Außen und Innen

22. So B: Mk 7,1-8.14-15. 21-23   

      
I
Gautama Buddha erzählte seinen Mönchen einmal folgende Geschichte: Nehmen wir an, ein Mann kommt auf einer Reise an ein ungeheures Wasser, das diesseitige Ufer voller Gefahren und Schrecken, das jenseitige sicher und schön. Er möchte wohl an das jenseitige Ufer gelangen, aber es ist weder eine Fähre da noch eine Brücke. Da denkt er bei sich: Wie wäre es, wenn ich Stämme, Äste und Reisig sammelte und mir damit ein Floß baute, damit ich übersetzen kann? Und der Mann baute sein Floß und gelangte, mit Händen und Füßen rudernd, glücklich an das andere Ufer.

Was aber sollte dort nun mit dem Floß geschehen. Sollte er es auf seine Schultern nehmen und mitschleppen? Würde er damit dem Floß gerecht werden? Nein, ihr Mönche: Drüben angekommen, muss er sich sagen: Wertvoll war mir dieses Floß; es hat mich gerettet. Jetzt aber lege ich es ans Ufer und gehe meine Wege weiter. So würde der Mann das Floß richtig behandeln. Und Buddha schloss: Ebenso, ihr Mönche, ist es mit meiner Lehre: Sie taugt zum Vorankommen, nicht aber zum Festhalten.

II
Buddha hat den Wert seiner Lehre sehr bescheiden eingeschätzt. Aus sich und für sich ist sie gar nichts. Wert hat sie nur, weil sie hilft zum Ziel zu kommen. Wer sich darüber hinaus an ihr festhält, hat sie missverstanden. Er bürdet sich drückende Lasten auf. Könnte in Gautamas Worten auch ein Christ, eine Christin sich wieder finden, was ihren Glauben, ihr Verhältnis zu Christus, zur Kirche, zum Gottesdienst und zu den Geboten betrifft?

Wer auch nur in etwa um das innere Anliegen des Evangeliums weiß, dem wird ganz unmittelbar klar sein, dass die Antwort nicht „Ja“ heißen kann. Wir können uns als Christen in Buddhas Worten nicht wiederfinden, weil Christsein nicht im Annehmen einer Lehre besteht, sondern in einem persönlichen Verhältnis zu Jesus Christus, in einer Freundschaft und Lebensgemeinschaft mit ihm. Und die ist niemals Mittel zum Zweck – wie Buddhas Floß – sondern: wir suchen die Gemeinschaft mit dem Herrn um ihrer selbst willen, weil wir in ihr bereits das finden, was wir zuinnerst suchen: Gott selber. Welten trennen deshalb Buddha vom Christsein. Und dennoch gibt es zwischen unserer Geschichte und dem Evangelium einen Berührungspunkt. Vorhin war im Evangelium davon die Rede.

III
Es ist die schärfste Auseinandersetzung, zu der es zwischen Jesus und den Pharisäern je kam. Die beobachteten, dass die Jünger Jesu zu essen begannen, ohne sich vorher die Hände gewaschen zu haben. Das hatte nichts mit Hygiene zu tun, sondern war eines der vielen Reinheitsgebote, die die jüdische Frömmigkeit bis heute kennt. Das Waschen der Hände, genauso wie das Abwaschen von Töpfen, Krügen und Kesseln, von dem das Evangelium auch spricht, das sollte zeichenhaft davor bewahren, die Speisen zu verunreinigen und durch deren Genuss selber unrein zu werden. Unrein heißt dabei: unfähig werden, am Gottesdienst teilnehmen und vor Gott bestehen zu können. Mögen die meisten dieser Reinheitsgebote für unsere Empfindungen unverständlich sein – sie waren keineswegs irgendein Unsinn. Vielmehr dienten sie im Zusammenhang des alttestamentlichen Glaubens als Hinweise auf das rechte Gottesverhältnis, ja sie vermittelten den Gläubigen so etwas wie eine anschauliche Ahnung von der Heiligkeit Gottes – und davon, dass er allein der Herr des Lebens ist. Eben deshalb, weil etwas daran war, hat sich ja auch erst die Auseinandersetzung darüber entzünden können.

Die vorwurfsvolle Frage der Pharisäer, warum die Jünger nicht – wie vorgeschrieben – die Reinigung vollzogen, meldet also Zweifel an ihrer Frömmigkeit an. Wie steht’s denn überhaupt mit deren und Deinem Glauben, wenn ihr euch nicht an die Tradition haltet, das wollen sie von Jesus wissen. Anlässlich dieses Vorwurfs bricht es aus Jesus geradezu hervor. Vieles hatte sich da wohl schon angestaut, was er – dem nichts mehr am Herzen lag als Gott –, was er an der öffentlichen Frömmigkeit beobachtet, was ihn beunruhigt und worunter er auch gelitten hatte.

Heuchler seid ihr, sagt er mit einem Wort des Propheten Jesaja, Heuchler seid ihr, weil ihr bloß so tut, als würdet ihr Gott ehren. In Wirklichkeit hängt ihr an menschlichen Geboten, an Machenschaften, die ihr selber erfunden habt und an denen ihr euch jetzt hochschaukelt. Und vor allem: Gottes Gebot selbst vergesst ihr darüber – das ist das Schlimmste daran. Eure selbstfabrizierten Überlieferungen dienen nicht nur nicht mehr dem rechten Verhältnis zu Gott. Sie treten stattdessen an seine Stelle und verdunkeln, was Gottes Wille ist. Die religiöse Betriebsamkeit wird zum Alibi für die Verweigerung, umzukehren zu Gott hin.

