Aufgehoben
5. Fastensonntag A: Joh 11, 1-45
I
Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es eine Zeit, die überzeugt war: Es kann alles nur noch besser werden: Die Arbeit leichter, das Brot mehr, das Vergnügen überreich. Es geht aufwärts und wir, wir Menschen verdanken uns das selbst.
Ein neues Lied, ein bessres Lied
O Freunde will ich euch dichten!
Wir wollen hier auf Erden schon
Das Himmelreich errichten.
Wir wolln auf Erden glücklich sein,
Und wollen nicht mehr darben...
Es wächst hienieden Brot genug
Für alle Menschenkinder,
Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust,
Und Zuckererbsen nicht minder.
Ja, Zuckererbsen für jedermann,
Sobald die Schoten platzen!
Den Himmel überlassen wir
Den Engeln und den Spatzen.
II
Der das gedichtet hat, Heinrich Heine, meinte die Verse durchaus spöttisch. Viele zumindest in unseren Breiten sahen und sehen das anders. Ihnen geht es tatsächlich um so etwas wie eine Art Paradies auf Erden – oder das, was sie dafür halten. Und wer das nötige Kleingeld aufbringt, kann auch eine ganze Menge aufbieten für sein Paradies: Die mondäne Wohnung mit Designer-Möbeln, das schicke Cabrio, die elegante Lebensabschnittspartnerin dazu, Tiefseetauchen auf den Bahamas zum Entspannen. Und wenn Leib und Seele nicht recht mitmachen, hat man seine Therapeuten und Mediziner. Die haben dafür zu sorgen, dass mir nichts fehlt – man zahlt ja schließlich dafür.
Im Grunde ist heute so viel „Do it yourself“-Paradies möglich, dass es nur noch eine einzige Grenze dafür gibt: dass ich einmal sterben werde. Man kann an dieser Grenze herumdoktern, sie etwas hinausschieben – aber sie kommt. Sie kommt unentrinnbar und widerlegt das Paradies, das selbstgemachte. Gegen sie bleibt deshalb auch nur eins: Man muss sie wenigstens unsichtbar machen. Nichts darf an sie erinnern. Darum werden die unheilbar Kranken, die Sterbenden so gern abgeschoben in die Kliniken und die Verstorbenen – man muss es so sagen – möglichst ohne Aufsehen entsorgt. In Krankenhäusern gibt es Anweisung, tagsüber verstorbene Patienten erst in den Nachtstunden in die Totenkammer zu schaffen, wenn niemand mehr auf den Gängen unterwegs ist.
III
Wer – mit Heine gesagt – den Himmel den Engeln und Spatzen überlassen hat, wem das Wichtigste ist, dass es ihm jetzt so gut als nur möglich geht, der kann wohl auch mit dem Tod gar nicht mehr anders umgehen. Weil unsere durchschnittliche Weise zu leben uns dieses Empfinden buchstäblich durch alle Poren einträufelt, darum fällt es vielen so schwer, überhaupt noch Zugang zu dem zu finden, was wir heute im Evangelium gehört haben.
Die Geschichte von der Erweckung des Lazarus verkörpert ja wie kaum ein anderes Stück Evangelium die christliche Antwort auf die bedrängende Frage, die das Sterben stellt. Aber wie soll eine Antwort ankommen, wie auch nur verstanden werden können, wenn die Frage verschüttet ist, der sie gilt? Dabei wäre diese christliche Antwort von einer Kühnheit, wie sie in keiner anderen heiligen Überlieferung oder Weisheit begegnet. Entsprechend dramatisch inszeniert Johannes sie auch. Das auf den ersten Blick Unverständliche und auch das menschlich gesehen Unmögliche, das da begegnet, dient wie ein Stolperstein dazu, uns auf das unbedingt Neue dieser Antwort zu stoßen.
Man muss nur einmal einigermaßen spontan nachvollziehen, was da erzählt wird: Jesus erfährt, sein Freund sei krank – und statt so schnell als möglich zu ihm zu gehen, wartet er volle zwei Tage, bis er aufbricht. Als er endlich kommt, liegt Lazarus prompt schon vier Tage im Grab. Vier Tage! Nach jüdischem Verständnis sind drei Tage das Äußerste, dass sich noch etwas ändern könnte. Vier Tage ist nicht nur ein Tag zu spät. Jetzt ist alles zu spät. Jesus hat Lazarus sterben lassen. In den Worten, mit den Marta Jesus begrüßt, klingt das mit: Herr, wärst du hier gewesen... Jesu Antwort, ihr Bruder werde auferstehen, ist nichts Neues für sie. Das glaubt sie so, wie ein Teil der Juden damals an eine Auferstehung am Letzten Tag glaubte – dass den Toten in der endgültigen Welt ein neues Leben geschenkt werde. Aber das hatte Jesus nicht gemeint. Seine Antwort angesichts des Todes heißt:
Dem Leibe nach sterben hat mit tot sein gar nichts zu tun. Wenn man verstehen will, was das bedeutet, muss man sich nur vergegenwärtigen, was dieser Satz für das Lebendigsein heißt: Wenn sterben nicht gleichbedeutend ist mit tot sein, dann ist auch lebend sein nicht gleichbedeutend mit leben. Drastisch gewendet: Einer, der auf der Straße geht, kann toter sein als einer, dessen Leib auf dem Friedhof liegt - und umgekehrt! Was ist dann aber Leben, was Tod? Jesu Antwort: Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Leben kommt aus Glauben. Glauben ist Verbundensein mit Gott. Ist einer mit Gott verbunden, lebt er. Sein irdisches Sterben ändert daran überhaupt nichts – weil sonst Gott nicht Gott wäre, wenn das Selbstverständlichste der Welt, dass der Mensch sterben muss, Einfluss hätte auf das, was zwischen Gott und Mensch geschieht.
IV
Die Grenze, die uns so sehr ängstigt, dass wir sie mit allen Mitteln verstecken – was macht also Jesus mit ihr? Er stößt uns nicht auf sie. Und er droht nicht mit ihr. Sondern er hebt sie auf. Wer glaubt, also sich von Jesus von Gott überzeugen lässt, hat die Grenze schon längst überschritten. Und die, die im Glauben, in der Gottverbundenheit gestorben sind, die sind nicht weg und verloren. Mit den Augen des Glaubens gesehen bleiben sie da. Darum muss man die, die sterben, nicht fesseln und festhalten. Lasst Lazarus weggehen, sagt Jesus. Eine völlig unverständliche Antwort, wenn es in der Lazarus-Geschichte nur darum ginge, dass da jemand für eine bestimmte Zeitspanne nochmals ins irdische Leben zurück geholt wird. Die Sinnspitze ist eine ganz andere. Sie lautet: Die Toten gehen nicht verloren. In Gott bleiben wir ihnen und sind sie uns verbunden. Jesus hat Leib und Leben dafür gegeben, dass es so ist. Johannes erzählt, dass die Lazarusgeschichte der konkrete Auslöser für Jesu Leidensgeschichte war. Wer diesem Zeugnis Glauben schenkte, hätte eine Antwort auf das Rätsel des Todes, die ihm die Angst nimmt und vieles im Leben leichter macht.