Einübung ins Leben
12. So C: Lk 9,18-24
I
Eine armenische Geschichte weiß von einem Zimmermann, den eines Abends ein Freund auf dem Heimweg anhielt und fragte, warum er so traurig dreinblicke. Wärest du in meiner Lage, antwortete der Zimmerer, du empfändest wie ich. – Erkläre dich, sprach der Freund. – Bis morgen früh, sagte der Zimmermann, muss ich 11 111 Pfund Sägemehl aus Hartholz für den König bereit haben, oder ich werde enthauptet. – Der Freund des Zimmerers legte ihm den Arm um die Schulter. Mein Freund, sagte er, sei leichten Herzens. Lass uns essen und trinken und den morgigen Tag vergessen. Der allmächtige Gott wird, während wir ihm Anbetung zollen, statt unser des Kommenden eingedenk sein.
So gingen sie also zum Haus des Zimmerers, wo sie dessen Frau und Kinder in Tränen fanden. Den Tränen wurde – wie der Freund geraten hatte – durch Essen und Trinken, Reden, Singen, Tanzen und andere Art von Gottvertrauen und Güte Einhalt getan. Inmitten des Gelächters fing des Zimmermanns Frau wieder zu weinen an und sagte: So sollst du denn, mein lieber Mann, in der Morgenfrühe enthauptet werden. Und wir alle vergnügen uns indessen und freuen uns der Güte des Lebens. – Denke an Gott, sprach der Zimmerer. Und der Gottesdienst ging weiter. Die ganze Nacht hindurch feierten sie. Als Licht das Dunkel durchdrang und der Tag anbrach, wurde ein jeglicher schweigsam und von Kummer und Angst befallen. Nach einer Weile kamen die Diener des Königs und klopften an des Zimmermanns Haustür; der Zimmerer sprach: Lebt wohl, jetzt werde ich sterben, und öffnete. – Zimmerer, sagten die Diener, mach einen Sarg! Der König ist tot.
II
Das ist das Bedrängendste, das es im Leben geben kann, auswegloses Leid, sagt die Geschichte. Aber sie geht um mit ihm auf eine Weise, die einen sprachlos machen muss. Sinnlos ist, sagt sie, wenn du am Leid verzweifelst. Gib es stattdessen Gott anheim! Und du wirst leben. Diesen Rat zu verstehen, gar ihm folgen, fällt nicht leicht. Wer es zu schnell tut, wird unerbittlich der bissigen Kritik eines Friedrich Nietzsche verfallen, dass so daherredet nur, wer Leidensverherrlichung treibt, weil er zu schwächlich ist, sich zu behaupten im Leben. Nur einem genauen Hinhorchen schließt sich auf, was der Verzweiflung wehrt, wenn Leid die Seele quält.
III
Ich denke, das heutige Evangelium muss man als eine Art Leitfaden zu dieser Erfahrung lesen, wenn man es recht verstehen will. Jesus, in der Nähe die Jünger – und er betet in der Einsamkeit. So tut er jedes Mal, wenn ein entscheidender Wendepunkt ansteht: Vor der Jüngerwahl, in Getsemani vor der Festnahme. So auch hier. Und dieser Wendepunkt fängt mit einer Frage an: Jesus möchte die Meinung des Volkes über ihn wissen. Die Jünger berichten. Sie wissen Erstaunliches: Der wiedergekommene Täufer und Prophet Elija sei er, wird vermutet, oder ein anderer der Propheten. Einer von diesen Gottesmännern, so war man überzeugt, sollte wiederkehren, bevor das Ende hereinbricht. Solchen Eindruck müssen Predigt und Tun Jesu auf die Menschen gemacht haben. Dann will Jesus die Meinung der Jünger selbst hören. Petrus als ihr Sprecher antwortet: Für den Messias Gottes halten wir dich – für den, in dem sich Israels brennendste Hoffnung erfüllt; dass in ihm der gekommen ist, durch dessen Wort und Handeln Gott selbst handelt und spricht, auf dass es gut ausgehe mit dem Leben und der Welt. Schon lange Jahrhunderte hatte sich Israel das Kommen dieses Gesandten Gottes, eines Sachwalters, ausgemalt – und je länger, je herrlicher, je großartiger.
