch geradezu, so sagen sie, auf diesen letzten Seiten der Bibel von Kampf- und Kriegsszenen, von Strömen aus Blut, die einem radikalen Freund-Feind-Schema entspringen.
II
Das ist richtig, aber man muss dazu nehmen, in welcher Situation diese Seiten niedergeschrieben sind: In der Phase einer brutalen Verfolgung der jungen, kleinen, ohnmächtigen Gemeinde der Jesus-Leute durch die politische Macht. Diese Bedrängnis presst ihnen diese Kampfbilder zwischen Gut und Böse gleichsam aus der Seele, lässt sie zu einer Sprache Zuflucht nehmen, in der sie die Gegner, die ihnen auf Leben und Tod nachstellen, buchstäblich niederbeten. Und könnte ihnen das einer verdenken? Würden wir jemanden, der im KZ, den Tod vor Augen, fleht: Gott vernichte sie, brenn sie nieder, diese verfluchten Nazis -, würden wir den oder die verurteilen? Gott bewahre uns, die wir unser Leben seit Jahrzehnten schon in einer geradezu unverschämten Ungefährdetheit führen dürfen, vor solchem Dünkel!
III
Dieses Gegenargument aber ist gar nicht das Entscheidende. Vielmehr geht der Gewaltvorwurf der Kritiker deswegen im Grundsätzlichen fehl, weil die Apokalypse gar nicht der Rachsucht der Kleingehaltenen und zu kurz Kommenden entspringt, sondern einer gänzlich anderen Leitvision folgt. Davon ist in der heutigen zweiten Lesung die Rede: Sie erzählt uns die Vision von der Buchentsiegelung und der Machtübergabe an das Lamm. Wer verstehen will, was in dieser ungeheuer dichten Bildrede einbegriffen ist, muss freilich eine Voraussetzung mitbringen: Er, sie muss alle Illusionen über den Sinn der Welt, über den Menschen und sich selbst abgelegt haben. Alle. Wer das wagt, dem und der wird in dieser Vision etwas aufstrahlen, was tröstet und beseligt.
IV
Freilich: Illusionen ablegen, auch die noch über sich selbst – ungleich leichter gesagt als getan! Was das bedeutet, kann man in einem Brief Fjodor Dostojewskijs nachlesen, den man sein „Credo“ nennt. Der Dichter war wegen der Deklamation eines politisch-kritischen Textes zum Tod verurteilt worden. Am Richtplatz wurde er in letzter Sekunde von Zar Nikolaus I. zu Lagerhaft in Sibirien begnadigt. Nach seiner Entlassung schrieb er an die Witwe eines politischen Häftlings, der ihm dort zum Freund geworden war:
Weil ich selbst vieles erlebt und durchlitten habe, sage ich Ihnen, dass man in solchen Minuten nach Glauben dürstet und ihn auch findet, eigentlich deshalb, weil die Wahrheit im Unglück deutlicher wird. Ich sage Ihnen über mich selbst, dass ich Kind unserer Zeit bin, ein Kind des Unglaubens und des Zweifels, bis heute, bis zum Grabe. Welche furchtbaren Qualen kostete und kostet mich noch immer dieser Durst nach Glauben, der unsere Stärke in meiner Seele ist, je zahlreicher die Gegenbeweise in mir werden. Und doch schenkt mir Gott manchmal Minuten, in denen ich völlig ruhig bin. In diesen Minuten liebe ich und fühle mich von den anderen geliebt, und gerade in diesen Minuten bildete ich mir das Glaubensbekenntnis, in dem für mich alles klar und heilig ist. Dieses Bekenntnis ist sehr schlicht, hier ist es: Glauben, dass es nichts Schöneres, Tieferes, Sympathischeres, Vernünftigeres, Mutigeres als Christus gibt und nicht nur nicht gibt, sondern auch nicht geben kann, wie ich es mit eifersüchtiger Liebe sage. Mehr noch, würde mir jemand beweisen, dass Christus außerhalb der Wahrheit sei, und wenn die Wahrheit tatsächlich jenseits von Christus wäre, so hätte ich es vorgezogen, mit Christus statt mit der Wahrheit zu bleiben.
V
Erst in solcher Christus-Konzentration, die alles andere beiseite lässt, fängt auch unsere Vision aus der Apokalypse an, wirklich zu sprechen. Der Anfang könnte steiler nicht sein: Der Seher darf einen Blick in den himmlischen Thronsaal werfen. Und dort sieht er, wie Gott ein Buch in seiner Hand hält, eine Buchrolle, auf der Vorder- und Hinterseite beschrieben – Zeichen der Fülle ihres Inhalts –, versiegelt mit sieben Segeln. Das Ganze des Sinnes von Welt und Geschichte und die Zukunft von allem sind dort festgehalten.
Schon das ist eine Ansage, die es in sich hat, wenn man weiß, dass gerade so – mit einer Buchrolle in der Hand – in der Antike der Kaiser dargestellt wurde: Er ist es, der weiß, was Sache ist und alle Geschicke bestimmt. Dem hält die Apokalypse entgegen: Von wegen! Nicht der Kaiser gibt den Takt vor, sondern der Allherrscher: Gott selbst. Aber wenn das so ist: Was bestimmt Gott? Wer kann dieses Buch in Gottes Hand, also jenseits aller weltlichen Zugriffe öffnen?
