Ankommen in der Geschichte

2. Adv C: Lk 3, 1-6

I
Selma Lagerlöff erzählt in einer ihrer Legenden von einem Ritter, der nach einem Kreuzzug ins Heilige Land geschworen hatte, er werde eine Kerze, die er an der Flamme vor dem Grab Christi entzündete, unversehrt in seine Heimatstadt Florenz bringen. So machte er sich mit der Flamme auf den Weg. Als ihn einmal Räuber überfielen setzte er – der bewaffnete Ritter – sich nicht einmal zur Wehr. Er versprach ihnen, freiwillig zu geben, was sie begehrten, wenn sie nur sein Licht nicht auslöschten. So nahmen sie ihm Rüstung, Ross und Waffen und gaben ihm einen alten Klepper dafür. Auf dem ritt er weiter. Endlich kam Florenz in Sicht. Um die Kerze auf dem letzten Wegstück vor dem Gegenwind zu schützen, setzte er sich rücklings auf sein Pferd. So ritt er in die Stadt ein. Die Gassenjungen, die ihn sahen, hielten ihn für verrückt, lachten ihn aus und warfen mit Steinen nach seinem Licht. Doch er schützte es mit dem eigenen Körper und so brachte er das Licht zum Dom und entzündete an ihm die Kerzen des Altars. Man sagt, selbst seine Familie habe nur noch den Kopf geschüttelt über ihn.

II
Sein Vorhaben, das Licht der heiligen Flamme bis nach Hause zu bringen, hatte den Ritter zu einem anderen Menschen gemacht. Er, der gewohnt war, sich zu verteidigen, er lässt sich wehrlos alles nehmen. Früher ging ihm seine Ehre über alles, für das Licht seiner Kerze aber hat er sich am Ende zum Narren gemacht vor aller Augen und sich verlachen lassen. Ein Kauz und heruntergekommen erschien er der eigenen Familie. Sie merkten nicht, dass er durch sein seltsames Tun ein Gleichnis der Frohen Botschaft geworden war. Denn mit dem was er tat, hat er auf menschlich anschauliche Weise sichtbar gemacht, was uns im heutigen Evangelium über Gott gesagt wird.

III
Haben Sie übrigens bemerkt, dass vorhin im Evangelium tatsächlich von Gott die Rede war? – Es war im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius, Pontius Pilatus war Statthalter von Judäa, Herodes Tetrarch von Galiläa, sein Bruder Philippus Tetrarch von Ituräa und Trachonitis, Lysanias Tetrarch von Abilene, Hohepriester waren Hannas und Kajaphas. Da erging in der Wüste das Wort Gottes an Johannes, den Sohn des Zacharias. – Das alles sagt Lukas nicht bloß, um ein Datum zu fixieren für das öffentliche Auftreten Jesu, von dem er erzählen will. Statt dessen führen diese scheinbar so äußerlichen Angaben sozusagen senkrecht in die Innenwelt des Evangeliums: Palästina stand damals unter Fremdherrschaft, Herr des Landes ist der römische Kaiser Tiberius, von dem die römischen Geschichtsschreiber das Bild eines misstrauischen, grausamen, genusssüchtigen Herrschers entworfen haben; der südliche Teil des Landes wird vom Statthalter Pontius Pilatus verwaltet, bekannt als rücksichtslos, bestechlich, gewalttätig. Die Politiker aus dem eigenen Volk – Herodes, Philippus, Lysanias – waren mächtig nur von des Kaisers Gnaden, Speichellecker und Hofschranzen logischerweise; und die geistlichen Autoritäten, die Hohenpriester Hannas und Kajaphas wussten sich mit aalglatter Diplomatie und Opportunismus über lange Jahre an der Macht zu halten. Ganz abgesehen davon, dass Galiläa, dieser hinterste Winkel Israels den unzweideutigen Ruf hatte, das Glasscherbenviertel der damals bekannten Welt zu sein; DA erging das Wort Gottes. Mitten in dieses Gewirr von Machtmissbrauch und Gekungel, von Schleimerei und Niedertracht begibt sich Gott mit der Berufung des Johannes. Nicht in einem windstillen Winkel heiliger Welt will er sich einlassen auf die Menschen und ihre Geschichte, sondern dort, wo es so richtig zugeht. Wie man sagt. Evangelium – gute Nachricht – ist das. Nicht von hoch oben in der Hehre majestätischen Glanzes meldet sich Gott zu Wort, sondern inmitten der Unansehnlichkeit, die die Welt der Menschen prägt: Wo geschachert und getreten wird, gelogen und betrogen. In diese Welt – in diese unsere Welt – stellt Gott sich mitten hinein, bar allen Schutzes und aller Rüstung. Das ist das Vorzeichen, unter dem uns Lukas mit der Geschichte vom Leben Jesu von dem Gott erzählt, der sich nicht zu gut ist für diese Welt; ein Gott, der sich eher zum Narren machen lässt für die Welt, als sie fallenzulassen; einer, der seine Ehre nichts wert ist, wenn es um die Menschen geht. So heruntergekommen ist er im wörtlichsten Sinn des Wortes. Es ist darum auch kein Zufall, dass der Haupteinwand spätantiker Intellektueller wie eines Kelsos, eines Porphyrios oder eines Kaiser Julian ein ästhetischer war: Es sei schlichtweg geschmacklos, so von einem Gott zu sprechen: Geboren in einem Stall zwischen Tieren und ihrem Mist, gestorben als Verbrecher am römischen Galgen. Keine Religion der Welt hat je von ihrem Gott so sprechen dürfen. Wir Christinnen und Christen müssen es.

