Abenteuer des Gottdenkens – Navigationshilfen an den Grenzen des Wissens
Fastenpredigt Katholische Stadtkirche Nürnberg 2015
I
Gott ist in den letzten zehn, fünfzehn Jahren mächtig ins Gerede gekommen. Ich denke dabei gar nicht so sehr an den sogenannten „Neuen Atheismus“, der aus angelsächsischen Ländern zu uns herüberschwappte und meist mit abgedroschener, alter Polemik Wind zu machen versuchte: ein Dawkins mit seinem Buch „Gotteswahn“, ein Christopher Hitchens mit dem Pamphlet „Gott ist kein guter Hirte“, in dem er religiöse Erziehung mit sexuellem Kindesmissbrauch auf eine Stufe stellte. Ich denke auch nicht an die deutschsprachigen Epigonen der „New Atheists“, die unter anderem antireligiöse Kinderbücher auflegen, die mit ihren grellen Klischees nicht weit von den Karikaturen der Nazi-Zeitschrift „Stürmer“ entfernt liegen.
Nein, ungleich bedeutsamer ist die seit gut anderthalb Jahrzehnten laufende Debatte, ob es einen inneren Zusammenhang zwischen Religion, genauer zwischen den monotheistischen Religionen und Gewalt gibt. Seit dem Massaker an der Redaktion des französischen Satireblatts Charlie Hebdo am 07. Januar dieses Jahres durch zwei islamistische Dschihadisten beschäftigt dieses Thema quasi die Weltöffentlichkeit. Und dort, wo das ernsthaft – und nicht nur wiederum polemisch – geschieht, taucht immer auch die Frage auf, wie denn mit religiösen Wahrheitsansprüchen, speziell auch den aus den heiligen Büchern der Religionen, umzugehen sei, damit diese nicht in ihre gewaltförmige Durchsetzung abdriften, und zwar selbst dort nicht, wo sie ausdrücklich von Gewalt handeln, denn dazu finden sich Stellen keineswegs nur im Koran, sondern genauso im Tenach, also der Bibel des Judentums, dem christlich sogenannten Alten Testament sowie selbst im Neuen Testament (Sie brauchen nur einmal dessen letztes Buch, die Offenbarung des Johannes, aufzuschlagen). Mit diesem Problem kommt nur eine Kunst der Auslegung der heiligen Texte zurecht, die weiß, dass nicht alles, was da geschrieben steht, buchstäblich gemeint sein kann, sondern dass es auch eine Sprache der Affekte, der anthropomorphen Metaphern gibt, die der kritischen Aufklärung bedürfen und dennoch Wahres sagen.
II
In diesem Zusammenhang ist ein Gedanke wichtig geworden, der sich schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei den deutschen Philosophen Max Scheler und Peter Wust, später dann bei dem französischen Denker Paul Ricœur findet: „Zweite Naivität“ lautet der Name dafür. Gemeint ist damit Folgendes: Die heiligen Bücher werden zunächst kritisch gelesen, historisch analysiert, in ihrem literarischen Charakter gewürdigt: ob sie Mythos, Legende, Poesie oder Geschichtserzählung sind; sie werden auf ihren möglichen historischen Gehalt hin untersucht usw. Und dann werden sie nochmals gelesen so, als ob sie wahr seien – darum „zweite Naivität“, zweite nach der ersten Naivität, die sich um all die eben genannten Fragen keine Gedanken macht. Aber das Erstaunliche dabei ist, dass bei gar nicht wenigen Passagen der Bibel, von denen wir mit größter Sicherheit sagen können, dass sie gar nichts Historisches im Sinne von geschehenen Ereignissen oder nur sehr wenig davon beinhalten, – dass gerade diese Texte genau dadurch theologisch zu sprechen beginnen, dass man sie in dieser Als-Ob-Optik liest. Beispiele machen die Sache sofort klar:
Schon lange hat die Exegese herausgearbeitet, dass nicht nur etwa die Schöpfungsgeschichten oder wichtige Teile der Evangelien wie etwa die Kindheitsgeschichten literarisch gesehen theologisch komponierte Narrative, also Fiktionen sind, sondern genauso über weite Strecken die oft so historisch wirkenden Erzählungen des Alten Testaments: Für den Exodus haben wir nicht den Hauch einer historischen, geschweige denn archäologischen Spur. Und für die Landnahme Israels, die sogenannte Eroberung des gelobten Landes, haben wir solche Spuren – aber sie weisen gemessen an den Erzählungen in exakt die gegenteilige Richtung eines langsamen, jedenfalls nicht gewaltsamen Einsickerns nomadisierender Stämme in die Dörfer der sesshaften Bevölkerung. Ja, und den großen David, müssen wir uns eher als regionalen Dorfschulzen mit einer leicht aufgepeppten Wallfahrtskapelle vorstellen. Was aber hat es dann mit der religiösen Wahrheit solcher Traditionen auf sich?
