Leitstern des Gottdenkens
Gedenkgottesdienst für Prof. Dr. Dr. h.c. Thomas Pröpper in der Dominikanerkirche: Mt 11,25-30
I
Die Stimme eines der ganz Großen in der Geschichte der Münsteraner Katholisch-Theologischen Fakultät und weit darüber hinaus ist verstummt. Am 10. Februar verstarb Thomas Pröpper, von 1988 bis 2001 Professor für Dogmatik und theologische Hermeneutik bei uns. Am 19. Februar wurde er in seinem Geburtsort Balve im Sauerland zu Grabe getragen. Die schwere Erkrankung, die ihn 2001 gut acht Tage vor seinem 60. Geburtstag und unmittelbar am Ende seines Dekanats niederwarf, zwang ihn, 2003 in den vorzeitigen Ruhestand zu treten. Was ihn daran am meisten schmerzte, waren nicht die körperlichen Unbilden, die er nun zu erdulden hatte. Weit mehr litt er daran, je länger je weniger an den theologischen Debatten teilnehmen zu können, die ausgerechnet zu jener Zeit begannen, sich um die Glutkerne seines eigenen Denkens herum zu entwickeln.
II
Mit so etwas hatte er eigentlich gar nicht mehr gerechnet. Denn seit seinem Antritt 1988 in Münster war er so etwas wie ein Geheimtipp gewesen: Wenig publiziert, kaum groß aufgetreten, nie medienwirksam in Szene gesetzt. Und doch hatte er von Anfang an junge Menschen durch sein so bohrendes wie behutsames Fragen, seine Bereitschaft zur Selbstkorrektur, die Prägnanz und Überzeugungskraft seiner Argumente in Bann gezogen. Jahr um Jahr wurde da mehr spürbar, dass da einer Ernst machte mit dem alten Programm des Fides quaerens intellectum – also Zeugnis zu geben für einen Glauben, der sich nicht erspart, für die ihn beseelende Hoffnung Gründe aufzubieten, die auch auf dem Forum der kritischen Vernunft standhalten und die entsprechenden Zumutungen aushalten. Insofern war Thomas Pröpper ein 68er par excellence. Dass er damit kulturell gesehen eigentlich 20 Jahre zu spät kam, hat der Triftigkeit seiner Argumente keinen Abbruch getan (und katholisch wird ohnehin nicht so schnell gegessen wie gekocht, in diesem ältesten Global Player der Welt). Stattdessen hat er so der damals modisch werdenden Postmoderne, die sich so gern an der Verschiedenheit der Verschiedenheiten delektierte, schon früh gezeigt, wo der Hammer des genauen Denkens hängt.
Seine Art zu denken, differenziert und gerecht zu urteilen, mit Rücksicht auf die Eigenheit der anderen und immer im Habitus des Bescheidenen, der nichts für sich herausschinden will, das hat ihn nicht nur zum beliebten Kollegen, sondern während der Zeit seines zweijährigen Dekanats zum ruhenden und ausgleichenden Pol der Fakultät gemacht. Als dann sein Lehrstuhl als erster der Verfügungsmasse der damals laufenden Sparrunde der Hochschule zugeschlagen wurde, hat ihn das sehr getroffen. Denn dadurch wurde auch ein Loch in das systematische Profil der Fakultät gerissen, das durch die quälend langen Berufungsverfahren bei der Besetzung des einzigen verbliebenen Lehrstuhls für Dogmatik und Dogmengeschichte und jetzt erst recht durch die tragischerweise notwendig gewordene Frühpensionierung des jungen Dogmatik-Kollegen Andreas Müller ein nachgerade gefährliches Ausmaß angenommen hat. Thomas wusste um all das bis in seine letzten Tage im Detail. Und es hat ihn gequält und traurig gemacht.
III
In der Zeit nach dem Ende seines aktiven Dienstes haben wir manche Woche um ihn gebangt. Mehrmals war er dem Tod nahe. Trotzdem hat er sich nicht zurückgezogen und den Hypochonder gegeben. Im Gegenteil: Als ich selbst einmal Knall auf Fall ins Krankenhaus musste, stand er, selbst angeschlagen, wenige Stunden später an meinem Bett. Und als ich 2007 mit ihm den Ostersonntag in der Herzklinik von Oeynhausen verbrachte, wo er zur Reha war, da habe ich mit eigenen Augen und Ohren erlebt, wie er mit Humor und manchmal feiner Ironie, die meist Selbstironie war, das Pflegepersonal zum Schmunzeln brachte, obwohl seine eigene Erkrankung alles andere als zum Lachen war.
