Wenn Gott spricht - Gedanken zu Dei Verbum

anlässlich des Jubiläums 50 Jahre Vaticanum II

Fastenpredigt Dorsten, 28.02.2013


I
Am 11. Oktober 2012, dem Tag, da sich die Einberufung des II. Vatikanischen Konzils zum 50. Mal jährte, rief Papst Benedikt XVI. ein „Jahr des Glaubens“ aus. Es soll dazu dienen, dass sich die Gläubigen inmitten des oft lauten Konzerts widersprüchlicher Sinnangebote und Lebensdeutungen neu der Grundlagen des christlichen Glaubens vergewissern und auch ihr Wissen um sie vertiefen.

Zu den Grundworten des Christentums gehört zweifellos auch die Rede von „Offenbarung“. Das scheint selbstverständlich. Aber was bedeutet dieses Wort genau und wie kann es heute verstanden werden? Es ist alles andere als ein Zufall, dass einer der wichtigsten und umstrittensten Texte des II. Vaticanum, die Dogmatische Konstitution Dei Verbum (Gottes Wort), genau davon handelt und dazu ein im Vergleich zur Zeit vorher tiefgreifend erneuertes Verständnis vorlegt, dessen Sinnfülle bis heute in der Theologie wie in der Verkündigung nicht wirklich ausgeschöpft ist.

II
Will man das neue Verständnis von Offenbarung durch die Konzilsväter auf einen ersten bündigen Nenner bringen, so kann man sagen: Offenbarung wird nicht mehr verstanden als Instruktion, als Belehrung von oben, die vom kirchlichen Amt verwaltet und den Gläubigen autoritativ zu gehorsamer Annahme vorgelegt wird. Vielmehr wird Offenbarung jetzt begriffen als „Selbstmitteilung Gottes“ (ein Ausdruck übrigens, der erstmals in philosophisch-theologischen Debatten der 1790er Jahre im Tübinger Stift auftaucht, dem evangelischen Seminar, wo Schelling, Hegel und Hölderlin Stubengenossen waren). Gott sagt uns in seiner Offenbarung nicht dies und das, sondern teilt sich selbst uns mit, macht sich in Jesus zu dem in unser Herz ge-sprochenes Wort, wie es in einer Predigt Karl Rahners aus dem Jahr 1937 heißt.

Es spricht Einiges dafür, dass dieses neue Verständnis von Offenbarung in wichtigen Zügen von der Habilitationsschrift des damaligen jungen Theologen Joseph Ratzinger über das Offenbarungsverständnis und den Geschichtsbegriff des Hl. Bonaventura beeinflusst ist, die 1955 in München eingereicht wurde. Gemäß dieser Arbeit handelt es sich bei Offenbarung um einen Akt personaler Selbsterschließung Gottes dem Menschen gegenüber, um ein Geschehen zwischen Gott und der glaubensbereiten Seele. Dieser Akt liegt – so Ratzinger mit Bonaventura – der Heiligen Schrift und der Tradition der Kirche voraus. Diese sind – so wichtig sie sein mögen – eigentlich nur die informativ-materialen Kundgaben der im Menschen geschehenen Gotteserfahrung. Diese ist mithin die Quelle der Of-fenbarung.

Ausgerechnet derjenige Teil der Arbeit Ratzingers, der sich mit dem Offenbarungsbegriff beschäftigte, musste – um das Scheitern des Habilitationsverfahrens zu verhindern – zurückgezogen werden, weil nach Überzeugung eines der Gutachter Ratzingers Überlegungen im Anschluss an Bonaventura einem gefährlichen Modernismus verfallen, der auf die Subjektivierung von Offenbarung hinauslaufen müsse. Und in der Tat hatte Ratzinger selbst damals darauf hingewiesen, dass es sich bei dieser Betonung der persönlichen Erfahrung um eine Art Vorwegnahme eines Grundprinzips des späteren modernen Denkens handelt, wie man es bei Immanuel Kant und seinen Nachfolgern findet. Doch wegen des Modernismus-Vorwurfs seitens des Gutachters, der damals für einen jungen Theologen das definitive Aus bedeutete, wurde 1959 nur der zweite Teil der Arbeit über die Geschichtstheologie veröffentlicht. Seit 2009 – also mit genau 50 Jahren Verspätung – jedoch ist auch jener erste Teil zugänglich und erste Untersuchungen belegen unzweideutig, wie sehr Ratzingers damaliges modernes Denken über den Weg seiner Beratertätigkeit für den Kölner Kardinal Frings während des Konzils auf den Text Dei Verbum über die göttliche Offenbarung Einfluss genommen hat.

