Falsch gefragt

5. Fa C: Joh 8, 1-11

I
Als der spanische Diktator Franco starb, sollen ihm die Generäle seiner Regierung versichert haben: Generalissimo, ganz Madrid steht draußen vor dem Palast, um sich von Ihnen zu verabschieden. – Warum?, fragte der Generalissimo. Wo wollen sie hin?

II
Merke: Es gibt nicht nur falsche Antworten. Es gibt auch falsche Fragen. Grundfalsche sogar. Grundfalsch, weil sie die Perspektive verwechseln.

III
Mit genau einem solchen Fall konfrontiert uns auch das heutige Evangelium. Die frühen Christen haben sich mit ihm ziemlich schwergetan. So sehr, dass in den Jahrzehnten nach Jesu Tod, als die Evangelien ihre endgültige Fassung erhielten, keiner der Evangelisten diese Geschichte haben wollte. Am Ende hat man sie dann dem Johannes zwischen zwei Kapiteln versteckt untergeschoben. Noch heute steht sie dort in den griechischen Ausgaben des Neuen Testaments in eckigen Klammern. Die Geschichte wegzulassen, wagte man auch nicht, trägt sie doch zu deutlich die persönliche Handschrift Jesu. Gerade aber, weil sie den christgläubigen Seelen so sehr zu schaffen machte und macht, tun wir gut daran, ganz Ohr zu sein, was da gesagt sein will.

Es war in der letzten Woche vor Palmsonntag, an einem jener Tage, da Jesus im Jerusalemer Tempel lehrte. Da schleppten die Schriftgelehrten und Pharisäer eine Frau vor ihn, die man beim Ehebruch ertappt hatte – ein Vergehen, das nach dem Gesetz die Todesstrafe nach sich zog. Die Rechtslage ist klar – die Frau leugnet nicht. Dennoch haben die Männer die schuldige Frau nicht grundlos zu Jesus gebracht. Denn mit ihrer Frage: Nun, was sagst du?, haben sie Jesus einen Fallstrick gespannt, einen todsicheren, wie sie meinen. Sie erwarten, dass er sich verheddern wird in dieser heiklen Angelegenheit. Denn: Verweist er auf das Gesetz und die von ihm vorgesehene Todesstrafe, da könnten sie ihm barbarische Strenge vorwerfen. Man hat nämlich zur Zeit Jesu heftig diskutiert, ob denn die Todesstrafe bei Ehebruch nicht doch zu hart sei. Jedenfalls: Wäre er dafür, dann hätten sie guten Grund zu fragen, wo denn auf einmal seine Menschlichkeit geblieben sei, die er doch sonst überall praktiziere und verkündige. Wenn er sich aber gegen die gesetzliche Strafe ausspräche, dann könnten sie ihm Laxheit vorwerfen und ihm geradewegs ins Gesicht sagen, dass es wohl mit seiner Frömmigkeit ganz schön hapern muss, weil er Gott ja wohl nicht gar so ernst nimmt, wenn er ein solches Vergehen so herunterspielt. Was immer er antworten würde, er tappt in eine Falle. Und die wird ihnen ein kleines Stückchen weiterhelfen in dem Versuch, ihm das Handwerk zu legen.

Und was tut Jesus? Er bückt sich und schreibt in den Sand. Das tut er nicht, um Verlegenheit zu überspielen, und nicht, um sich vor einer Antwort zu drücken. Seine wortlose Geste gibt vielmehr eine Antwort, wie sie schärfer und eindeutiger nicht ausfallen könnte – allerdings eine Antwort, wie sie die Schriftgelehrten auch nicht erwartet hatten. Indem Jesus nämlich in den Sand schreibt, setzt er ein altes prophetisches Zeichen. Ein Zeichen, das jeden, der des Alten Testaments kundig war, treffen musste wie der Blitz. An einer Stelle im Buch des Propheten Jeremia heißt es nämlich: Alle, die dich verlassen Herr, werden zuschanden, die sich von dir abwenden, werden in den Staub geschrieben, Jeremia 17,13.

In den Staub geschrieben – soviel ist wert in Gottes Augen, was da vor Jesu Augen geschieht. Keiner, kein einziger kann da vor Gott bestehen mit dem, was er ist und was er tut. Nicht nur die Frau nicht. Auch die anderen nicht, die ihre Verurteilung suchen. Auch das ist so wertlos wie ein paar in den Sand gekritzelte Worte, die schon ein leichter Windstoß für immer wegwischt. Und warum das? Da die Schriftgelehrten hartnäckig weiterfragen, als ob sie nicht verstanden hätten, spricht Jesus in ungeminderter Wucht aus, was seine Geste gesagt hatte: Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als erster den Stein auf sie. – Das dringt bis ins Mark.

IV
Bei einer Steinigung musste der Zeuge der Untat den ersten Stein auf den Täter werfen. Damit übernahm er die volle Verantwortung für die Hinrichtung. Jesu schneidendes Wort freilich lässt keinen Zweifel, dass solche Verantwortung überhaupt nur übernehmen könnte, wer sich selbst frei wüsste von jeglicher Schuld und Sünde – also keiner. Und das hat getroffen – im Innersten. Darum geht einer nach dem anderen fort, die Ältesten zuerst, jene also, die die meiste Lebenserfahrung mitbringen. Sie wissen untrüglich, dass kein einziger beanspruchen darf, ohne jedes Schuldigwerden sein bisheriges Leben gelebt zu haben. Und sie gehen weg, weil sie – vielleicht gegen erbitterte Widerstände in ihrem eigenen Innern – genauso untrüglich spüren, dass eben deswegen kein Mensch das Recht hat, über einen anderen ein moralisches Urteil zu fällen und Strafe zu verhängen. Die Schriftgelehrten verstehen das, darum ihr Weggehen.

