Dem Vaticanum II nachdenken

ARGE FthDog Freising 2012

I
Ein paar Tage lang haben wir uns jetzt Gedanken gemacht über das jüngste Konzil und die fünfzig Jahre danach. Aus gutem Grund sind nicht wenige von uns schon länger besorgt, ob denn der fraglose euphorische Aufbruch von damals nicht doch noch versanden wird. Immer öfter hört man jetzt Stimmen, die diesen sorgenvollen Zeitgenossen vorhalten, sie wären viel zu ungeduldig. Denn was seien schon 50 Jahre angesichts des langen Atems der Kirche – und auch bei den frühchristlichen Konzilien hätte es meist mehr als hundert Jahre gedauert, bis sich durchgesetzt habe, was die Konzilsväter eigentlich intendierten.

II
Da mag ja etwas daran sein, dennoch will ich diesen beruhigenden Stimmen nicht so recht trauen. Denn zum einen verbinden sie ihren Ruf zu mehr Gelassenheit meist mit dem Hinweis, dass das Meiste, was sich in den Jahrzehnten seither entwickelt hat, vom Konzil so gar nicht gewollt gewesen sei und mithin die Umsetzung der Beschlüsse ja eigentlich noch ausstehe. Und zum anderen lassen sie außen vor, dass das II. Vatikanische Konzil in ungleich größerem Maß als alle seine Vorgänger ein nachholendes Konzil war. Es war sozusagen Matthäi am Letzten der Versuch, nach dem überlangen und de facto in ideologischen Grabenkämpfen nach innen und außen verlorenen 19. Jahrhundert doch noch ein gewiss kritisches, aber eben doch auch produktives Verhältnis zur Epoche der Moderne zu gewinnen – zu jener Moderne, die die christlichen Traditionen durch ihre interne Eigendynamik seit der Zeit des Nominalismus verantwortlich mit heraufgeführt haben.


III
Carlo Maria Kardinal Martini, der ehemalige Erzbischof von Mailand, gestorben am 31. August 2012, hat noch drei Wochen vor seinem Tod eben davon gesprochen. Der Jesuit Martini, von Beruf ein staubtrockener Textkritiker, war ein weltweit bewunderter Autor geistlicher Bücher und jemand, der den rechten Ton fand, um auch Menschen anzusprechen, die sich der Kirche entfremdet hatten. So entstand etwa das berühmte Buch Woran glaubt, wer nicht glaubt? zusammen mit dem Philosophen Umberto Eco. Wenige Wochen vor seinem Tod hat Martini –  schwerstkrank als Parkinson-Patient, aber geistig in völliger Klarheit – noch ein Interview gegeben. Das war so sensationell, dass bestimmte kirchliche Kreise momentan versuchen, das Ganze wieder einzufangen und zu entschärfen. Martini sagte in diesem Interview unter anderem:

Die Kirche im wohlhabenden Europa und Amerika ist müde. Unsere Kultur ist alt geworden, die Kirchengebäude sind groß, aber leer und der bürokratische Apparat der Kirche bläht sich auf. Unsere Rituale und die Gewänder sind pompös. Sagt das aus, was wir heute sind?
Ich rate dem Papst und den Bischöfen, zwölf außergewöhnliche Menschen zu suchen, die über die Richtung entscheiden. Menschen, die nah bei den Armen und von jungen Leuten umgeben sind und die Dinge in neuer Weise angehen. Wir brauchen die Herausforderung von außergewöhnlichen Menschen, damit der Geist überall wirken kann.

Frage an Martini: Was treibt Sie persönlich an?

Die Kirche ist 200 Jahre zurückgeblieben. Warum rüttelt das nicht auf? Haben wir Angst. Angst statt Mut? Glaube ist das Fundament und der Ursprung der Kirche – Glaube, Vertrauen, Mut. Ich bin alt und krank und abhängig von der Hilfe anderer. Die guten Menschen um mich herum ermöglichen mir die Erfahrung von Liebe. Diese Liebe ist stärker als das Gefühl der Entmutigung, das mich manchmal beim Blick auf die Kirche in Europa befällt. Nur die Liebe besiegt die Müdigkeit. Gott ist Liebe. Ich habe eine Frage an Dich [den Interviewer]: “Was kannst du für die Kirche tun?”

