Katholische Utopie-Feier

Fronleichnam A: systematisch


I
Heute feiern katholische Christinnen und Christen Fronleichnam. Sie sagen feierlich Dank dafür, dass der Herr nicht nur in der Erinnerung, nicht nur in den Worten des Evangeliums, sondern auch in seinem Zeichen bei ihnen bleiben wollte, das man mit Sinnen wahrnehmen kann. Nach seinem Auftrag nehmen wir bis heute Brot und Wein, sprechen im geistlichen Raum der Gemeinde das Dankgebet darüber und empfangen beides als Leib und Blut Christi wieder. Aber am Fronleichnamstag begehen viele Glaubende dieses Sakrament nicht nur so wie an einem Sonn- oder Feiertag sonst. Sie gehen stattdessen hinaus, feiern irgendwo in der Gemeinde unter freiem Himmel Eucharistie, und dann ziehen sie – das Zeichen des Heiligen Brotes in ihrer Mitte – über die geschmückten Straßen und Plätze zum Gotteshaus, um dort den feierlichen Segen zu empfangen. In manchen Gegenden kennt man bis heute bei der Prozession vier Altäre, von denen aus die Gegenwart des Herrn und mit ihr der Segen Gottes gleichsam über die vier Himmelsrichtungen, also über die ganze Erde ausgebreitet wird.

II
Diese Gesten – die Prozession, das festliche In-die-Welt-Hineingehen mit Christus, der alles umfassende Segen –, all das ist nicht bloß fromme Zutat. Es versinnbildet vielmehr etwas von der Innenseite dessen, was wir Sonntag für Sonntag tun: von der Eucharistiefeier. Mehr noch als heute war früher geläufig, dass die Heilige Messe ihren Mittel- und Höhepunkt nicht in der Predigt und auch nicht in der Kommunion hat, sondern: in der Wandlung. Wenn wir im Auftrag Christi Brot und Wein nehmen und sprechen: Das ist mein Leib; das ist mein Blut –, dann machen da nicht wir Menschen etwas, sondern: Gott ergreift ein kleines Stück dieser Welt und macht sich gegenwärtig darin. An diesen sichtbaren Dingen scheint den Augen der Glaubenden auf, wer er ist und wie er ist: lebensspendend wie Brot und Grund zu festlicher Freude wie der Wein.

Was Brot und Wein durch die Wandlung auf dem Altar werden, das wollen sie nicht für sich bleiben. Gott will nicht nur in diesen kleinen Stücken unserer Welt gegenwärtig sein, sondern alles, was es gibt, soll mehr und mehr Zeichen, Verheißung, Ort seiner Gegenwart werden. Die Wandlung von Brot und Wein auf dem Altar ist nur ein Anfang. Die Wandlung will weitergehen in der Verwandlung der Christinnen und Christen, der Kirche, der ganzen Welt, auf dass – wie die Heilige Schrift sagt – Gott alles in allem sei; dass jedes Staubkorn der Schöpfung, jeder Atemzug der Geschöpfe von Gott rede und so ihm ganz verbunden sei.

Dieser Fortschritt der Wandlung von Brot und Wein zur Verwandlung der Welt beginnt mit unserer Kommunion bei der Messe. Christus geht dabei in uns ein, um uns christusförmig zu machen, d.h. zu Menschen, die so in Gottes Gegenwart leben und sie so bezeugen, wie er in ihr gelebt und sie bezeugt hat. Und dann soll diese Verwandlung weitergehen, soll überspringen auf unseren Alltag, unsere Häuser, unsere Arbeit, auf das öffentliche Leben, auf unsere ganze Menschenwelt –, so dass alles und alle hineingezogen werden in die Gottverbundenheit Jesu: das meinen heute an Fronleichnam die geschmückten Häuser, die Prozession, der Segen in alle vier Winde. So machen wir vorwegnehmend sichtbar, wie es einmal sein wird mit der Welt und allem, was zu ihr gehört.