III
Verblüffend freilich nimmt sich aus, dass man diese Sicht von Of-fenbarung als Gottes Selbsterschließung in der Erfahrung des Menschen auch schon ganz lange vor dem mittelalterlichen Franziskanertheologen Bonaventura finden kann, nämlich bereits in der Bibel selbst. Man muss dazu nur lange und geduldig genug in ihr lesen, auch die scheinbar nebensächlichen Erzählungen ernst nehmen und wahrnehmen.

Hundertfach begegnen uns in der Bibel ja Wendungen wie „und Gott sprach“ oder „Gott spricht“ oder einfach „Wort Gottes“. Aber was heißt das genau: „Gott sprach“? Was dahintersteht, lässt sich recht gut im Bezug auf den schlechthinnigen Einsatzpunkt des heilsgeschichtlichen Handelns Gottes nachvollziehen – allerdings aus dem Zusammenspiel zweier biblischer Stellen, die in aller Regel beim Lesen als vermeintlich unwichtig übersprungen werden und darum in den Lesungen der Liturgie auch gar nicht vorkommen.

Das Buch Genesis, Kapitel 11,10-32, dieses kurze Gelenkstück zwischen der Urgeschichte und den Geschichten der Erzväter er-zählt im Vers 31:
„Terach nahm seinen Sohn Abram, seinen Enkel Lot, den Sohn Harans, und seine Schwiegertochter Sarai, die Frau seines Sohnes Abram, und sie wanderten miteinander aus Ur in Chaldäa aus, um in das Land Kanaan zu ziehen. Als sie aber nach Haran kamen, siedelten sie sich dort an."
Und dann setzt Gen 12,1 die Abramsgeschichte mit dem unvermittelten Befehl Gottes an Abram ein:
„Und Gott sprach zu Abram: Zieh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde!“

An einer ganz anderen Stelle der Bibel – chronologisch und theologisch weit entfernt von der Abramstradition – erhält jener Aufbruch der Terach-Sippe aus Ur- und auch die Abramswanderung eine frappierende Interpretation. Sie findet sich im 5. Kapitel des kleinen Buches Judit. Dort wirf Folgendes erzählt:  Holofernes, der Oberbefehlshaber des assyrischen Heeres lässt sich, provoziert vom Widerstand Israels, durch Achior, den Anführer der Ammoniter, über das ihm unbekannte Volk der Israeliten informieren. Achior leitet seine Beschreibung folgendermaßen ein:
„Diese Leute stammen von den Chaldäern ab. Sie hatten sich zuerst in Mesopotamien niedergelassen, weil sie den Göttern ihrer Väter im Land der Chaldäer nicht mehr dienen wollten. Sie waren nämlich von dem Glauben ihrer Vorfahren abgewichen und hatten ihre Verehrung dem Gott des Himmels zugewandt, zu dessen Erkenntnis sie gelangt waren. Deshalb hatten die Chaldäer sie aus dem Bereich ihrer Götter vertrieben, und sie waren nach Mesopotamien geflohen, wo sie sich einige Zeit aufhielten. Doch ihr Gott gebot ihnen, ihren Wohnsitz zu verlassen und in das Land Kanaan weiterzuziehen" (Jdt 5, 6-9a).
Als treibendes Motiv für den Aufbruch Terachs und seiner Familie werden also Gottessuche und Gotteserkenntnis benannt. Der neuerliche Aufbruch Abrams vollzieht sich in der Sicht des Buches Judit ganz im Gefälle dieses Motivs – und das bedeutet: Das „Der Herr sprach..." von Gen 12,1 wird im Buch Judit als eine Initiative Gottes verstanden, die unabtrennbar in eine als Suche und Erkenntnis sich vollziehende Gotteserfahrung eingebettet ist.