Genau das ist es: Die Kirche ist 200 Jahre zurückgeblieben. Wenn Sie das nachrechnen, kommen Sie mit diesen 200 Jahren von heute aus auf das Jahr 1812: Da ist Immanuel Kant gerade acht Jahre tot, und ein Fichte, Schelling, Hegel und Hölderlin schreiben soeben ihre bahnbrechenden Werke. Es ist die Epoche der philosophischen Moderne. Deren leitendes Anliegen war –  nein, nicht eine abgehobene Elitenphilosophie, sondern – eine Erneuerung der Religion für das Volk, wie man damals sagte, also für alle ein Denken und Reden von Gott, in dem sich Vernunft und Glaube, Individuum und Gesellschaft, Kunst und Technik, Wissenschaft und Ethik zu einem stimmigen Ganzen verbinden. Natürlich hat ein solches Unterfangen zur Folge, dass sich alt Hergebrachtes verändert und verwandelt, dass z. B. Offenbarung nicht mehr als eine von außen und oben ergehende Instruktion gedacht wird, sondern als Selbstmitteilung Gottes, die darin besteht, dass sich Gott selbst sozusagen ins Herz des Menschen spricht, wie Rahner einmal formulierte, und zum innersten Wesenskern des Menschen macht, weshalb der Mensch diesen Gott eben dadurch entdecken und erkennen kann, dass er in sein Innerstes blickt.

Aber genau dem hat sich gerade die katholische Kirche weitgehend verweigert. Das war ihr alles zu subjektiv, zu wenig kontrollierbar. 150 Jahr später hat sie versucht, einiges davon nachzuholen – im II. Vatikanischen Konzil. Das ist nur partiell gelungen. Aber gerade darum ist dieses Konzil heute, genau 50 Jahre nach seiner Einberufung, in manchen Kreisen zuhöchst umstritten. Darum hatte Kardinal Martini Recht: Wir sind noch immer 200 Jahr hinten dran. Denn wenn sie diese Verspätung nachholen würde, müsste unsere Kirche nicht zuletzt ein paar Themen anpacken, die ihr buchstäblich den Schweiß auf die Stirn treiben: Nämlich zuvörderst – ich beziehe mich nochmals auf Martini – alle Themen, die den Leib betreffen: also Sexualität vor der Ehe, Familienplanung, Homosexualität, Wiederverheiratung nach Scheidung, Pflichtzölibat. Nur wenn sich da etwas tut, wird die kirchliche Botschaft zu diesen Sachen überhaupt wieder gehört werden und nicht mehr nur belächelten Belästigungscharakter haben.

IV
Nur aus diesem nachholenden Charakter und seiner Zentrierung auf die Moderneproblematik erklärt sich meines Ermessens der seit Jahren tobende erbitterte Streit um das rechte Verständnis des Konzils – ob es in Kontinuität mit der gesamten vorausgehenden Tradition stehe oder ob da so etwas wie ein Bruch geschehen sei. Im deutschen Sprachraum verlief die Debatte bislang jeher dröge – anders als etwa in Italien, wo die sogenannte Alberigo-Schule aus Bologna mit ihrer These vom Konzil als Ereignis unter kräftiger Mithilfe vatikanischer Instanzen bis aufs Messer bekämpft wird. Man fühlt sich ja zumal als bayerisch-liberal Konservativer oder konservativ-bayerischer Liberaler (oder so) im falschen Film, wenn man etwa die angeblich ungeschriebene Geschichte des Vaticanum II. von Roberto de Mattei liest: Denn der gemäß hat eine kleine pressure-group von liberalen deutschen und französischen Theologen im Verbund mit einer internationalen Truppe fortschrittsseliger Bischöfe die große Mehrheit der so lesefaulen wie theologisch unbeleckten Konzilsväter bei allen großen Entscheidungen schlicht über den Tisch gezogen. Und nur Erzbischof Marcel Lefebvre, der Gründer der schismatischen Pius-Brüder, und ein paar seiner Gesinnungsfreunde hätten das gemerkt.

Angenommen, Rahner, Ratzinger, Küng, Congar, de Lubac und Kardinal Bea hätten es damals nicht geschafft, die erzreaktionären vorgestanzten Texte von Kardinal Ottaviani und ein paar anderen Kurialen auszuhebeln und durch die bahnbrechenden Vorläufertexte etlicher Konstitutionen zu ersetzen. Was wäre dann gekommen? Ganz einfach: Ein römischer Zentralismus, der noch den Syllabus, die Bankrotterklärung der Kirche vor der Moderne, das Vaticanum I und den Antimodernisteneid überboten hätte – und dazu eine krachende Verurteilung des Kommunismus und ein drittes Mariendogma nach der unbefleckten Empfängnis und Mariä Himmelfahrt: Das waren die in der ursprünglichen Befragung des Weltepiskopats am häufigsten eingeforderten Beratungsmaterien. Von Religions-, Gewissens- und Pressefreiheit keine Spur, geschweige denn von der Wertschätzung anderer Religionen und zumal des Judentums oder von der Ökumene. Es gehört schlicht eine ordentliche Portion Chuzpe dazu (oder die Gottesgabe abgründiger Naivität), das Wort von der Kontinuität überhaut in den Mund zu nehmen. Wenn es so etwas wie Kontinuität in der Kirchen- und Theologiegeschichte gibt, dann besteht sie aus einer langen Kette aus Brüchen: Angefangen vom Paulus, der aberwitzig kühn den Unbeschnittenen das Evangelium verkündigt, über die viel gescholtene Hellenisierung, die atemberaubende Rezeption dies wiederentdeckten Aristoteles, die Verinwendigung des Gottdenkens seit Descartes und Kant – und dann irgendwann eben auch das Vaticanum II.