Jesus weist dieses Bekenntnis des Petrus nicht ab. Aber er lässt es auch nicht stehen. So missverständlich scheint es ihm zu sein, dass er den Jüngeren verbietet, anderen gegenüber davon Gebrauch zu machen. Und für sie selber fügt er eine Korrektur an: dass er, in dem sie den Messias erkennen, leiden, verworfen und getötet werden müsse durch die religiösen Autoritäten, also die, von denen man doch am ehesten zu erwarten hätte, sie wären sensibel für das, was es um diesen Jesus ist – wenn an ihm etwas ist. Und dass er durch dieses Verworfenwerden hindurch gerettet sein werde bei Gott.
IV
Erst durch Vernichtung und Kreuz wird Jesus zum wahren Christus, zum Gesalbten, zum Messias. Gottes Vorhaben, dass es wieder stimme zwischen ihm und den Geschöpfen, soll sich verwirklichen dadurch, dass sein Sachverwalter aus der Welt geschafft wird? Anderes als blanker Widersinn kann das nur dann sein, wenn das Leiden Jesu etwas anderes zu bewirken vermag, als Leid sonst einzig bewirkt. Auch Jesu Leid bleibt Leid, seine Not bleibt Not bis zu der bitteren Angst, die ihm in Getsemani die Seele aufwühlt. Aber: Er hält sein Leid nicht von Gott fern, geschweige denn, dass er es ausspielte gegen Gott. Stattdessen hält er Gott und Leid unbeirrbar zusammen. Er nimmt die Passion auf sich als der Messias Gottes, wie Lukas ausdrücklich betont. Auch die eigene Vernichtung lässt er nicht ein Argument gegen Gott werden. Er hält fest an ihm, weil er darauf vertraut, dass, wenn Gott Gott ist, auch das Leid, nicht einmal das Sterben ihn zu Nichts machen wird. Dass er so sein Geschick Gott anheim gibt, das verleiht dem Mann von Nazaret seine Christuswürde – das macht ihn zum Messias. Das Schlimme nicht verleugnen, nicht verdrängen, nicht verklären und auch nicht verzweifeln vor ihm, sondern Gott aufladen. Wie in unserer Geschichte vorhin. Dass man das tun darf, dafür steht Jesus ein. Und auch dafür, dass, wer das tut, an sich sein persönliches Ostern erleben wird.
V
Das meinen die zwei Schlusssätze unseres Evangeliums. Hunderttausendfach zu Beschwichtigung und schäbigem Trost missbraucht, sind sie gleichwohl wahr. Christsein heißt, das Geheimnis, das Jesus als der Christus uns aufgetan hat, sogar im Banalen noch, Tag für Tag zuzutrauen, dass es sich bewähre – dass aus frei und im Glauben angenommenen Leid meinem Leben eine Kraft, eine Unerschütterlichkeit zuwächst, die ich anders nicht zu kennen vermöchte. Und dass ich mich damit vertraut mache, aus der Drangabe von Eigenem lebendiger zu sein als durch die gesammelte Anstrengung, mich selber zu bewahren. An einem einzigen Wort freilich hängt dabei, dass, was Wahrheit schenkt, nicht Trug wird: Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es retten. – Meinetwillen. Das Schwere annehmen und daran stark werden: das gibt es nur im Glauben. Solcher Glaube heißt: Gott ins Gebet nehmen. Und selber daran wachsen. Äußerlich wird immer zynisch heißen, was von Innen gesehen ein Wunder ist. Dass man Gott alles zutraut, alles – wie dieser Jesus, das ist der Maßstab. Diesen Maßstab wahrnehmen, an ihm Maß nehmen, das macht Jesus zum Christus, und jeden von uns zum Christen, zur Christin. Der Zimmermann in unserer Geschichte vorhin hat das getan, indem er einen Feiertag hielt, um Gott zu ehren. Jeder Sonntag, den wir wirklich halten, ist auch für uns ein Anfang dazu. Und jeden Montag geht’s immer um’s Weitermachen.