Diese Deutung kann sich vollständig gedeckt wissen von der jüdi-schen Auslegung der Berufung Abrahams: Die maßgebende Mi-draschsammlung zum Buch Genesis, Bereschit Rabba, sagt zu Gen 12,1 u.a.:
„Nach Rabbi Chija bar Rabbi Idi von Joppe war Therach ein Götzendiener. Als er einmal ausging und den Abraham als Verkäufer an seiner Statt zurückließ, kam ein Mann und wollte sich ein Götzenbild kaufen. Da sprach Abraham zu ihm: Mensch, wie alt bist du? Er antwortete:
50 bis 60 Jahre. Wehe dem Mann!, rief Abraham aus, der 60 Jahre alt ist und ein Bild anbeten will, was nur einen Tag alt ist. Der Käufer schämte sich und ging seines Wegs. Ein an-dermal kam ein Weib und trug in ihrer Hand eine Schüssel mit feinem Mehl und sprach zu Abraham:
Geh und bringe es den Götzen als Opfer dar! Abraham nahm einen Stock, zerschlug alle Götzenbilder und legte dann den Stock in die Hand des größten Götzen. Als der Vater wieder zurückkam, fragte er: Wer hat das alles getan? Was soll ich dir es verleugnen, antwortete Abraham, es kam ein Weib, brachte eine große Schüssel mit feinem Mehl und sprach zu mir: Bringe es den Götzen als Opfer dar. Das tat ich, und da entstand ein Streit unter den Götzen, ein jeder sprach: ich esse zuerst, bis endlich dieser Große aufstand, den Stock nahm und sie zerschlug. Was spottest du meiner? sprach der Vater...(und) nahm ... den Abraham und überlieferte ihn dem Nimrod. Dieser sprach zu ihm: Wir wollen das Feuer anbeten (was soviel heißt wie): Ich werde dich ins Feuer werfen, und es mag dich der Gott, den du anbetest, aus ihm retten."

Das ist im Grunde eine poetische Version der ritualisierten Beru-fungsformel „Und der Herr sprach zu Abram: Zieh fort..." Allein schon die Pointe dieser Auslegung ist besonderer Aufmerksamkeit wert: dass Abraham da unter Einschluss einer guten Portion Humors als kritischer Aufklärer und zugleich nachgerade als Protagonist einer menschlichen Gottsuche, also einer natürlichen Theologie auftritt, die sich zur Offenbarungstheologie transformiert und als solche artikuliert. Das Entscheidende für unsere Frage nach der Offenbarung liegt darin, dass sich die geistliche Lektüre eines alttestamentlichen Basistextes als Übersetzung der „Gott spricht..."-Formel in den Kategorien dramatischer Erfahrung zur Sprache bringt, die ein Handeln Gottes als Folge wie Ursache zugleich als inneres Mo-ment ihrer selbst impliziert. Das bedeutet unterm Strich: Wort als „Wort Gottes" ist untrennbar verkoppelt mit dem Selbstsein, modern: der Subjektivität derer, die ein Wort als „Wort Gottes" ver-nehmen – also genau die Sicht von Offenbarung, die der junge Ratzinger mit Blick auf den hl. Bonaventura entfaltet hat.

IV
Diese Aufklärung des Sinnes von „Gott spricht..." könnte nun freilich den Verdacht wecken, über die durch sie ins Spiel gebrachte Instanz der Subjektivität würde einem religiösen Subjektivismus Tür und Tor geöffnet, einer Willkür, die private Anwandlungen als Gottesworte deklarierte. Was eine mit unmittelbaren, innerweltlichen Interventionen Gottes operierende Populartheologie solchermaßen befürchtet, dessen bedient sich eine eher vulgäre Popularaufklärung als religionskritischen Arguments. Legion ist derzeit der Schriften, die Religion und Glaube als Ausgeburten menschlicher Ängste oder Träume abzutun versuchen. Aber beide Seiten übersehen dabei, dass Wort Gottes in Menschenwort unter Kriterien steht, also das Recht seines Geltungsanspruchs erkannt werden kann. Diese Thematik des wahren oder nur scheinbaren Wortes Gottes wird bereits alttestamentlich reflektiert, und zwar im Zusammenhang mit dem Auftreten der Propheten – also ab dem Zeitpunkt, da das Wort Gottes durch genau bestimmte Instanzen im Volk ergeht, die kraft Amtes dem Volk auch gegenüberstehen. Als exemplarisch kann diesbezüglich etwa die Auseinandersetzung des Propheten Elija mit den Baalspriestern auf dem Berg Karmel gelten (vgl. 1 Kön 18). Die kritische Frage – wahres oder falsches Gotteswort – gewinnt für die biblische Tradition weit darüber hinaus dramatische Zentralität in dem Augenblick, in dem sich nach übereinstimmender Überzeugung jüdischer wie christlicher Exegeten im 6. vorchristlichen Jahrhundert in der biblischen Tradition eine regelrechte Ersetzung des Kollektiven durch das Einzelne, Besondere, Subjektive ereignet. Besonders gut sichtbar wird das an der Gestalt des Propheten Jeremia, bei dem selbst noch die innerste Intimität seiner Gottesbeziehung in den Dienst der Verlautbarung des Wortes Gottes genommen wird. Fol-gerichtig finden wir im Jeremia-Buch auch die heftigsten Auseinandersetzungen um den Geltungsanspruch von „Wort Gottes". Zugleich werden Kriterien für die Unterscheidung von wahrem und falschem Prophetenwort benannt: Jer 5,13; 14,14-15; 23,9-32; und besonders aufschlussreich in Jer 28 die Auseinandersetzung zwischen Jeremia und dem Propheten Hananja. In den VV 7-9 ruft ihm Jeremia entgegen:
„... höre das Wort, das ich dir und dem ganzen Volk in die Ohren rufe: Die Propheten, die vor dir und vor mir je gelebt haben, weissagten Krieg, Unheil und Pest gegen viele Länder und mächtige Reiche. Der Prophet aber, der Heil weissagt – an der Erfüllung des prophetischen Wortes erkennt man den Propheten, den der Herr wirklich gesandt hat."