V
Über diesen Befund sollte man nicht blauäugig werden: Es gibt eine so medien- wie finanzstarke Minderheit im katholischen Biotop, für die die Freiheitsrechte der Moderne nach wie vor ein Gräuel sind, den es abzustellen gälte. Ich denke dabei gar nicht an alberne Medienprälaten, die im Dunstkreis der Gunst freigebiger Blaublütlerinnen sich selber in einer pseudobarocken Ein-Mann-Show inszenieren. Weit prekärer nimmt sich aus, dass hochkarätige Kuriale hinter vorgehaltener Hand durchaus verraten, sie seinen ganz froh um die Pius-Brüder, weil die öffentlich sagten, was man sich Oltretevere nicht zu verlautbaren getraut – und dass ja wohl in spätestens 25 Jahren der Vat-II-Spuk durchgestanden sei. Man muss Vito Mancuso, einen der derzeit prominentesten italienischen Theologen – selbstredend seit ein paar Jahren wegen eines Buchs zum Thema „Seele“ anathemisiert – nicht gleich heilig sprechen. Aber vor wenigen Wochen hat er in seinem Werk Ubbedienza e liberta präzise auf den Punkt gebracht, worin das Hauptleiden unserer Kirche heute besteht: In ihrem Verhältnis zur und ihrem Umgang mit der Macht. Da folgt sie heute weder den Standards einer modernen, aufgeklärten Gesellschaft – geschweige denn dem, was da im Evangelium selber steht. Im Juli dieses Jahres wurde der junge Erzbischof von Trvna nach wenigen Monaten vom Vatikan abgesetzt. Nicht einmal ihm selbst wurden Gründe genannt, nur mit einer Suada so suggestiver wie ehrabschneidender Fragen wurde er überzogen. Und der Nuntius antwortete einer hochkarätigen Gruppe von kritisch Nachfragenden aus Politik und Kultur, dass es Irrtum sei zu meinen, die Herde habe ein Recht darauf, von den Hirten Begründungen zu erfahren. Wundert einem da, dass Menschen alle Hoffnung auf Kirche fahren lassen und einfach weggehen – mittlerweile in Scharen aus der Mitte der Gemeinden. Ewig halten wir so etwas nicht durch.

VI
Denn damit ist auch der Boden weg für das, was Kardinal Martini ganz am Schluss seinem Interviewer gleichsam als allerletztes Vermächtnis mitgab. Ich habe eine Frage an Dich, sagte er seinem Interviewpartner Georg Sporschill: Was kannst Du für die Kirche tun? Ich bin überzeugt, nein: Ich weiß, dass viele von Ihnen sich genau diese Frage stellen. Was kann ich für die Kirche tun?

Das Erste und Wichtigste, scheint mir, wäre: Dass wir – wir Theologinnen und Theologen zu allererst – Menschen des Pleroma, der Fülle werden, wie das Alfred Delp einmal formulierte: von Gott Kraft erfüllte, schöpferische Sachwalter Christi, aber Sachwalterinnen und Sachwalter in erster Person Singular. Jede und jeder ganz einmalig, so dass der Christus, der Herr der Kirche, in persona nostra zu handeln vermag. Und Delp, dem damals, als er das schrieb, schon alles außer dem nackten Überleben genommen ist und auch das noch bald, er wusste, woher allein uns das zufließt, diese Kraft und dieses Schöpfertum der Fülle: aus der „unverratenen Anbetung“, wie er es nennt, gepaart mit einem ebenso unverratenen Gottdenken – nicht zufällig hat er uns neben seinen Briefen und Predigten philosophische Schriften hinterlassen, in denen es um die Tragik des Menschen geht, denen das Wort „Gott“ schlichtweg fremd geworden ist.

VII
Unverratene Anbetung, unverratenes Gottdenken, das ist unser erster Auftrag, noch bevor wir das erste Wort an andere richten, als Theologin und Theologe dort handeln, wohin wir hingestellt sind. Es klingt ganz eigenartig, aber es stimmt trotzdem: Die Erstadressaten unserer Theologie, unserer Gottrede und unseres Gotthandelns sind – wir selbst. Der evangelische Theologe Ernst Christian Achelis hat es 1890 bündig auf den Punkt gebracht, als er schrieb:
„Predige nicht dich selbst, desto mehr dir selbst.“
Ich weiß in dieser Stunde nichts Wichtigeres, als uns den Mut zu dieser Demut zu wünschen. Dann mag auch die Hoffnung nicht anmaßend sein, die Kirche möchte aus dieser Krise jetzt geläutert und gestärkt hervorgehen.