So fragt ein gewaltiger Engel, seine Stimme ist gleichsam die Frage, die das Buch selbst darstellt. Aber niemand ist da, keine Himmelsmacht, kein Mensch, kein Teufel, der das Buch zu öffnen und zu lesen vermöchte. Versucht haben das Menschen immer wieder, gerade dort, wo es ihnen gelang, Weltmacht zu entfalten. Nehmen wir willkürliche Beispiele: Alexander der Große, Caesar, die Habsburger, Napoleon, die Kommunisten, die Nationalsozialisten, etliche der amerikanischen Präsidenten der Moderne. Und wenn sie es versuchten, scheiterten sie entweder oder richteten ein geschichtliches Desaster an.
Der Seher weint darüber, dass schier niemand vom Himmel bis in die Tiefen hinab das Buch zu lesen vermag. Erik Peterson, der große und bis heute kaum wahrgenommene Theologe der Apokalypse sagt zu dieser Stelle:
Wir verstehen den Sinn dieser Tränen. Es sind die Tränen, die die Kreatur weint, die das Schicksalsbuch in der Hand des Ewigen offen daliegen sieht und die doch nicht nach dem Schicksalsbuch zu greifen vermag. Es sind die Tränen, die wir alle schon einmal geweint haben und die wir immer wieder weinen werden.
Doch da tröstet einer der 24 Ältesten aus dem Thronrat den weinenden Seher. „Ältester“ ist ein Wink, der auf die Kirche deutet. Und die kündet von einem, der das Buch entsiegeln und lesen kann, weil er selber ewig ist wie der ewige Gott. Und dann sieht der Seher inmitten des himmlischen Hofstaats, wer das ist: Er sieht ein Lamm stehen, wie geschlachtet. „Stehen“ – „wie geschlachtet“. Da reicht jedes der einzelnen Worte in den Brunnen der biblischen Gottesgeschichte hinab: Lamm – das bevorzugte Opfertier des alten Bundes in der Liturgie der Versöhnung; „Lamm“ erinnert an Pesach, den Auszug aus Ägypten; das „Lamm“ in den jesajanischen Liedern vom Gottesknecht. Das Lamm, wie geschlachtet – es trägt eine Todeswunde. Aber es steht! Sein Löwe-Sein, von dem der Älteste gesprochen hatte, besteht nicht in Ausübung von Gewalt und Schrecken, sondern darin, dass es den Tod auf sich nimmt – und dennoch nicht vernichtet wird. Sein Löwe-Sein besteht in der ohnmächtigen Macht der Hingabe, der Liebe. Und alle Glaubenden wissen, wer gemeint ist: 28mal nennt die Apokalyse den Erlöser, den gekreuzigten Auferstandenen „das Lamm“.
VI
In dem Augenblick nun, da dieses Lamm von Gott das Schicksalsbuch empfängt, fällt der ganze himmlische Hofstaat nieder und singt ein „neues Lied“, wie es heißt, und tut damit das, was Israel jedes mal tat, wenn es eine neue, rettende Wundertat Gottes erleben durfte. Die vier Wesen, Vertreter des ganzen Kosmos, die 24 Ältesten, also die Glieder der Kirche, deren Glauben schon zum Schauen geworden ist – die Heiligen – und dann der ganze himmlische Hofstaat der Engelscharen stimmen eine Liturgie an, eine Dankfeier, weil jetzt offenbar geworden ist: Der Schlüssel zum Schicksalsbuch, zum Sinn aller Geschichte und allen Geschehens einschließlich der Zukunft – dieser Schlüssel liegt in dem, was Jesus sagte, was er tat und was ihm geschah: der Schlüssel liegt in der Liebe. Das wehrlose, geschlachtete, aber stehende Lamm ist das Inbild des neuen, kommenden Reiches Gottes, des Äons, von dem her sich auch die Rätsel der schon gewesenen Geschichte lichten.
VII
Inmitten des gigantischen Machtapparats des römischen Kaiserreiches verkündet die Apokalypse also: Wenn es eine wirkliche Macht gibt, eine, die wahrhaft alles bestimmt und in Händen hält, dann ist es die, deren Mächtigsein darin besteht, dass sie sich aller äußeren Macht entledigt, sich buchstäblich zurück nimmt und klein macht, um alles Feindliche zu bestürzen durch ihre Verletzbarkeit, ihre Liebe. Es rührt einen seltsam an, dass heute, nach den Geschichtskatastrophen des 20. Jahrhunderts, selbst säkulare Philosophien sich in die Nähe dieses Gedankens wagen, dass da noch etwas ganz anderes sein muss als nur Machtausübung, Recht, Moral und Strategie, wenn es mit der Menschenwelt gut ausgehen soll – und was wäre das anderes als die Güte, die Liebe? Die Liebe, die wie verborgen und anonym auch immer von dieser Intuition aus der Herzmitte des christlichen Glaubens zehrt, dass Gott selbst sich klein macht für seine Geschöpfe und darin alles groß sein Wollen als Schein entlarvt.
Vom Christusgeschehen her dürfen die Glaubenden darum mit Zuversicht auf die Geschichte und die Zukunft schauen. Und wenn sie einstimmen in den gottesdienstlichen Lobpreis, der ja so etwas wie der irdische Widerschein jener himmlischen Liturgie bei der Buchentsiegelung ist, dann nähren und stärken sie einander in dieser Zuversicht. Wahrhaftig freilich kann diese Zuversicht nur sein, solange sich die Kirche selber der Machtkritik verpflichtet weiß, für die das Inbild des Lammes steht.