Anders gewendet: Wort Gottes erweist sich – ich betone das „sich"! – als Wort Gottes durch die unbedingte geschichtliche Bewährung seines Inhalts und Anspruchs. Solche Bewährung mag sich dabei im Kollektiv-Politischen gleichermaßen wie im Individuell-Biographischen ereignen. Das „sich" habe ich soeben deshalb betont, um darauf aufmerksam zu machen, dass der Wort-Gottes-Charakter eines „Wortes Gottes", seine Wahrheit durch Selbsterweis, nicht durch von außen an es herangetragene Prüfungsverfahren aufgedeckt wird. Solch Wahrheitserweis durch geschichtliche Bewährung ist logischerweise immer nur nachträglich zugänglich: Aus der geschehenen Bewährung geht uns die Wahrheit des Gotteswortes im Nachhinein auf. Exakt dieser Struktur entsprechend beschreibt Ex 33,18-23 ja auch jene urpersönliche, auf Du und Du geschehende Begegnung zwischen Gott und Mose, die die Bundeserneuerung nach dem Bundesbruch durch das goldene Kalb einleitet:
„Mose sagte: Laß mich doch deine Herrlichkeit sehen! Der Herr gab zur Antwort: Ich will meine ganze Schönheit an dir vorüberziehen lassen und den Namen des Herrn vor dir ausrufen... Du kannst mein Angesicht nicht sehen; denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben. Dann sprach der Herr: Siehe, bei mir ist ein Platz, da magst du dich auf den Felsen stellen. Wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, will ich dich in die Höhlung des Felsens stellen und meine Hand über dich decken, bis ich vorübergezogen bin. Wenn ich meine Hand zurückziehe, wirst du meinen Rücken – wörtlich: mein Nachher – schauen. Aber mein Angesicht kann niemand schauen."

Und Mose, so heißt es weiter, tritt auf Gottes Geheiß in eine Fels-spalte, Gottes Hand selbst schützt ihn vor dem Anblick des Über-glanzes – und er darf Gott hinterher schauen „und ihn im Vorüber-gang […] hören.“

Im Vorübergang. Gott ist ein Passagegott. Nur im Vorübergehen gewahren wir ihn. Niemand verfügt über sein Kommen, niemand über sein Gehen. Keiner vermag seine Präsenz zu sistieren – fest-zu-stellen im buchstäblichen Sinn. Wir können nur immer seine Fußspuren in Schöpfung und Geschichte und in seinem auserwählten Israel entziffern – und an den „Furchen in den Seelen der Menschen“, wie der jüdische Exeget Joseph Hermann Hertz einmal sagte.

Mein verstorbener Kollege aus dem Alten Testament, Erich Zenger, hat einst in seiner Abschiedsvorlesung auf beeindruckende Weise gezeigt, dass und wie in eben dieser Spurenlogik aus dem Buch Exodus auch der Prolog des Johannesevangeliums steht, also die steilste Kurzformel für die christliche Offenbarung – dieses:
„Im Anfang war der Wort – wörtlich der logos“ (Joh 1, 1)
das dann aufgipfelt in dem Vers:
    „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns ge-wohnt.“ (Joh 1, 14) Der fleischgewordene Logos, der – wie es wörtlich heißt – unter uns zeltete, also eine ganz fragile Wohnstatt aufschlug, er ist so etwas wie eine „’Wieder-Holung’ der durch Mose vermittelten Sinai-Erfahrung“, eine Wiederholung freilich, die zugleich darin neu ist, dass sie nun „in der Person des Mittlers selbst geschieht“. Und in dieser Fleisch-Herrlichkeit ist Gottes Güte und Treue, die schon die Mitte der mosaischen Sinaioffenbarung war, „in so bislang nicht geschauter Gestalt präsent geworden.“ (Zenger) Was dieser Jesus sagte, was er tat, wie er war, so ist Gott, wenn er sich dem Menschen zuwendet, um sich ihm mitzuteilen.

