Was uns ans Danken erinnert
Erntedank B: Lk 17, 11-19 + Dtn 8, 7-18
I
Bevor die Ureinwohner Australiens durch das Vorbild weißer Einwanderer von ihren Überlieferungen abgebracht wurden, beseelte sie heilige Scheu, Blut zu vergießen. Weder schlachteten sie Tiere noch gab es Menschenmord. Aber eines taten sie: zu einer bestimmten Zeit des Jahres schlitzten sie sich eine Ader im Unterarm auf und ließen ihr Blut eine Weile auf die Erde tropfen. Als man einen Stammeshäuptling befragte, was denn das zu bedeuten habe, gab er zur Antwort: mit unserem Blut geben wir der Erde ein wenig von dem zurück, was wir von ihr genommen haben. So danken wir ihr für ihre Geschenke. Wenn wir nur noch nähmen, würde die Erde unsere Feindin und die Menschen töteten einander.
II
Was besteht da für ein geheimnisvoller Zusammenhang zwischen dem Dank des Menschen und seiner Friedfertigkeit gegen die Tiere und untereinander? Gar nichts Mysteriöses, gar Romantisches waltet da. Nur die Grundform der Wahrhaftigkeit des Menschen sich selbst gegenüber macht sich darin kund: die Anerkenntnis, über Grund und Gang unseres Daseins nicht selbst zu verfügen, sondern verdankt zu sein. Wer weiß, dass er nicht Herr über sich selber ist, schwingt sich auch nicht zum unumschränkten Beherrscher Seinesgleichen und des ihn nährenden Bodens auf. Es scheint, wir Menschen müssen um diese humane Wahrheit deshalb so mühsam ringen, weil sie so selbstverständlich ist – und nicht nur heute, da die Abendländer einen noch nie da gewesenen Wohlstand genießen. Schon in biblischen Zeiten war das nicht anders.
III
Das Evangelium von heute handelt ja eben von dieser Wahrheit unseres Verdanktseins und davon, wie leicht sie aus den Augen geraten kann. Da sind zehn Aussätzige; das Gesetz schreibt ihnen vor, draußen, außerhalb der Dörfer und in Distanz zu den Vorübergehenden zu bleiben. Wer aussätzig war, war ausgesetzt und damit abgeschnitten von jedweder Hilfe, die ihn hätte befreien können aus seiner Isolation. Was einzig ihm noch blieb, war: Rufen und Bitten. Bitten tut, wer aus sich nichts mehr vermag und – oft genug schmerzlich – weiß, dass sein Bestandhaben nicht mehr in seinen Händen liegt. Bei keinem Menschen ist das der Fall. Aber keiner weiß das besser als die Aussätzigen. Darum stehen die Zehn in der Wahrheit. Und darum auch braucht Jesus gar kein sichtbares Zeichen mehr zu setzen wie bei den meisten anderen Heilungen, um die Betroffenen erst für die Wahrheit zu öffnen. Durch ihre Wahrhaftigkeit sind die Zehn bereits geöffnet für den Glauben, der sie rettet.
Darum sagt ihnen Jesus einzig: Geht! – Ohne Versicherung, dass ihre Bitte erhört werden wird; sie glauben ja. Glauben ist so viel wie heil werden. – Geht und zeigt euch den Priestern; denn die haben offiziell zu bestätigen, dass der Aussatz geheilt, dass also die Gefahr für das Gemeinwesen gebannt ist und die Betroffenen darum wieder aufgenommen werden können in die Lebensgemeinschaft ihrer Familien und Dörfer. Zehn Aussätzige brachen auf – voll Glauben. Zehn werden geheilt – aus Glauben. Einer kehr zurück. Einem war die menschliche Konsequenz der Heilung – sein persönlicher Gewinn, wieder überall mit dabeizusein –, einem war das zweitrangig gegenüber dem, der ihn geheilt hat. Er preist Gott und ehrt den, durch den er Heilung erfahren, seine wieder gewonnene Integrität erlangt hat, weil er sie ihm im Namen Gottes schenkte.
Und jetzt der aufregendste Satz der ganzen Geschichte: Und dieser Mann war aus Samaria, weiß das Evangelium. Alle zehn waren gläubig; einer hat das Danken nicht vergessen. Und der war kein Israelit, sondern ein Samariter, ein Fremder. Also einer, der hier im Land des Volkes Gottes nicht dazugehört, der keine Ansprüche hat, der hier nicht daheim, nicht sesshaft ist – er vergisst das Danke sagen nicht. Dank kommt bekanntlich von Denken. Der Mann aus Samaria gedachte auch im übergroßen Glück seiner Heilung noch der Wahrheit über sich: dass er alles, was ihm nottut, – dass er sich selbst einem verdankt. Dies anzuerkennen, das lässt ihn danken und genau das macht ihn so sehr zum Gottesreich gehörig, d.h. so sehr menschlich nach dem Maßstab des Evangeliums, dass Jesus ihm sagen kann: Steh auf und geh deiner Wege! Dein Glaube hat dir geholfen.
