Arche aus Worten
4. So A: Mt 5,1-12a
I
Die hebräische Sprache hat ein paar Eigentümlichkeiten, die allen, die Hebräisch zu lernen versuchen, am Anfang Probleme machen. So werden z. B. keine Vokale, kein a, e, i, o, u geschrieben, nur die anderen Buchstaben. Und darum kann es passieren, dass zwei Wörter aus genau denselben Buchstaben bestehen, aber ganz Verschiedenes bedeuten, je nachdem, welche Vokale dazu gelesen oder dazu gesprochen werden. Welche, das kann man oft nur aus dem Zusammenhang entdecken, in dem das Wort vorkommt.
Von Anfang an haben sich daraus aber auch Wortspiele ergeben, weil manchmal beide Wörter in den Zusammenhang passen und auf diese Weise auf das Erzählte ein überraschend neues Licht werfen können. So ist es auch im Fall des Wortes „tewah“. Tewah bezeichnet eigentlich die Arche, die Noach auf Gottes Geheiß gebaut hat, um seine Familie von den Tieren je ein Paar über die große Sintflut zu retten. Aber zugleich kann man tewah als Wort für „Wort“ lesen. Und dann lautet die alte Geschichte: Gott habe dem Noach befohlen, eine Sprache zu machen, die ihm als Zuflucht und rettendes Floß im Chaos der Welt dienen solle.
II
Für gläubige Juden, die dieses Wortspiel kennen, war immer klar, was mit dem Wort, mit der Sprache, die wie die Arche retten kann, gemeint ist: Das Wort der Bibel natürlich. In ihm kann man sich bergen, wenn einem Angst wird in der Welt, wenn der Boden unter den Füßen wankt und alles versinkt wie in einem Meer, im Meer der Trauer z. B. oder im Meer der Verzweiflung. Zu allen Zeiten gab und gibt es Menschen, die sich in ihrer Not an ein Wort der Heiligen Schrift klammern, um durchzustehen, was sie quält. Und wie viele Zeugnisse sind überliefert – auch schon in der Bibel selbst, aber genauso später und heute noch –, dass es das wirklich gibt: Gehalten und getragen werden von einem Bibelwort über jeden Abgrund hinweg!
III
Eine der schönsten Archen aus Wörtern hat uns niemand anderer als Jesus gezimmert. Die Bergpredigt, deren Anfang wir vorhin gehört haben. Eigentlich ist der Name „Bergpredigt“ falsch. Es handelt sich vielmehr um Jesu Lehre vom gelingenden Leben. Und jenem Anfang hat Matthäus Gedichtform gegeben, damit man ihn sich besser einprägen kann und auswendig weiß, wenn man eine Arche baut, etwas, worin man Schutz suchen und woran man sich klammern kann.
Darum auch besteht das, was Jesus in den Seligpreisungen sagt, eigentlich aus einem einzigen Zuspruch: Was immer komme und was geschieht: Gott vergisst dich nicht. Er ist und bleibt dir zugewandt, wie er es immer war. Hinter allem Auf und Ab des Lebens – Er. Nichts muss dich ängstigen, nichts dich betrüben. Er ist Dir nah. Und am allermeisten dann, wenn du dir nichts vormachst. Wenn du die Dinge siehst, wie sie in Wahrheit sind. Und trotzdem: So einfach verstehen lassen sich die Dinge nicht.
Gott ist eine Anstrengung, die Götter sind ein Vergnügen, hat der Dichter Hermann Hesse einmal geschrieben. Ich könnte mir vorstellen, er habe dabei an die Bergpredigt gedacht. Und gibt ihm die nicht recht? Kein Stück des Evangeliums scheint das Christsein enger mit Anstrengung, Disziplin und Opfer, ja mit menschlich gesehen geradezu Widersinnigem zu verbinden als die Bergpredigt: Du musst arm sein, dann gehört dir das Himmelreich. – Du musst traurig sein, dann wirst du einmal getröstet werden. – Du musst sanftmütig sein, dann wirst du einmal Boden unter die Füße bekommen. – Du musst hungern und durstig sein nach der Gerechtigkeit, also jetzt ungerecht behandelt werden, dann wird sich deine Sehnsucht einmal erfüllen. – Du musst barmherzig sein, musst Verzeihen und Nachsicht üben, dann kannst du selbst einmal mit Barmherzigkeit rechnen, wenn du vor Gott stehen wirst; usw. usw. Du musst, du musst, du musst. Wohl wahr: Dieser Gott, dessen Reich Jesus da verkündet, der ist eine Anstrengung. Eine Anstrengung, im Vergleich zu der die Gesetze und Riten und Opfer der früheren Religionen mit ihren vielen Göttern das reinste Vergnügen waren. Hat Hesse also recht?