Gerade weil eine veräußerlichte Frömmigkeit für das Gottesverhältnis selbst so gefährlich ist, deshalb stellt Jesus ein für alle Mal unmissverständlich fest: Es gibt überhaupt keine äußere Einwirkung, keinen äußeren Anlass, der den Menschen unrein, also gottesunfähig machen könnte. Was Gott und Mensch allein entfremden kann, stammt einzig aus dem Innern, aus dem Herzen des Menschen, wo alles Unmenschliche, also Lieblose sich erhebt. Das war ein Schock für Jesu Zuhörer, denn das, was er da sagte, hieß: die Einhaltung und Pflege der Tradition als solcher bietet keinerlei Sicherheit im Angesicht Gottes. Aus sich nützt sie überhaupt nichts. Im Gegenteil: für sich allein genommen zerstört sie das, dem sie eigentlich zu dienen hätte.

Wer das Markusevangelium gut kennt und der Stelle ein wenig nachlauscht, dem wird auffallen, dass in diesen Versen ein äußerst scharfer Unterton mitschwingt. Markus hat diese Stellungnahme Jesu nicht zufällig so zugespitzt überliefert. Das war vielmehr seine Reaktion auf Zustände in der Gemeinde, für die er sein Evangelium niederschrieb: die Gefahr veräußerlichter Frömmigkeit war dort neu aufgeflammt und drohte, das Befreiende der frohen Botschaft wieder zu verdunkeln – also das, was die Mitte der Predigt Jesu ausmachte. Auch bei den Christen scheint eher von Anfang an der Hang unausrottbar, die selbstgemachten Hilfen und Stützen für den Weg zu Gott zu heiligen Kühen zu erheben. Und genau dagegen hatte Jesus schärfstens protestiert. Dass der Maßstab dieses Protests an ihr Handeln angelegt wird, das muss sich die Kirche bis heute gefallen lassen.

IV
Damals hießen die Heiligen Kühe „Hände waschen“ und „Töpfe reinigen“: Heute sind andere Traditionen an ihre Stelle getreten – menschliche Gewohnheiten, die der Kirche nicht nur nicht mehr helfen, ihre Aufgabe zu erfüllen, sondern bisweilen der frohen Botschaft ins Angesicht widersprechen.

Denken Sie etwa nur daran, wie sehr man heute gegen bestimmte Veränderungen des II. Vatikanischen Konzils in der Gottesdienst-praxis zu Felde zieht. Bestimmte Kreise haben die Frage, ob Handkommunion oder Mundkommunion, zum Schlachtfeld um den wahren Glauben erklärt. Ihre Art wollen sie verbindlich machen für alle, weil sie allein die richtige sei. Sie vergessen dabei, dass die äußere Form für sich noch gar nichts ist, weil es einzig um die Ehrfurcht geht, die von innen kommt – und die wird sich bei dem einen im Knien, bei dem anderen im Stehen und bei einem dritten in den ausgestreckten Händen ausdrücken, mit denen er für den eucharistischen Herrn gleichsam einen Thron formt. Wer freilich dies Äußere benutzte, um andere auszugrenzen und deren Glauben zu beurteilen, der hätte genau das getan, was Jesus den Pharisäern vorwirft.

Hohle Traditionen können aber auch viel schlimmere Gesichter zeigen. Das gilt z.B. im Fall des Priestermangels in der römisch-katholischen Kirche. Jeder weiß, dass diese Not nicht nur, aber ganz wesentlich auch damit zusammenhängt, dass man bisher nur den als Kandidaten akzeptiert, der zugleich auch unverheiratet bleiben will. Die Geistesgabe der Ehelosigkeit ist im Evangelium vorgesehen. Und deshalb muss es sie und wird es sie in der Kirche zu allen Zeiten geben. Aber nirgends steht geschrieben, dass jeder, der Priester sein will, gleichzeitig auch diese Geistesgabe haben muss. Eine menschliche Satzung, die zu einer gewissen Zeit durchaus einmal sinnvoll gewesen sein mag, bedroht heute die Seelsorge bis ins Mark. Oder dient es vielleicht der Sache des Evangeliums, wenn längst auch bei uns Pfarreien zu Großverbänden von 20000 und mehr Gläubigen fusioniert werden – mit entsprechenden Folgen für die Qualität der seelsorglichen Arbeit. Neulich sagte mir ein alter Pfarrer: Weißt Du, wenn einer mit 30 fünf Pfarreien hat und mit 35 zwölf, dann ist er mit 45 verheiratet oder im Grab. Bitter, aber wahr. Oder wenn – wie in Brasilien – die Gemeinde alle paar Monate einmal Eucharistie feiert mit einem fremden Priester, den sie nicht kennt, und sich ansonsten auf Andachten beschränken muss?

V
Solcher Konflikt zwischen außen und innen kann überall in der Kirche und im Leben aufbrechen. Im Kleinen wie im Großen. Das Evangelium legt uns eindringlich ans Herz, dass nichts Äußeres – auch kein Frommsein – aus sich das Gelingen unseres Lebens und sein Bestehen vor Gott garantiert. Äußeres kann Hilfe sein – wie Buddhas Floß. Aber zum Christsein gehört wesentlich auch dies: In der Verantwortung des Gewissens vor Gott erspüren, wenn es Zeit ist, das Floß liegenzulassen. Das Äußere bleibt für immer an zweiter Stelle. Nur das, was von innen kommt, entscheidet im Letzten, ob wir Gott entsprechen oder seiner un-fähig sind – je nach dem, ob der Egoismus uns bestimmt oder sein Gegenteil: die Liebe… Sie allein ist und bleibt der Maßstab für alles Äußere, ob es taugt oder nicht. Jesus traut dem, der sein Wort ernst nimmt, zu, darüber zu befinden. Weil der, der ihm zuhört, die Liebe lernt.