Seltsam, dass ausgerechnet dieser Fremde, der sich nicht einrichten kann da, wo er ist, und der weiß, dass er nicht wie selbstverständlich hierher gehört und darauf ein Anrecht besitzt, dass der als Einziger tut, was doch eigentlich als selbstverständlich zu erwarten stünde, wie auch Jesu Fragen an ihn, den Zurückgekehrten andeuten, ob denn nicht alle zehn rein geworden seien – und die übrigen neun, wo sie seien. Doch seltsam nur scheinbar auch dies: In der Lesung aus dem Buch Deuteronomium vorhin hörten wir, was Mose dem Volk kurz vor dem Einzug ins gelobte Land regelrecht einschärfte: Wenn der Herr, dein Gott, dich in ein prächtiges Land führt, ein Land, in dem dir nichts mehr fehlt, ... wenn du gegessen hast und satt geworden bist und prächtige Häuser gebaut hast, dann nimm dich in acht, dass dein Herz nicht hochmütig wird und du den Herrn, deinen Gott vergisst, der dich aus dem Sklavenhaus Ägyptens und durch die furchterregende Wüste geführt hat. Um es vor gottvergessenem Eigendünkel – also Undank – zu bewahren, erinnert Mose das Volk an die Zeit der großen Wanderung, an die Zeit des Wüstenzuges, da die Israeliten bis zum Grund erlebten, was sie zutiefst ihrem Wesen nach sind: Wanderer auf Erden, zwischen Aufgang und Untergang, zwischen Geburt und Grab, Fremde – Herren nicht einmal im Haus des eigenen Lebens. Wesen stattdessen, die nicht über ihr eigenes Woher und Wohin verfügen. Wer gedenkt, dass er von Wesen Wanderer ist auf Erden, vergisst das Danken nicht so leicht.
Wenn einer eben ob der Anerkenntnis dieser Wahrheit über sich vertraut und dankt, tut er, was seinem Wesen entspricht. Darum machen Glaube und Dank zusammen erst uns zu Bürgern des Gottesreiches: dass wir von Gott her und auf ihn hin lebend ganz wir selber sind. Nicht danken heißt Gott sagen: Du schuldest mir, dass es mich gibt. Und mit Sicherheit nicht lange, dann wird, wer so denkt, den Schuldner selbst loszuwerden suchen, um sich Grund und Halt allein zu geben – um jeden Preis; und jeder gegen jeden darum. Wer nicht dankt, nimmt nur noch. Und nimmt immer mehr, weil er nicht gewiss ist, ob das Genommene reicht, bis ihm die Erde Feindin wird und der Nächste verhasste Rivale, den es zu beseitigen gilt. Wer nicht dankt, muss darum eines Tages zerstören und töten. Wer nicht dankt, wird verwildern im buchstäblichen Sinn des Wortes. Die Vorväter unseres Glaubens haben das gewusst. Die früher gedankenlos sogenannten „Wilden“ Australiens haben es gewusst. Wir könnten es schon längst wissen, weil die Folgen des Undanks unübersehbar geworden sind an der Schöpfung und an unserm Umgang miteinander. Wollen wir es wissen?
IV
Ein schöner Altarschmuck am Erntedankfest heute ist gewiss ein gutes Zeichen. Aber er reicht noch lange nicht, um der Wahrheit ihr Recht zu geben. Viel wichtiger ist, eingedenk zu sein, dass wir jeden Sonntag bei der Eucharistiefeier – zu deutsch bei der Danksagung – genau das tun, was die Aussätzigen im heutigen Evangelium taten: Wir begegnen dem Herrn, wir bitten um sein Erbarmen, indem wir rufen "Kyrie eleison", Herr, erbarme dich. Wir gehen ein in ein heiliges Geschehen, das Hochgebet, um gewandelt, d.h. an der Seele geheilt hervorzugehen. Wir wenden uns dankend und im Lobpreis durch Christus Gott, dem Vater zu: Durch ihn und mit ihm und ihm ist dir, Gott, alle Herrlichkeit und Ehre.... Und am Ende hören wir: Gehet hin in Frieden – geht, euer Glaube hat euch geholfen, – wenn wir glaubend gekommen sind. Und dann gehen wir hin und durchwandern die Gänge unsers gelebten Werktages. Wer sich dabei nicht einfach treiben lässt, sondern wacher Sinne seiner Wege geht, wird bald merken, wie wahr ist, dass, wer sich unterwegs weiß, das Danken nicht so leicht vergisst. Weil er oder sie wahrnimmt, wie viel Unwägbares bestanden zu werden verlangt, wie viel Unerzwingbares im Gewand der Hoffnung in den Gleichungen des Lebens, die wir uns entwerfen, zugange ist, und wie gerade das Selbstverständlichste unseres Daseins – dass wir wir sind und uns meinen, wenn wir "ich" sagen – im Unverfüglichen gründet. Wie könnte, wer so geschärften Geistes lebt, anders, als bald zu neuerlichem Dank hierher zurückzukehren. Sagten wir hier Sonntag für Sonntag innerlichst Ja zu dem, was die Worte und Gesten dieser Stunde meinen – die Welt sähe ein Stück anderes aus.