III
Man kann sich den Gehalt dieses zentralen Gedankens wohl am ehesten an einem Konkretfall solcher Art von Fiktionalität verständlich machen. Auf singuläre Weise wird man diesbezüglich – und noch dazu unter dem Vorzeichen des Gottesgedankens – bei Thomas Mann fündig: zum einen in seinem vierbändigen Monumentalwerk Joseph und seine Brüder, zum anderen in der aus dem Vollendungsjahr des Josephs-Romans stammenden Novelle Das Gesetz, geschrieben 1943, als Mann um einen Text über den Dekalog und seiner Pervertierung durch die Nationalsozialisten gebeten wurde. Die Novelle handelt vom Gesetzgeber Mose, aber unter den Bedingungen der Religionskritik, also so, dass die Gebote nicht von Gott offenbart werden, sondern Mose diesen Gott und seine Weisung gleichsam hervordenkt – aber zugleich kann der Mensch nach Manns Überzeugung auf keine andere Weise zum Sittlichen auf letztverbindliche Weise motiviert werden.1 Im Josephs-Roman wird dieses Problem, wie etwas sozusagen in Wahrheit erfunden sein kann, sogar an etlichen prägnanten Stellen ausdrücklich bedacht. In der für uns einschlägigen Spitzenpassage schreibt Mann über Abraham, von dem es schon im einleitenden Vorspiel: Höllenfahrt des ersten Bandes geheißen hatte, eine „Gottesnot“2 habe ihn zum Verlassen seiner Heimat und zum Nomadendasein getrieben, – über diesen Abraham schreibt er Folgendes:
„So hatte Abraham Gott entdeckt aus Drang zum Höchsten, hatte ihn lehrend weiter ausgeformt und hervorgedacht und allen Beteiligten eine große Wohltat damit erwiesen: dem Gotte, sich selbst und denen, deren Seelen er lehrend gewann. Dem Gotte, indem er ihm Verwirklichung in der Erkenntnis des Menschen bereitete, sich selbst und den Proselyten aber namentlich dadurch, dass er das Vielfache und beängstigend Zweifelhafte auf das Eine und beruhigend Bekannte zurückführte, auf den Bestimmten, von dem alles kam, das Gute und das Böse, das Plötzliche und Grauenhafte sowohl wie das segensvoll regelmäßige, und an den man sich auf jeden Fall zu halten hatte. Abraham hatte die Mächte versammelt zur Macht und sie den Herrn genannt – ein für allemal und ausschließlich […].“3
Man muss dabei die Doppelrichtung des Prozesses im Blick behalten: Durch das Hervordenken Gottes, durch welches Abraham „gewissermaßen […] Gottes Vater“4 wird, wird Gott ein Gott „im Werden“5, aber was da wird, wirkt als durch und durch dringende Lebensmacht auf den Abraham und die Seinen zurück. Nochmals wörtlich Thomas Mann:
„Denn ihm gab Gott die Unruhe ins Herz um seinetwillen, dass er unermüdlich arbeite an Gott, ihn hervordenke und ihm einen Namen mache, zum Wohltäter schuf er sich ihn und erwiderte dem Geschöpf, das den Schöpfer erschuf im Geiste, die Wohltat mit ungeheuren Verheißungen. Einen Bund schloß er mit ihm in wechselseitiger Förderung, dass einer immer heiliger werden sollte im andern, und verlieh ihm das Recht der Erb¬erwählung, Segens- und Fluchgewalt, daß er segne das Gesegnete und Fluch spreche den Verfluchten. Weite Zukünfte riß er auf vor ihm, worin die Völker wogten, und ihnen allen sollte sein Name ein Segen sein.“6