Allein Jesus und die Frau sind jetzt noch übrig. Jesus holt sie heraus aus ihrer Verlegenheit, indem er die Schuldfrage erst gar nicht stellt, sondern: Hat dich keiner verurteilt? – Keiner, Herr, sie darauf, ganz erleichtert. Und er: Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr! Da haben sie in zwei Sätzen zusammengefasst, warum die Frohe Botschaft „Frohe Botschaft“ heißt. Jesus geht auf die Ehebrecherin zu, nimmt sie vollmächtig in die Gottesgemeinschaft auf – so wie sie jetzt ist, ohne vorausgehendes Urteil. Und er vertraut darauf, dass solche Sündenvergebung sie im Innersten trifft und zur Umkehr bewegen wird. Diese voraussetzungslose Vergebung ruft die Umkehr hervor. Umkehr geschieht also nicht mehr als Bedingung, sondern als Folge der Vergebung. Davon war übrigens auch Thomas von Aquin überzeugt: Für ihn geschah das Entscheidende an der Buße beim Betreten des Beichtstuhls, die Lossprechung war für ihn das Siegel auf die bereits geschenkte Vergebung.

V
Jesus hat der Frau bedingungslos einen neuen Anfang geschenkt, weil er weiß, wie bedingungslos Gott selber für den Menschen ist. Jesus heißt die Tat der Frau nicht gut. Aber: er tut, was einzig und allein menschliche Schuld überhaupt jenseits aller Entschuldigungsmechanismen wirklich lösen kann – er befreit die Frau aus ihrer Verstrickung umsonst, gratis – aus Gnade also, weil Gott Gott ist für uns. Mit Aburteilen und Bestrafen wird nämlich nichts gelöst. Das hätte die Frau nur endgültig eingesperrt in ihre Schuld. Jesus hat sie befreit daraus. So ist Gott. Genau für diese umstürzende Botschaft hat Jesus wenig später mit dem Leben bezahlt. Aber Gott hat ihm recht gegeben – wir sagen dafür: er hat ihn auferweckt. Weil Gott alles liegt an dieser Botschaft.

Jesus und die Ehebrecherin. Die Geschichte rührt wohl jeden an, der ihr nachsinnt. Ist sie deswegen ein Rührstück? Das Gegenteil davon: eine Zumutung ist sie geblieben bis heute. Wir können uns doch ein menschliches Zusammenleben in der Gesellschaft und nicht einmal in der Kirche gar nicht vorstellen ohne Regulierungen durch Urteil und Strafe. Und wer verzichtet denn auch nur im kleinen Umkreis seines Werktagslebens auf das Beurteilen anderer – wo das doch so viel Befriedigung verschaffen kann über die eigene moralische Qualität. Wo sollen wir da noch hin mit dem heutigen Evangelium? Damit haben die Christen vor allem Anfang an ringen müssen. Denn es setzt ja ungeheuer viel Hoffnung auf die geistliche Feinfühligkeit eines Menschen voraus, wenn ich ihm Schuld bedingungslos vergebe im Vertrauen, dass gerade der Akt dieser Vergebung ihn zuinnerst verändern wird zum Guten hin.

Die alten Kirchenordnungen aus der Zeit des Neuen Testaments und kurz danach sind ganz geprägt vom Ringen mit dieser Not. Aber dennoch hat in ihnen allen die Barmherzigkeit das erste Wort behalten – und das letzte nach allen Ge- und Verboten. Je mehr sich aber dann die Kirche über lange Jahrhunderte hin als Heilsanstalt und Apparat verstand, desto weniger konnte sich Jesu Botschaft von der bedingungslosen Vergebung vernehmlich machen. Darum hat das Urteilen und Aburteilen eine so große Rolle spielen können in der Kirche – in Sachen Ehe und in Sachen Rechtgläubigkeit zumal tut es das ja bis heute.

Dennoch bleibt diese Geschichte aus dem Johannesevangelium bis heute ein Stachel im Fleisch der Kirche. Er lässt sie nie vergessen, dass Gott anders mit Schuld umgeht als Menschen. Und es ist der bleibende Stachel im Fleisch jedes einzelnen Christen, denn: Wer die Geschichte von der Ehebrecherin hört, der wird herausgefordert: Ob er lieber auf Urteil und Strafe setzt, weil doch Ordnung sein muss. Oder ob er Gott zutraut, wirklich Neues zu schaffen, indem er eine  Seele verwandelt dadurch, dass einer dem anderen um Gottes willen vergibt ohne Bedingung. Bekehrung durch Bestürzung. Gewiss ein ohnmächtiges Instrument. Aber keines greift tiefer.

VI
Und noch eins: Natürlich hören wir diese Geschichte nicht zufällig am letzten Sonntag vor der Heiligen Woche. Sie ist vielmehr so etwas wie eine letzte Stellprobe vor der höchsten Feier unseres Glaubens: Nur wer wenigstens von ferne so etwas wie eine Ahnung von diesem Umsonst der Vergebung, von der Zuvorkommenheit Gottes gewonnen hat, nur der und dem wird zu Herzen gehen, was die Passionsgeschichte erzählt. Und nur dem und der wird aufgehen, warum die Ikone, das Gleichnis dieses „Umsonst“ in Menschengestalt, Jesus, – warum der dann, wenn er eben wegen dieses „umsonst“ aus der Welt hinausgeworfen wird auf Golgota, dennoch nicht verloren gehen kann: weil sonst Gott nicht mehr Gott wäre. Wenn aber Gott Gott ist, versteht sich der Ostermorgen von selbst.  Genau das feiern wir bald.