Vielleicht war es eben dieser feine selbstironische Zug, der ihn gerade als Dogmatiker zum Philosophen gemacht hat. Kein Zufall, dass einer seiner philosophischen Lieblinge, Sören Kierkegaard, in seiner Dissertation von 1841 in der zehnten These geschrieben hat:
„X. Sokrates hat als Erster die Ironie eingeführt.“1
Ironie nimmt nichts zurück, verharmlost und relativiert auch nicht. Eher im Gegenteil: Sie gibt dem, worauf sie sich bezieht, noch eine besondere Note, eine „Spitze“, wie man so sagt. Wer das Seine ironisch vertritt, möchte doppelt treffen: natürlich die Sache, aber auch kritisch sein Gegenüber. Zugleich aber erhebt sie oder er dennoch nicht den Anspruch, mit der Stellungnahme die zu verhandelnde Angelegenheit wie den Disput kategorisch und definitiv erledigt zu haben. Ironie bringt die Kommunikationssituation und das, worauf sie sich bezieht, in Schwebe: Indem sie das Ihre mit einer Gewissheit vorbringt, die sich insofern bescheidet, als sie keinerlei kategorischen Geltungsanspruch mit sich führt, appelliert sie an die Freiheit (!) ihres Adressaten, sich doch noch einmal zu überlegen, ob sich die Sache wirklich so verhält, wie er oder sie behauptet. Die Appellation geschieht dabei nicht durch eigens dafür bestimmte Worte, sondern durch die Wirkung der ironischen Redeform. Gleichzeitig signalisiert, wer eine so eng mit der Freiheit verknüpfte Gewissheit bekundet, dass sie oder er sich unter Voraussetzung entsprechend triftiger Argumente durchaus eines Besseren belehren ließe. Das ist der sachliche Kern des sprichwörtlich gewordenen, aber übrigens wörtlich nicht zu belegenden sokratischen „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Im Original, der Apologie, sagt Sokrates über sich selbst im Vergleich zu einem, der als weise gilt und sich auch dafür hält: Dieser andere wisse zwar nichts, halte sich aber für wissend; er, Sokrates, wisse genauso wenig, halte sich aber auch nicht für wissend, weshalb er doch ein wenig weiser als der andere sei2 – was natürlich seinerseits einen Paradefall von Ironie darstellt.
So schützt Ironie vor dem Schein, schon der ganzen Wahrheit teilhaft geworden zu sein. Gleichzeitig bleibt allein so das Streben nach Wissen, die Liebe zur Weisheit überhaupt virulent. Hätte ich nichts mehr an Wahrheit zu gewinnen, weil ich ohnehin schon über alles verfüge, brauchte ich nach nichts mehr zu streben. Ironie ist tatsächlich so etwas wie die Grenzwacht gegen einen Totalitarismus von Geltungsansprüchen, ohne deshalb den Gedanken der Gewissheit als solchen abweisen zu müssen.
Eben dieser sein Wesenszug der gerade auch selbstbezüglichen Ironie war es nicht zuletzt, der Thomas und mich – ich darf das so persönlich sagen – bei allen Unterschieden niemals hat zu Gegnern werden lassen. Denn unbeschadet all des sehr Persönlichen, was ich soeben erzählt habe: Harmoniesüchtig waren Thomas und ich nie, wirklich nicht. Wir haben uns, immer fair, aber beinhart in der Sache, so manchen Schlagabtausch geliefert, meist bei Pasta und Pannacotta. Ich weiß noch gut: Unseren ersten Zoff hatten wir, als wir mit anderen Kollegen zur Partnerfakultät in Oppeln fuhren: Dort im Schloss Steins sind wir uns in die Haare geraten, ob es nach Fichte noch einen wirklichen philosophischen Fortschritt gegeben habe und ob man denn die analytische Sprachphilosophie wirklich brauche etc. Ich dafür, er dagegen, allenfalls den guten Hermann Krings hat er noch gelten lassen. Früh um drei sind wir dann aufs Zimmer geschlichen, keiner vom andern überzeugt. Aber selbstverständlich haben wir bei der Frühmesse nicht gefehlt.