In der Tat entfaltet Mann in dieser Theologie die Doppelgeschichte eines wechselseitigen Selbstwerdens Gottes und des Menschen.7 Den Mutterboden dieses Gedankens bildet dabei ein Traditionsstrom, der von Jakob Boehme über Hegel und Schelling, sodann Heine und Hebbel bis Rilke, Bergson, Whitehead und Teilhard de Chardin reicht. Im Josephs-Roman wird dazu das Mythische und das Geschichtliche, „Segen von unten und Segen von oben“8, wie Mann dafür sagt, ineinander gespiegelt, ohne die „wahr–falsch“-Unterscheidung in Sachen Religion aufzugeben. Und das Changieren der Erzählung „zwischen Finden und Erfinden“9 eröffnet jenen Freiheitsraum, in dem allein unter den Bedingungen der Moderne Religion so etwas wie Bindekraft entfalten kann. Nicht nur eine Geschichte erzählen, sondern auch ihr „[…] Erzähltwerden zu erzählen“10, das ist praktizierte „zweite Naivität“.
IV
Nehmen wir uns nochmals ein Beispiel vor, ein durchaus drastisches aus dem Neuen Testament, um den Grundgedanken so klar als möglich vor Augen zu bekommen: die Figur des Herodes aus der matthäischen Kindheitsgeschichte. Historisch-kritische Exegese ist sich heute durchgängig darin einig, dass der betlehemitische Kindermord nicht als historisch gelten kann, wohl aber das auch durch außer-neutestamentliche Quellen belegte Charakterbild des Herodes treffend einfängt: ein bei der Bevölkerung absolut unbeliebter Despot, der zu blindwütiger Raserei neigt, die nichts mehr schont: Wegen Verdachts auf Verschwörung ließ er drei seiner eigenen Söhne etwa im Jahre 7 v. Chr. hinrichten. Die Erinnerung an solche Ereignisse verblasst nicht so leicht. Der Protagonist war allgemein bekannt. Mit seinem Namen verbindet sich logisch notwendig das Stichwort „Kinder-Mord“. Solch hoch-pathologisches geschichtliches Handeln hat natürlich seine wohl bestimmten Motive im Handelnden: Es entlarvt ihn als von Herrschsucht, Machtstreben und vor allem Angst getrieben. Wenn nun die historische Geburt des Jesus-Kindes als Symbol eines gottgeschenkten Lebens zu lesen ist, das ob seiner Freiheit von den Mechanismen der Angst und ihren Konsequenzen nicht mehr Sein zum Tode ist, dann gibt der historische Herodes die ideale Rohmasse für ein Kontrastbild ab, gegen das das Evangelium vom neuen Leben ins sprachliche Bild gesetzt werden kann. Diese Rohmasse wird so lange geformt und verdichtet, bis die Perikope die vom Evangelisten gewünschte theologische Tiefenschärfe gewinnt – etwa durch die Geschichte von dem Massaker, die die bis ins Mark gehende Bedeutsamkeit der Alternative Jesus–Herodes zu versinnbilden hat, oder aber auch durch die Anreicherung mit der Episode der Ägypten-Flucht, durch die die wunderbare Errettung des Mose-Knaben zum Proto-Typ des Schicksals des Jesus-Kindes wird, des neuen Mose, der später vom Berg die neue Tora – die Bergpredigt – proklamieren wird usw. usw. In diesen Verweisungszusammenhängen kommt man faktisch an kein Ende. Fängt man an, ihnen nachzugehen, verstrickt man sich in die Geschichten. Und genau das ist die Absicht solcher Theopoetik, weil sie so im Leser oder Hörer ein regelrechtes Bibliodrama in Gang setzt, in dem er selbst mitspielt – um eben das als wahr und wirklich zu erfahren, wovon die Geschichten erzählen.