Das fällt uns im Übrigen gar nicht leicht – wahrzunehmen, dass Gott uns so unmittelbar nah sein will. Viel lieber hätten wir ihn oft hoch oben auf Altären und Podesten. Dann störte er uns nämlich am wenigsten. Kein Wunder darum, dass das an Johannes ergehende Wort dieses Gottes für die Menschen als Ruf zur Umkehr und zur Vergebung der Sünden laut werden muss. Sünde kommt ja von sondern, ab-sondern, für mich allein sein wollen. Umkehren bedeutet: einverstanden sein, dass Gott mit meinem Leben – so wie es ist – zu tun hat.

Und wo Menschen eben dies zulassen, da bahnt sich etwas an, was Lukas nur noch durch die uralten, jahrhundertelang geschliffenen Worte des Propheten Jesaja zu sagen vermag: Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen! Jede Schlucht soll aufgefüllt werden, jeder Berg und Hügel sich senken.... Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt. Wo Menschen Gottes Ruf an sie beantworten, indem sie sich hinkehren zu ihm, wird ihnen eine Verheißung zuteil: Gräben, die die Welt zerreißen, die uns behindern, werden zugeschüttet, die Barrieren, die uns trennen und einsperren, werden niedergelegt werden. Mit einem Wort: Gott selbst wird seine Gläubigen in die Freiheit führen. So hatte einst Jesaja zu den Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft gesprochen und ihre Hoffnung auf eine gottgeschenkte Zukunft entzündet. Lukas sieht diese Verheißung von neuem sich erfüllen in der Gestalt des Täufers und in Jesus. Der Täufer ist die Stimme, Jesus selbst mit Leib und Leben der befreiende Ruf Gottes, der jeden, der ihm traut, in die Freiheit führt, über alle Hindernisse hinweg. Jesajas Verheißung endet mit den Worten: Und alle Menschen – wörtlich: alles Fleisch – wird das Heil schauen, das von Gott kommt. Das ist wieder so ein Satz, den nur die Gläubigen des Alten und Neuen Bundes sprechen können: Denn Fleisch ist in der Sprache der Bibel Sinnbild für das Vergängliche schlechthin. Und gerade diesem unserem vergänglichen Leben ist das Heil zugesagt. Nicht für außerhalb oder oberhalb oder jenseits des irdischen Lebens gilt diese Verheißung, sondern für das staubige, manchmal so armselige Hier und Jetzt, in dem wir stehen. Gott mischt sich ein in die Welt und ihre Geschichte, damit wir Menschen aus Fleisch und Blut befreit werden, endlich so zu leben, wie Gott es uns seit Anbeginn zugedacht hat. Das ist Evangelium.

IV
Überall dort, wo Unfreiheit herrscht – im Politischen, auch in der Kirche, genauso angesichts unfreier Beklemmung über einen selbst, da überall dürfen, ja müssen die Christen um der Ernsthaftigkeit ihres Glaubens willen Advent ansagen: Jesaja hat es in Babylon getan, Johannes der Täufer im Israel der Zeitenwende, Lukas im Raum der jungen Kirche, und wir verkünden heute: Gott ist für uns; er geht mit uns um unserer Freiheit willen. Überall. Christsein heißt darum: Ich darf von Gott etwas erwarten. Nichts, was nicht sein soll, muss immer so bleiben. Ich sehe meiner Zukunft mit brennender Hoffnung entgegen. Und diese Hoffnung hat einen Grund: Ich erwarte den siegreichen Advent des Herrn, der alles, auch die Bruchstücke meines Lebens zu einem guten Ganzen befreien wird, – ich erwarte ihn, weil er, der das verheißt, schon einmal gekommen, schon einmal ganz heruntergestiegen ist, so sehr, dass er nicht einmal mehr hat Gott sein wollen und darum ein Mensch wurde wie wir. Der Advent, den wir dieser Tage begehen, ist Vergegenwärtigung dieses Grundes, der uns ein Recht gibt, für uns und die ganze Welt zu hoffen. Gott kommt; er hat für uns Zeit. Nehmen darum wir uns in diesen Tagen auch Zeit, um betend unsere Hoffnung auf den Herrn brennender zu machen.