Sichterweiterung
Christi Himmelfahrt A : Mt 28,16-20
I
Der englische Dichter Evelyn Waugh schildert in seinem Roman “Wiedersehen mit Brideshead” eine kurze Begegnung zwischen einem Pfarrer und einem jungen Mann, der zum Katholizismus konvertiert war.
Pfarrer: Angenommen, der Papst schaut zum Himmel hinauf, bemerkt eine Wolke und sagt: Es wird regnen – müsste das dann auch geschehen?
Konvertit: O ja, Hochwürden!
Pfarrer: Aber nehmen wir an, es regnet dann nicht.
Der Konvertit denkt einen Augenblick nach und sagt dann:
Dann würde es wahrscheinlich sozusagen geistig regnen, nur wären wir zu sündhaft, es auch zu sehen.
II
Waugh wusste, wovon er sprach – er war selbst katholischer Konvertit. Die absolut zweifels- und skepsisfreie Gewissheit, die man nicht selten bei Neubekehrten antrifft und die sich die Wirklichkeit bis zur Groteske zurechtbiegt, nein zurechtlügt bis zur schieren Missachtung allen gesunden Menschenverstandes – auf die konnte er nur noch mit Sarkasmus reagieren. Glaube als Ausdruck von Dadaismus sozusagen, wie der Bildhauer Anselm Kiefer neulich meinte.
III
Dadaismus – scheinbar sinnfreies Spiel mit Formen, Gesten oder Worten. Ich befürchte, so ähnlich wird längst von vielen unserer Zeitgenossen auch das Fest empfunden, das wir heute feiern: Christi Himmelfahrt. Wenn es denn nicht ohnehin schon hinter Kurzurlaub und Vatertag verschwunden ist, kann es sich doch bloß um eine mythischen Rest spätantiker Frömmigkeit handeln, über die wir aufgeklärten Spätmodernen längst hinaus sind. Als vor Jahren der damalige Paderborner Erzbischof Degenhard in seinem Konflikt mit dem Theologen Eugen Drewermann von diesem verlangte, er dürfe nicht ausschließen, dass an Christi Himmelfahrt etwas Fotografierbares geschehen sei, wenn er noch rechtgläubig sein wolle, da waren selbst fromme Theologen und Prediger sprachlos. Kann man als Oberhirte, noch dazu als studierter Neutestamentler, der Degenhard war, auf das Niveau eines Neokonvertiten a la Waugh fallen? Man kann offenkundig.
IV
Dabei war jener Konvertit mit seiner Idee vom „geistigen Regen“, den wir Menschen unserer Sündverhaftetheit wegen nicht zu sehen vermöchten, durchaus auf der richtigen Spur. Bloß hatte er gleichsam das Pferd von der falschen Seite aufgezäumt: Er hatte das Geistliche aufseiten des Regens gesucht statt auf der Seite des Sehens. Denn genau davon handelt das heutige Fest. Dass wir für Ostern neue Augen brauchen. Dann erst kann man sehen, kann man „ein“-sehen, was Auferstehung ist, was durch den Auferstandenen anders wird. Was aber sind denn solche neue Oster-Augen?
Vierzig Tage nach dem Ostermorgen feiern wir dieses Fest. „Vierzig“ ist in der Bibel eine im buchstäblichen Sinn einschlägige Zahl. Alles, was Hand und Fuß hat, ist „vierzig“: Mose auf dem Sinai (da sind es Tage), das Wandern ins gelobte Land hinüber (da sind es Jahre), Jesu Sieg über die Versuchungen (wieder Tage). Am vierzigsten Tag vollendet sich etwas. An ihm wird klar, worum es eigentlich bei etwas geht. Christi Himmelfahrt vierzig Tage nach dem Auferstehungsmorgen macht offenkundig, was es mit Ostern im Letzten auf sich hat. Und was?
V
Um es gleich auf den Nenner eines einzigen Satzes zu bringen: Ostern macht, dass Menschen ein menschliches Leben leben. Das meinen die feierlichen Sätze des heutigen Evangeliums. Die Jünger gehen nach dem Karfreitag nach Galiläa zurück, in ihr werktägliches Leben. Dort auf dem Berg – Berg ist seit je der Ort der Gottesbegegnung – dort, wo sie ins Gegenüber mit Gott treten – also im Gebet – wird ihnen klar, wer Jesus war. Freude und Zweifel liegen nah beieinander dabei. Aber: Siegt das Vertrauen, beginnen sie zu ahnen, was es um diesen Jesus ist: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden, sagt er. Das meint: Das, was ich sage, was ich tue, was ich bin, betrifft alles, was es gibt – Himmel und Erde, die ganze Schöpfung. Anders gesagt: Der österliche Jesus hat Anteil an Gottes Schöpfermacht. Durch das, was der gekreuzigte Auferstandene ist, ruft er ins Dasein. Im Klartext: Er steht mit seinem Gottvertrauen dafür ein, dass wir uns absolut auf Gott verlassen können, dass keiner untergeht, nicht einmal im letzten Ende. Auf dem Boden dieser Zusage erst trauen wir Menschen uns zu leben, haben wir den Mut, endlich wir selbst zu sein. Und damit fängt doch erst ein wirkliches Leben an. Das aber heißt soviel wie: Wer an Ostern glaubt, wird neu geschaffen.