V
Dass die Schriften von Dawkins, Dennett, Hitchens und den anderen bei Gebildeten unter den Verächtern der Religion wie bei Unsicheren ihrer Befürworter ausweislich ihrer Auflagen und der öffentlichen Reaktionen solche Resonanz finden, leitet sich m.E. daraus, dass solches Lesen- und Hörenkönnen der Überlieferung in Theologie und Verkündigung nicht zureichend vermittelt und eingeübt wird. Im Wesentlichen sehe ich drei Ursachen dafür.
Die Erste: Theologie und Verkündigung haben flächendeckend bis dato nicht wirklich ihre seit der Moderne anstehenden Hausaufgaben gemacht: Die Praxis der historisch-kritischen Methode ist dafür nur ein elementarer Schritt, genügt aber nicht im Geringsten (eine Rückkehr allein zur altkirchlichen Auslegung à la Origenes natürlich genauso wenig). Treffsicher legt Dawkins zumindest diesbezüglich den Finger auf den wunden Punkt, wenn er der Theologie vorwirft, die Trennlinie zwischen wörtlichem und allegorischen Bibelverständnis in einem „‚moralische[n] Blindflug‘“11 zu ziehen. Dieser Kritik entgeht nur eine Hermeneutik, die darüber Rechenschaft zu geben vermag, wie im Zusammenspiel von Geschichte und Poesie wahrheitsfähige Sprechakte entstehen, die auch den Belastungstest der Frage aushalten, von welcher Wirklichkeit sie denn eigentlich reden.12
Ein Zweites: Nicht minder schwer wiegt, dass die Systematische Theologie, die bereits seit Kant und dem Idealismus unüberhörbar gewordenen kritischen Fragen an die klassische Rede von Gott bis heute weitgehend ignoriert und deswegen vom Neuen Atheismus unschwer in Sachen Gottesbild auf das Niveau eines Grundschulkatechismus festgenagelt werden kann. Es gibt schon zu denken, dass selbst laxe Agnostiker sagen, sie hätten unvergleichlich Aufschlussreicheres als aus Dawkins‘, Harris‘ und Dennetts Kampfschriften aus modernen theologischen Büchern gelernt, die sich an Kant, Spinoza und Schelling inspirieren und dann in Gedanken vorwagen wie etwa den, dass vielleicht Gottes größte Größe darin bestehen könnte, dass er sich klein macht, um anderen außer sich – also auch uns – Raum und Freiheit zu geben.
Und schließlich ein Drittes: Was mir ganz unabhängig von prinzipiellen Positionierungen in der theologischen Arbeit an der Gottesfrage zu wenig berücksichtigt scheint, ist zum einen, dass wir philosophisch den möglichen Anspruch eines Unbedingten immer nur als Echo im Medium unserer endlichen Vernunft vernehmen können. Zum anderen bleibt theologisch zu beachten, dass auch alle Gottesrede theologisch gesehen unter der Hypothek der Sünde geschieht – und darin wurzelt der Umstand, dass selbst die Rede von einem Gott der Liebe einer Logik der Parteilichkeit gehorcht, die auch noch den selbstbezogenen Tunnelblick des Sünders in die ohnehin unumgängliche Anthropomorphik aller Gottrede spiegelt. Eben dieses Problem brachte schon Johann Gottfried Herder exakt auf den Punkt, als er in einem Brief vom September 1787 ironisch seufzte:
„Die Leute wollen keinen Gott, als in ihrer Uniform, ein menschliches Fabelthier“13
– das ist Herders Variante des uralten, schon auf den Vorsokratiker Xenophanes von Kolophon zurückgehenden Anthropomorphismus-Arguments, dass sich Menschen ihre Götter nach ihresgleichen vorstellen und Tiere, hätten sie Götter, das genauso täten, gerade so, wie das 1800 Jahre nach Xenokrates und 400 Jahre vor Herder Nikolaus von Kues auf die geniale Formel bringt, so wie die Menschen in ihrem Welt- und Gottverhältnis „hominizant“, so würden „omnes leones leonizare“ (würden alle Löwen leonisieren).14 Feuerbach nochmals 40 Jahre später wird aus dem Motiv den Ansatz seiner wirkmächtigen Religionskritik und des ersten argumentativen Atheismus, besser: einer Anti-Theologie formen.