IV
Vermutlich lag das Verbindende hinter all diesen Sachkonflikten, das diese entschärfte, auch – ja – ganz woanders, jenseits von Theologie und Philosophie. Denn Thomas Pröpper frönte – und das wussten nur seine engen Freunde – zwei Leidenschaften: Musik und Literatur. In der Musik war ich der absolut Laie, obwohl ich gern in Konzerte gehe. Thomas war es in die Wiege gelegt. Sein Vater war ein Kirchenmusiker und Komponist des Formats, dass man ihm in seinem Heimatort Balve ein lebensgroßes Denkmal aufstellte. Die Mutter war dem nicht fern. Und Thomas‘ Liebe zur Klassik entsprach, dass er selbst ein begnadeter Pianist war, ohne das je über einen engsten Kreis Vertrauter hinaus preiszugeben. Gefragt, was denn seine Favoriten in musicis seien, die er auf die sprichwörtlich einsame Insel mitnähme, hat er geantwortet:
Das ist eine harte Frage, weil ich zu vieles zurücklassen müsste. In die engste Wahl kämen jedenfalls: von Bach die Goldberg-Variationen und die Motette „Jesu, meine Freude“; von Beethoven die späten Streichquartette; von Schubert die Klavier-Trios oder die letzten Klaviersonaten (mit Alfred Brendel); von Schumann die Eichendorff-Lieder; von Bruckner die achte und von Mahler die fünfte Symphonie; dazu noch Orgelmusik von Olivier Messiaen und das Violinkonzert von Alban Berg.
Diese Auswahl erzählt gleichsam einen Roman von der Innenwelt dessen, der sie formuliert.
Und was die Literatur betrifft: In den Jahren seines Ruhestandes hat Thomas Pröpper das meiste an theologischer Fachpublikation beiseitegelassen und sich in das Abenteuer der Begegnung mit den Großen der Literatur des 19. Jahrhunderts gestürzt: die Russen, die Franzosen, die Deutschen sowieso, auch manch andere. Stundenlang haben wir uns da über Bücher unterhalten, bisweilen gestritten. Auch da hat Thomas ein paar Titel genannt, weil sie ihm das eigene theologische Nachdenken wesentlich vertieft haben. So „Die Krankheit zum Tode“ von Kierkegaard; von Nietzsche „Zur Genealogie der Moral“; Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“; von Camus „Die Pest“ oder „Der Fall“ und von Simone Weil „Das Unglück und die Gottesliebe“. Manchmal hat er sich aber auch auf ganz andere Bahnen locken lassen, zu englischen, amerikanischen und osteuropäischen Autoren der Gegenwart. Im Blick auf sein Belletristik-Regal konnte man ahnen: Thomas Pröpper war zutiefst ein christlicher Existenzialist.
V
Und noch Eines ist ihm in der Begegnung mit den Poeten zugewachsen: Es hat ihn zum Psychologen und Psychagogen im buchstäblichen Sinn werden lassen: zum Seelenkenner und Seelenführer. Jemand, der sich hineinzudenken und hineinzufühlen vermochte in die Abgründe menschlichen Daseins und eben darum fähig wurde, einer oder einem anderen in der Stunde dunkler Not ein Wort der Ermutigung und des Tröstens zuzusprechen. Nirgends anders war das mehr spürbar als in den Predigten, die er hier in der Dominikanerkirche gehalten hat. Bis zu seiner Erkrankung hat er insgesamt 62-mal an diesem Ort Gottesdienst gefeiert und gepredigt. Seine homiletische Sternstunde war dabei immer der Karfreitag. Da haben ihm das Wort der Schrift und die liturgischen Gesten die – so seine sprichwörtlich gewordene Formulierung – unbedingt für den Menschen entschiedene Liebe Gottes auf eine Weise zugesprochen, dass er daraus den Mut fasste, sich unverlierbar in Gottes Hand gehalten zu wissen, also einem Ostermorgen entgegen zu gehen – und das der anwesenden Gemeinde zu bezeugen.
VI
Jetzt glauben wir Thomas Pröpper dort daheim, wovon er in seinen österlichen Predigten gesprochen hat. Und wir danken Gott, dass wir ihn so lange gehabt haben – als Lehrer und Forscher, als Priester und Freund, und einfach als jemanden, der diejenigen, die ihm nahe waren, ermunterte, trotz mancher Stunde des Zweifels, der Not und der Dunkelheit an das Gute zu glauben.
In Hollywood gibt es den berühmten Walk of Fame, den Bürgersteig des Ruhmes, in den goldene Sterne für die überragenden Größen vor allem des Film-Business eingelassen sind. Gäbe es auf den Fluren unserer Fakultät etwas Vergleichbares, so gebührte Thomas Pröpper ein besonders glänzender Stern. Sein denkerisches Vermächtnis wird noch lange ausstrahlen. Wir werden ihn nicht vergessen.
1 KIERKEGAARD, Sören: Über den Begriff der Ironie. Mit ständiger Rücksicht auf Sokrates. (Frankfurt a.M.) 1976. (stw 127). 9.
2 Vgl. Platon: Apologia 21d.