III
Fronleichnam ist also ein progressives Fest. Es hat mit Fortschritt zu tun – dem der Wandlung –, es schaut nach vorn, zu dem, was sein wird. Gegen Fortschrittliches gibt es immer Widerstände. Widerstände in der Seele des Einzelnen nicht anders wie in der Kirche als ganze. Dieser Widerstand ist meist zäh. Er ist nichts anders als die Sünde. Sünde kommt von „sondern“, ab-sondern. Sünde ist der Versuch, Gott auszuschließen aus der Weise, wie Menschen miteinander und auch mit den Schätzen der Erde umgehen. Das Eigenartige dabei: nirgends, wo der Mensch versucht, Gott auszuschalten, – nirgends wehrt sich Gott dagegen. Er drängt und zwingt sich nicht auf. Der Mensch erhält seinen Willen – und mit ihm die Konsequenzen daraus. Wo einer mit sich selbst überworfen ist, wo er anderen argwöhnisch und mit Missgunst gegenübertritt, wo die Erde Spuren der Verwüstung zeichnet – immer und überall ist das Zeichen für den Versuch, Gott außen vor zu halten.

Es wird Zeiten im Leben eines jeden Menschen geben, da ihm scheinen möchte, dass die ganze Welt nur noch gottverlassen ist, weil nichts mehr zusammenpasst und zusammengeht in ihr und für ihn. Mit dem heutigen Fest bekennen wir unsere Hoffnung, dass Gott, dass die Wandlung über alle Hindernisse und Zerrissenheit hinweg doch stärker sein wird.

IV
So kommt in Fronleichnam so etwas wie ein utopischer Zug hinein – ein Hoffnungsvermerk sozusagen, der damit zu rechnen wagt, dass sich auch schon an der real existierenden Welt manchmal etwas zum Guten wandeln kann, gleichsam als Versprechen dafür, dass einmal alles gut sein wird, wenn alles in Gott und Gott alles in allem sein wird.

Utopien sind nicht ungefährlich, wie uns die Geschichte lehrt. Je größer sie ausfallen – etwa die Französische Revolution oder das Mega-Experiment des Staatskommunismus – desto furchtbarer und schneller kippen sie in der Regel um in ihr schieres Gegenteil. Den Freiheitsgesängen von 1789 folgte auf den Fuß der Blutrausch eines Robespierre, den hellsichtigen Analysen eines Marx der mörderische Staatsterror eines Stalin. Das hatte immer auch damit zu tun, dass da Menschen – endlich von Wesen – versuchten, in Eigenregie Paradiese heraufzuführen.

V
Aber anders, wenn solche Utopien sozusagen geerdet bleiben, manchmal bis zum Banalen. Und wenn ihre Träger und Trägerinnen nicht vergessen, dass das ersehnte Gute nicht ihrer eigenen Hände Wirken entspringen, sondern immer nur als unverfügliches Geschenk empfangen werden kann.

Per Zufall bin ich neulich auf das Dokument einer solchen werktäglichen Utopie gestoßen, die zugleich – weil ausgesprochen in Form eines Gebets – unmittelbar bekundet, das sie jenes unverfügliche Sein nicht vergessen hat. Es handelt sich um ein Gebet zum Neuen Jahr 1883. Es stammt von Hermann Kappen, der von 1818–1901 lebte und zu der Zeit, da er jenes Gebet in Worte fasste, nicht weit von hier Pfarrer in St. Lamberti war. Und dem, was er da sagt, eignet – bei aller Zeitgebundenheit – auf eigenartige Weise eine Art unverbrauchter Aktualität. Hören Sie selbst:

Herr, setze dem Überfluss Grenzen,
und lasse die Grenzen überflüssig werden.

Lasse die Leute kein falsches Geld machen,
aber auch das Geld keine falschen Leute.

Nimm den Ehefrauen das letzte Wort –
Und erinnere die Ehemänner an ihr erstes.

Schenke unseren „Freunden“ mehr Wahrheit
und der Wahrheit mehr Freunde.

Bessere solche Beamten, Geschäfts- und Arbeitsleute,
die wohl tätig, aber nicht wohltätig sind.

Gib den Regierenden ein besseres Deutsch
und den Deutschen eine bessere Regierung.

Herr, sorge dafür, dass wir alle in den Himmel kommen
– aber nicht sofort.

VI
Das ist Werktags-Utopie pur, zutiefst menschliche Theologie, gepaart mit einem Schuss Ironie, ohne die wir Menschenkinder die großen Dinge zwischen Himmel und Erde ohnehin nicht ertragen könnten. Im Fronleichnamsfest mit seinen schlichten, fast banalen Zeichen von Brot und Wein, die dennoch im Sinnbild ausgreifen auf das Ganze der Welt, findet da so etwas wie einen sichtbaren Widerhall. Deswegen verbindet man in der Gegend, aus der ich stamme, die Fronleichnamsprozession mit einer ordentlichen Brotzeit: geerdeter Himmel, der gleichwohl sein Ziel nicht vergessen hat. Das wünsche ich uns heute auch.