Anders Herder: Er nimmt die Krise des herkömmlichen Bildes von Gott, das einer über- und außerweltlichen Hyperperson, zum Anlass, einmal ganz andere Gedanken zu wagen, übrigens gar nicht so bibelfern, wenn man genau hinhört.
„Ist denn Gott nicht jenes ureine Geheimnis, das da spricht: ‚Ich bin, der ich bin, und ich werde in allen Veränderungen meiner Erscheinung […] sein, was ich sein werde.‘ […] Was Ihr, lieben Leute, mit dem ‚außer der Welt existieren‘ wollt, begreife ich nicht: existiert Gott nicht in der Welt, überall in der Welt, und zwar überall ungemessen, ganz und unteilbar […], so existiert er nirgends. Außer der Welt ist kein Raum; der Raum wird nur, indem für uns eine Welt wird. Eingeschränkte Personalität paßt aufs unendliche Wesen ebenso wenig, da Person bei uns nur durch Einschränkung wird […]. In Gott fällt [dies] weg; er ist das höchste lebendigste, tätigste Eins – nicht in allen Dingen, als ob die was außer ihm wären, sondern durch alle Dinge, die nur als sinnliche Darstellung für sinnliche Geschöpfe erscheinen.“
VI
Keine Frage: Herder war keine theologische Koryphäe, so vieles ist da erst nur angedeutet, unausgedacht. Und doch hat er einen Punkt getroffen, dem die größten seiner Zeitgenossen, ein Fichte, ein Schelling, ein Hegel und Hölderlin bohrend nachgehen mussten, weil sie nicht anders konnten, und der die Theologie im Ringen um das rechte Reden von Gott nie mehr losließ und auch nicht loslassen darf: dass es da unerachtet aller Differenz zwischen Gott und Mensch, Himmel und Erde etwas gibt, einen Punkt, da das Unterschiedene sich berührt, ineins schwingt, ja einen Moment lang eins ist, weil wir sonst in unserer Endlichkeit schlichtweg nichts wüssten von dem ganz Anderen und je Größeren. Und dass wir in diesem Lidschlag der Berührung ahnen, dass wir diesem Größeren nicht fern gegenüber stehen, sondern uns in ihm bewegen und in ihm leben, weil außer ihm gar nichts sein kann, wenn es je das Größere ist, über das hinaus also Größeres gar nicht gedacht werden kann. Und, ja dies auch: dass es gar nichts Persönlicheres geben kann als das, was mich derart im Innersten meines Daseins meint und anrührt.