IV
Schlimmer als so zu denken, kann man die Bergpredigt nicht mehr missverstehen. Etwas ganz Einfaches bewahrt uns davor: Wir brauchen nur den Anfang ein wenig genauer zu lesen. Stellen wir uns nur einmal bildhaft vor, was Matthäus schreibt: Viele Menschen folgen Jesus bereits. Sie täten das nicht, wenn sie nicht irgendwie schon zu ahnen begonnen hätten, dass dieser Wanderprediger aus Nazaret etwas ungeheuer Wichtiges zu sagen hat, und wenn das, was von ihm ausging, seine Ausstrahlung, sie nicht in Bann geschlagen hätte. Diese Leute – viele waren es, sagt Matthäus –, sieht Jesus. Er spürt ihre Suche nach Leben, nach Wahrheit, nach Gott, und darum hält er ein auf seiner Wanderung und lehrt sie, wie sie finden, was sie suchen.
Matthäus beschreibt den Anfang der Bergpredigt geradezu feierlich: Jesus stieg auf einen Berg. „Berg“ ist für die ganze Bibel das Sinnbild, der Ort der besonderen Gottesnähe – denken Sie an den Sinai! Dann setzte er sich – wie ein König. Und die Jünger treten herzu, fast wie eine Art Kronrat. Und dann spricht Jesus zu denen, die ihm gefolgt sind. Indem der Evangelist der ganzen Szene eine solche Feierlichkeit gibt, will er sagen: Jetzt geschieht Großes. Jetzt wird ausgesprochen, was es in Wahrheit um Gott und Mensch, um Welt und Leben ist. Worte darum so groß, dass kein Mensch sie ausdenken kann, dass sie also von Gott selbst kommen müssen.
Und dann sagt Jesus denen, die ihm schon gefolgt sind, die also begonnen haben zu glauben und sich dadurch wieder mit Gott zu versöhnen, – denen sagt er:
Alle, die mit Gott versöhnt sind, begreifen, dass Besitz nicht gleich Leben ist. Sie müssen nichts haben. Sie wissen: Eigentlich bin ich arm. Aber ich darf arm sein. Gott hält mich ja. Ich muss keine Angst haben, nichts wert zu sein. Ich bin. Das ist vor Gott genug. Das zu glauben, macht frei. Glaubende sind frei vom Zwang, sich selbst groß und wertvoll zu machen – darum sind sie selig.
Alle, die mit Gott versöhnt sind, sind gewiss, dass dieser Gott sie niemals abstürzen lassen wird ins Dunkel. Darum müssen sie die Zeichen des Abgrunds, die in einem jeden Leben begegnen – den Schmerz, die Trauer – nicht verleugnen und verdrängen. Sie müssen nicht den harten Mann spielen. Sie dürfen auch weinen, weil auch das zum Leben gehört – deshalb sind sie selig.
Alle, die mit Gott versöhnt sind, kommen ohne Gewalt aus. Sie brauchen nicht Macht über andere, um selber etwas zu gelten und auf eigenen Beinen zu stehen – darum sind sie selig.
Alle, die mit Gott versöhnt sind, können barmherzig sein mit ihresgleichen. Sie müssen nicht mehr aburteilen, um selbst besser dazustehen, müssen sich nicht mehr an den Fehlern anderer weiden, um mit sich zufrieden zu sein – deshalb sind sie selig.
Alle, die mit Gott versöhnt sind, können auch untereinander versöhnt in Frieden leben, ja können sogar Frieden stiften. Damit tun sie im Maß des Menschlichen, was Gott der ganzen Welt gegenüber tut. So etwas wie Gottes Partner in der Welt werden sie dadurch, seine „Söhne“ heißen sie darum – deshalb sind sie selig.
Und genauso bei den andern Seligpreisungen. Sie sagen in Merkversen, wie einer lebt, der auf den nahen Gott setzt. Die heilige Teresa von Avila hat das Geheimnis der Seligpreisungen auf ihre Weise in drei Worten zusammengefasst: Dio solo basta! Gott allein genügt. Er ist groß genug, um mich über das Gewoge des Schicksals emporzuhalten, damit ich nicht untergehe. Das hat Jesus gesagt. An ihn, Gottes Wort mit Name und Gesicht, kann ich mich halten. Sein Wort ist die Arche, die über die Abgründe trägt. Es ist gut, es immer bei sich zu haben, am besten auswendig.
V
Jetzt verstehen Sie auch: Das heimliche Grundwort der Seligpreisungen heißt nicht: Du musst tun!, sondern: Du darfst sein. Du musst dir nichts vormachen, musst dich nicht mit Ellenbogen durchsetzen. Du darfst „ja“ sagen zum Leben auch dort, wo du seine Armseligkeit spürst, wo dich Trauer bedrückt. Du musst nicht angstvoll darüber wachen, nur ja zu deinem Teil zu kommen, du kannst gütig und gerecht sein, ohne dich zu verlieren. Das alles darfst du und kannst du, weil Gott dich trägt.
Das einzige, was es von unserer Seite dazu braucht: Dass wir Jesu Worten trauen, bis wir ihm glauben. Es gibt so etwas wie eine praktische Gegenprobe, ob wahr ist, was er sagt: Sie besteht darin, so zu sein und zu leben, wie die Seligpreisungen sagen. Wenn sie wahr sind, werden wir von selbst erfahren, was „selig sein“ heißt.