Klar, dass Gläubige ein solches Geschenk nicht allein für sich behalten: Darum geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern! Dadurch, dass sie Jesus bekannt machen, durch die Taufe und die Unterweisung in der Lebensart Jesu geben die Jünger weiter, was ihnen zuteil wurde. So sind sie selber in das schöpferische Tun des Auferstandenen hineingenommen. Das aber bedeutet noch etwas, wie die Verheißung verrät, die diesem Auftrag folgt: Seid gewiss: Ich bin bei euch bis zum Ende der Welt. Indem die Jünger Jünger sind und andere zu Jüngern machen, ist der Herr bei ihnen – treu und für immer. Im Christsein der Christen vergegenwärtigt sich der Herr.
VI
Am Anfang des Mattäusevangeliums hatte der Engel Maria gesagt, ihrem Kind werde man den Namen Immanuel geben, das heißt: Gott ist mit uns. Jetzt am Ende – nach dem Kreuz und dem Ostermorgen – darf Jesus das in erster Person von sich sagen: Ich bin bei euch. In ihm hat sich Gott unwiderruflich uns zugetan – in dem, wie er war als Mensch, mit dem, was er tat und sagte. Alles an ihm ist Gleichnis Gottes aus Fleisch und Blut, sein Inbild, die große Ikone unseres Glaubens.
Diese persönliche Zusage Gottes, in allem gehalten zu sein durch Jesus und das, war er uns lehrte von Gott und vom Leben, ist das Schlusswort des Mattäusevangeliums. Sie steht also genau dort, wo Lukas die Geschichte von der Himmelfahrt erzählt. Genauer: Beide Schlussworte deuten einander: Dass der Auferstandene für immer mit uns ist und bleibt als Garant, dass wir von Gott nie verlassen sind, das ist das Geheimnis der Himmelfahrt. Dieses Sinnbild meint: Was durch Jesus geschah, ist verewigt in Gott und bleibt gültig auf immer. Und umgekehrt: Jesu Zusage, für immer bei uns zu sein, wird durch das Bild der Himmelfahrt ausgedeutet: Himmelfahrt ist – menschlich gesprochen – ein Nach-oben-Gehen. Jesus kommt heim zum Vater. Aber dieses Heimkommen ist zugleich ein Bei-uns-Bleiben. Das bedeutet: Er nimmt uns mit dorthin, wohin wir seit unserem ersten Atemzug gelangen möchten: In Gottes Nähe.
VII
Bei jeder heiligen Messe hören wir im Eröffnungsdialog zum Hochgebet vor der Präfation die Worte „Erhebet die Herzen“ und darauf antworten wir „Wir haben sie beim Herrn“. Das lateinische Original formuliert noch viel pointierter, ja beinahe gebieterisch: „Sursum coda“, wörtlich: „Empor die Herzen!“ Jedes Mal wenn wir dem zustimmen mit unserer Antwort „Habemus ad dominum Deum nostrum“, treten wir gleichsam in diese Bewegung der Himmelfahrt mit ein. Wir lassen uns mitnehmen in diese Bewegung, die das Endliche im Ewigen birgt. Jede Präfation, die wir innerlich mitvollziehen, ist ein Zu-Gott-hin-Aufbrechen. Doch kann das nur entdecken, wer sich klar macht, dass das Problem an Ostern und Himmelfahrt nicht das Ereignis ist, sondern unser menschliches Sehen. Unsere leiblichen Augen taugen nur für einen winzigen Ausschnitt aus dem Ganzen Spektrum der Lichtwellen. Der Glaube und sein geistliches Sehen sind nichts anderes als eine Sichterweiterung.
Schon von manchen nicht-menschlichen Lebewesen, etwa bestimmten Insekten oder Vögeln wissen wir, dass sie uns, was das Sehen betrifft, turmhoch überlegen sind. Könnte es nicht bereits angesichts dessen Zeichen eines gesunden Menschenverstandes sein, anzunehmen, dass es mehr an Wirklichkeit gibt, als unsere leiblichen Augen zu erfassen vermögen? Und wenn das schon vom Sinnlich-Materiellen gilt, um wie viel muss dann mit Ähnlichem im Raum des Geistigen gerechnet werden? Nichts spricht dagegen und ziemlich viel dafür, dass es ziemlich vernünftig ist, ein gläubiger Mensch zu sein. Auch daran erinnert uns das heutige Fest.