Neues Gebot
5. OSo C: Joh 13,31-33a. 34-35
I
Einer der berühmtesten Gottesgelehrten des 20. Jahrhunderts war der Schweizer evangelische Theologe Karl Barth, der übrigens etliche Jahre auch an der Evangelischen Fakultät in Münster gelehrt hat. Eines Tages wurde er von einer frommen Frau gefragt: Herr Professor, ist es auch ganz gewiss, dass wir im Himmel alle unsere Lieben wiedersehen werden? – Und Barth antwortete: Jawohl, gnä’ Frau! Aber die anderen auch.
II
Das klingt wie ein spöttischer Seitenhieb auf eine bigotte Seele. In Wirklichkeit spricht dieser kurze Satz aus, was allein einen Christen zum Christen macht. Die Frau hatte eine Frage gestellt, die – wie sie wohl auch selber meinte – nur einen gläubigen Menschen bewegen kann. In Wirklichkeit hatte sie bloß ihren Egoismus offengelegt. Nur, wer ihr lieb ist, will sie in der Ewigkeit wiedersehen. Obwohl sie von ihren "Lieben" spricht, bestimmt das Gegenteil von Liebe, was sie hofft und wünscht. So schleicht sich der Tunnelblick der egoistischen Parteilichkeit bis in die Herzmitte der Gottrede. Liebe und Liebe sind zweierlei; man muss genau hinsehen, was wirklich Liebe ist und was nicht. Da heutige Evangelium hilft uns dabei.
III
Mit den paar Versen, die wir gerade gehört haben, beginnt Jesu Abschiedsrede an seine Jünger. Als Judas hinausgegangen war – so fängt Johannes zu erzählen an. Jetzt sind die Gläubigen unter sich; von ihnen ist jetzt die Rede, heißt das. Aber zugleich auch: Mit dem Fortgang des Judas beginnt offenkundig zu werden, was es mit Jesus im Grund auf sich hat. Darum sagt er: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht. Jetzt strahlt auf, was sein Geheimnis ausmacht. Dieses "jetzt" meint natürlich das, was durch des Judas Verrat in Gang kommt: Die Kreuzigung.
Durch das Kreuz wird offenbar gemacht: Jesus glaubt so unbedingt, dass Gott ihn lieb hat, dass er diesen Glauben um keinen Preis widerruft. Es würde ihm vor Gericht das Leben gerettet haben, wenn er seine Botschaft von Gott zurückgenommen hätte: Die Botschaft, dass Gott jeden unbedingt lieb hat; und dass das reicht, um frei und souverän ein Mensch zu sein, der sich nichts und niemanden zu beugen hat. Aber genau das widerruft er nicht, weil er damit Gott der Lüge strafen würde. Denn wenn Gott der Liebende ist, dann bleibt er es auch dort, wo ich ihn als den Liebenden vielleicht gar nicht mehr erkennen kann. Ja: Er wird es dort am meisten sein, wo ich es am allermeisten brauche. Deshalb flieht Jesus vor dem Kreuz nicht. Weil er der Liebe traut.
Darum leuchtet ausgerechnet durch sein Sterben auf, was sein Geheimnis ausmacht: das Vertrauen in Gott, das so unbedingt ist, das es sich seinerseits gar nicht anders äußern kann als dadurch, dass er Gott lieb hat. Und wenn er – Jesus – verherrlicht ist, sagt Johannes weiter, ist zugleich Gott in ihm verherrlicht. Natürlich: weil an Jesus und seinem Geschick zugleich offenkundig wird, wer Gott ist – und das, was Jesus tut, und wofür er steht, nicht vergeblich gewesen sein wird, weil Gott ist, wie er ist. Darin besteht ja auch Jesu Auferwecktsein, sein Osterleben.
IV
So fasst Johannes ca. 60 bis 70 Jahre nach Ostern das Geheimnis Jesu in menschliche Worte. Er tut dies nicht bloß so, sondern er muss das tun, um für seine Zeit und seine Gemeinde die Verbindung mit dem Ursprung, also mit jenem Geheimnis Jesu aufrechtzuerhalten. Jede Generation steht neu vor dieser Aufgabe, weil doch der irdische Jesus im Tode fortgegangen ist. Es wird uns aber auch gesagt, wie dieses Verbundensein geschehen kann: Wie ich euch geliebt habe, so sollt ihr einander lieben. Gerade weil er gewiss war, dass Gott ihn lieb hat und ihn niemals fallen lässt, konnte er gar nicht anders, als die Liebe, die er geschenkt bekam, denen zu schenken, die mit ihm sein irdisches Leben teilten. Von Gott mich geliebt wissen, wischt von selber alles weg, was mich hindern könnte, selbst so zu sein, wie Gott zu mir ist. Und indem ich auf meine endliche, menschliche Weise so zu sein beginne, tue ich, was Gott ist, mache ich also ihn sichtbar, der doch ganz Geheimnis ist, verherrliche ich ihn, um wie Johannes zu reden, d.h. gebe ich seiner Liebe zu mir meinerseits die Antwort der Liebe.
Allein – man muss das wörtlich nehmen –, allein daran, dass Menschen einander gut sind, werden alle sie als Jünger Jesu erkennen – dass sie an den Gott glauben, den er verkündet hat, dessen lebendiges Gleichnis er gewesen ist. Und das ist ja auch das Furchtbare an den Missbrauchs- und Misshandlungsfällen, die in den letzten Monaten auch in der Kirche ans Licht kamen: Sie sind praktiziertes Dementi der christlichen Kernbotschaft schlechthin – daher das Ausmaß der öffentlichen Empörung, die gemessen an ähnlichen Vorkommnissen an anderen gesellschaftlichen Orten schon nicht mehr nachvollziehbar war. Das Neue des neuen Gebotes, das Jesus uns gibt, war betroffen, das auch noch Kirchenfernen, Agnostikern und frommen Atheisten einleuchtet: Dass wir allein durch die Art, miteinander umzugehen, Jesus bestätigen und dadurch Gott selber die Ehre geben. Das meint der Glaube mit "Liebe". Sie ist etwas Einfaches. Trotzdem geben wir uns – siehe Karl Barths Fragerin – gern mit Kleinerem zufrieden. Aber wir dürfen größer von uns denken. Und von Gott.