Dieses Ineinanderlesen von Exodus-Buch und Johannesevangelium kann sich auch auf frappierende Zeugnisse der Kirchenväter stützen: Gregor von Nyssa etwa schreibt, hier werde Mose, der Gott zu sehen verlange, belehrt, wie allein dies möglich sei: Gottes Rücken – sein Nachher – schaut, wer Gott hinterher geht, wohin er auch führt – das ist: Gott sehen. Und klar natürlich, dass das Stichwort „nachfolgen“ einen konkret-praktischen Unterton einspielt: Hinter Gottes Rücken hergehen heißt: in Jesu Nachfolge eintreten und darin besteht das Sehen Gottes. Wieder also die gelebte Gotteserfahrung als Quelle der Offenbarung.

Unvermittelter Erfahrung von Überweltlichem sind wir nicht gewachsen. Vermittelt wird sie durch den Vorübergang und die Bedeckung, also durch Zeit im Sinn von Geschichte als Abfolge von Vorher und Nachher und die damit verbundene Begrenzung der Zugänglichkeit ihres Inhalts. Die Rückseite reicht, um in der Wahrheit zu sein.

V
Dies alles vorausgesetzt, lässt sich bibeltheologisch als aus der jüdisch-christlichen Glaubensgeschichte gewachsene Sammlung von Worten begreifen, die aus der innersten Existenzmitte gläubigen Selbstverständnisses geboren, mit dem Vokabular und der Grammatik menschlichen Daseins verlautbart wurden und sich geschichtlich – und zwar immer wieder – bewährt haben und bewähren und darum „Wort Gottes" sind. Eben dies meinte auch der große evangelische Exeget Rudolf Bultmann mit der These, Wort Gottes im Menschenwort habe sein Hauptkriterium darin, dass es Anrede sei und deshalb Anerkennung fordere. Unter „Anrede" versteht er ein Wort,
„das dem Menschen ihn selber zeigt, ihn sich selbst verstehen lehrt,... so, dass das Ereignis der Anrede ihm eine Situation des existentiellen Sich-Verstehens eröffnet... Anrede stellt ...(darum auch) in die Entscheidung."
Dass ein biblisches Wort einen Menschen in diesem Sinn anredet und solchermaßen sozusagen zur Bewährungsprobe in erster Person auffordert, lässt sich weder seitens des Hörers noch des Verkünders eines solchen Wortes planvoll erzeugen oder erzwingen. Wort Gottes ist gerade hinsichtlich seines Wort-Gottes-Charakters unverfügbar. Für dieses komplexe Geschehen, das gewiss nicht ohne Anteile von Dispositionen, geschichtlich-biographischen Randbedingungen und Entscheidungen, aber ebenso wenig durch diese allein erklärt werden kann, hat sich seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts der aus der Sprachlogik kommende Begriff der „disclosure" eingebürgert. Man kann den Ausdruck etwas salopp mit „Aha-Erlebnis" übersetzen. Das wohl bekannteste Beispiel für eine disclosure-Situation ist das vexierbildhafte Umkippen einer Vieleckwahrnehmung in eine Kreiswahrnehmung. Letztendlich lässt sich das Eintreten einer disclosure nur als glückhaft begreifen, theologisch gesagt: als gnadenhaftes Geschenk. Kommt es zu einem solchen Aha-Erlebnis in den fundamentalen Dimensionen unseres Ver-ständnisses der Welt und unser selbst, dann geschieht das, was „Offenbarung“ meint. Die Heilige Schrift bewahrt das Wichtigste aus diesen Schätzen der Einsicht, damit sie immer neu entdeckt und angeeignet werden können. Und die Traditionen der Kirchen umspielen sie mit ihren Bildern und Poesien. Das heißt schlussendlich auch: Wenn und in dem Maß wir das Wagnis des Glaubens eingehen, werden wir selber an Gottes Seite gleichsam zu Co-Autoren und -Autorinnen der Offenbarung. Anders gewendet: Gott beteiligt uns an dem, was er uns sagen will. Sehr viel moderner, scheint mir, kann man von Gott eigentlich nicht denken. Dass kirchliche Amtsträger dieses Spiel der Freiheiten bisweilen durch autoritäres Gebaren arg verdunkeln, soll unseren Glauben an einen Gott, der seine Geschöpfe so groß gewollt hat, nicht beirren.