VII
In solchem Nachdenken auf ungewohntem Weg bestärkt mich sehr, dass dieser Gedanke, wir müssten Gott als persönlich und als alles in allem zugleich denken, am überzeugendsten dort laut wird, wo Menschen aus illusionsloser Klarheit über das Leben oder aus ans Mark gehender Bedrängnis von Gott oder zu Gott sprechen. So kann ein Karl Rahner etwa einem Menschen in der Gottesnot und Glaubenssorge eines scheinbar leeren Herzens tröstend sagen:
„Welcher Gott ist Dir eigentlich in dieser Leere des Herzens fern? Nicht der wahre und lebendige Gott, denn dieser ist ja gerade der Unbegreifliche, der Namenlose, damit er wirklich der Gott Deines maßlosen Herzens sein kann. Fern ist Dir nur geworden ein Gott, den es nicht gibt: ein begreiflicher Gott […], ein sehr ehrwürdiger – Götze. […] Laß in diesem Geschehen des Herzens ruhig die Verzweiflung Dir scheinbar alles nehmen […]. Denn, wenn Du standhälst […], dann wirst Du plötzlich inne werden, daß dein Grabeskerker nur sperrt gegen die nichtige Endlichkeit, daß seine tödliche Leere nur die Weite einer Innigkeit Gottes ist, daß das Schweigen erfüllt ist von einem Wort ohne Worte, von dem, der über allen Namen und alles in allem ist. Das Schweigen ist Sein Schweigen: Es sagt Dir, daß er da ist.“15
Dass Rahner gerade im Zusammenhang von Sorge, Not und Tod diese Intuition der Unmittelbarkeit anklingen lässt und es sich bei dieser Denkform also um alles andere als eine leid- und theodizee-vergessene Schönwetter-Theologie handelt, sollte hellhörig machen – und zwar um so mehr, als Rahner dabei nicht allein steht. Wenigstens eine Stimme sei noch aufgerufen: Der von den Nazi hingerichtete Jesuit Alfred Delp schrieb am 17. November 1944 aus dem Gefängnis:
„[D]ie Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen. Wir aber sind oft blind. Wir bleiben in den schönen und in den bösen Stunden hängen und erleben sie nicht durch bis an den Brunnenpunkt, an dem sie aus Gott herausströmen. Das gilt für sehr viel […], für alles Schöne und auch für das Elend. In allem will Gott Begegnung feiern und fragt und will die anbetende, hingebende Antwort.“16
Von einem Gott reden, der darin persönlich ist, dass er uns in allem, was uns berührt und zu allertiefst in uns selbst im Geheimnis unseres Ichseins sozusagen erstpersönlich entgegenkommt, das ist in dogmatischen Handbüchern zwar nicht vorgesehen. Aber – um ein Wort Lichtenbergs abzuwandeln: Wenn ein Handbuch und ein von Herzen gottsuchender Kopf zusammenstoßen und es hohl klingt, muss es dann unbedingt am Kopf liegen? Nur dürfen wir nicht vergessen, dass Gott auch noch größer ist als der kühnste Gedanke, den wir über ihn wagen.
1 Vgl. dazu auch Kuschel, Karl-Josef: Moses, Monotheismus und die Kultur der Moderne. In: Assmann, Jan: Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus. München 2003. 273–286.
2 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der erste Roman: Die Geschichten Jaakobs. 10. Aufl. Frankfurt a.M. 2000. 16.
3 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der zweite Roman: Der junge Joseph. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 2000. 42.
4 Mann: Joseph. Der zweite Roman (Anm. 3). 44.
5 Mann: Joseph. Der erste Roman (Anm. 2). 53.
6 Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der vierte Roman: Joseph, der Ernährer. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 2000. 279–280.
7 Assmann, Jan: Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006. 34–35.
8 Assmann: Thomas Mann (Anm. 7). 208.
9 Assmann: Thomas Mann (Anm. 7). 177.
10 Kurze, Hermann: Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Josephs-Roman. Frankfurt a.M. 1993. Nachdr. 2003. 158.
11 Dawkins, Richard: Der Gotteswahn. 2. Aufl. Berlin 2007. 329.
12 Vgl. erste Hinweise dazu in Müller, Klaus: Streit um Gott. Politik, Poesie und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild. Regensburg 2006. 226–229.
13 Herder, Johann G.: Brief an Fr. L. W. Meyer. In: Ders.: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. Hrsg. v. Karl-Heinz Hahn. Bd. 5. Weimar 1979. Nr. 226. 238.
14 Nikolaus von Kues: Dialogus de Genesi. 437. – Vgl. dazu Hagencord, Rainer: Diesseits von Eden. Verhaltensbiologische und theologische Argumente für eine neue Sicht der Tiere. Mit einem Geleitwort von Jane Goodall. Regensburg 2005. 164–165.
15 Rahner, Karl: Kleines Kirchenjahr. München 1954. 63–65.
16 Delp, Alfred: Gesammelte Schriften IV. Frankfurt a.M. 1984. 26.