I
Im Russland der Zarenzeit hat es auf den Dörfern einen ganz seltsamen Brauch gegeben: Wenn ein Schwerverbrecher seiner Tat überführt und schuldiggesprochen wurde, musste er nach Sibirien in die Verbannung gehen. An dem Tag, an dem der Mörder oder Gewalttäter dorthin aufbrach, begleiteten ihn die Frauen des Dorfes bis zum Ausgang des Ortes. Dort hielten sie inne, und die Frauen küssten dem Verbrecher die schuldiggewordenen Hände. Dann ging er.
II
Die Frauen taten das, weil sie in dem Verbrecher einen sahen, der stellvertretend für alle im Dorf Schuld auf sich genommen hatte. Sie glaubten, dass in ihm, dem Ausgestoßenen nur deutlich zutage trete, was in allen lebt; und sie fühlten, dass derjenige, der bösartig handelte und den sie darum böse nennen, das Opfer unserer eigenen menschlichen Art, zu leben, ist. Gesetz und Schuldspruch des Richters bleiben darum der Tat und dem Täter äußerlich – und Strafe nur kontrollierte Hilflosigkeit – ich habe das in meinen Jahren als Gefängnispfarrer dutzende Male selbst erfahren. Und Papst Franziskus sagte bei seinem Besuch in der evangelischen Gemeinde von Rom am 15. 11. 2015 unter anderem den erschütternden Satz: Es sei für ihn als Seelsorger besonders wichtig, auch Gefängnisse zu besuchen, und da stelle er sich jedes Mal die Frage: „Warum ihr und nicht ich?“ Weil sie genau das alles zutiefst erahnen, darum setzen die russischen Frauen jenes erschütternde Zeichen und küssen die Verbrecherhände.
III
Wie wenig Grund wir haben, über eine solche Geste den Kopf zu schütteln, sie gar als Sentimentalität geringzuachten, macht uns das heutige Evangelium klar – genauer gesagt: einer, den man sentimental nun wirklich nicht heißen kann. Das Auftreten des Täufers Johannes hat wohl manchen seiner Zeitgenossen erbeben lassen: Bar jeder diplomatischen Verklausulierung, an Schärfe nicht mehr zu überbieten, unbeeindruckt vom Rang und Ruf und Sitte, reißt er verlogene Fassaden nieder und schleudert den Leuten ins Gesicht, wie wenig Grund sie haben, mit sich, – gar mit sich vor Gott zufrieden zu sein.
Johannes´ flammende Predigt war nicht in den Wind gesprochen. Viele – Scharen, sagen die Evangelien – gehen, um ihn zu hören und die Bußtaufe zu empfangen. Weil ihnen seine Worte zu Herzen gehen, fragen sie ihn auch, was sie tun sollen, um vor Gott zu bestehen. Und was gibt der Täufer zur Antwort? Er, der schneidende Kritiker, spricht auf einmal wie ein weiser, gütiger Lehrer, der Antworten gibt, nüchtern, realistisch, wie sie aus tiefer Lebenserfahrung kommen. Was sollen wir tun? Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines dem, der keines besitzt, und wer zu essen hat, der mache es ebenso. Kein Armutsideal, kein Befehl, Opfer zu bringen, sondern ein schlichtes Gebot der Menschlichkeit: das Gebot, zu teilen, was man selbst hat, damit auch die überleben, die nichts in den Händen halten. Und als die verhassten Zöllner kommen und auch fragen: Was sollen wir tun? – da hagelt keine Höllenpredigt auf sie herab, sondern: Verlangt nicht mehr, als festgesetzt ist. Wenn du nicht betrügst, kannst du auch noch als Zöllner ein anständiger Mensch sein. Und die Soldaten, die kaum einen besseren Ruf besaßen als die Zöllner, die hören nicht den Befehl, auf der Stelle die Waffen niederzulegen und anders ihr Brot zu verdienen, sondern: Erpresst nicht und begnügt euch mit eurem Sold! Missbraucht eure Waffengewalt nicht, und keiner hat Grund, euch zu ächten!
Johannes hält also denen, die nach dem rechten Leben fragen, eine Standespredigt. Geradezu unscheinbar dünken seine Regeln. Aber was seine Worte wiegen, das geht uns so richtig erst auf, wenn wir fragen, was denn wäre, wenn tatsächlich jede und jeder den Geboten des Täufers Folge leisteten. Wenn jede und jeder das zum Leben Nötige mit den Bedürftigen teilte; wenn jede und jeder, dort wo sie stehen, nach Recht und Gesetz zu handeln begännen. Die Welt sähe wahrlich anders aus, als sie aussieht. Immer noch gäbe es Zöllner und Soldaten. Immer noch geschähen Dinge, die Menschen nicht tun können, ohne sich dabei die Hände schmutzig zu machen. Aber wie viel Böses geschähe nicht mehr, wie viel Leid und Not und Unrecht ersparten die Menschen einander. Und auch: Wie weit sind wir von Johannes entfernt!
Die Leute damals begriffen die Wahrheit der Täuferpredigt. Sie spürten die Macht seiner Worte, die Dinge zum Besseren zu wenden. Darum ihr stiller Gedanke, Johannes selber könne der Messias sein – der, der die Dinge wieder ins Lot bringt. Aber der Täufer, dieser absolut Unbeirrbare, wenn es um die Wahrheit geht, er selbst besteht darauf, dass das, was er über das rechte Leben vor Gott zu sagen hat, noch nicht alles ist. Ich taufe nur mit Wasser. Es kommt aber einer, der stärker ist als ich. Johannes ahnt mehr, als er wissen und aussprechen kann, dass Recht und Gesetz und auch die elementarsten Regeln der Menschlichkeit nicht ausreichen, dass es gut werde mit uns. Gewiss, sie helfen uns, schlimme Fehler zu meiden. Aber, sie einzuhalten, ist unser eigenes Tun.
Und alles, was Menschen von sich aus, in eigener Kraft und Verfügung tun, ist brüchig. Auch noch unser guter Wille und Vorsatz und das Bemühen, ein anständiger Mensch zu sein. Keiner von uns kann die Hand für sich ins Feuer legen, für seine schönsten Gefühle nicht einmal. Sogar noch die Liebe kann zweideutig sein und einen dunklen Untergrund haben – den des Egoismus und der Selbstverliebtheit. Wo immer einer auch mit ein wenig über das normale Maß hinaus in seiner Menschlichkeit herausgefordert wird, da kommt oft und oft bestürzend zutage, wie wenig zu tragen vermag, was wir gewöhnlich unsere Moral nennen. Nicht zuletzt uns Deutschen muss diese Wahrheit auf der Seele brennen: haben doch Menschen in diesem Land vor wenigen Jahrzehnten demonstriert, dass sogar Tugenden – Ordnung, Verlässlichkeit, Korrektsein – nicht nur den Dingen des täglichen Lebens nützen, sondern auch dazu dienen können, ein KZ zu betreiben. Und wie viele – auch Christen und Christinnen – haben geschwiegen, weil doch nichts Schlimmes geschehen könne, wo so viel Ordnung herrsche. So wenige Schritte liegen manchmal zwischen menschlichen Gesetzen und dem Abgrund des Grauens.
Die Zweideutigkeit des Menschlichen, auch der Moral noch, hat Johannes gespürt – und auch die Last, die sie uns auferlegt. Darum muss, wenn alles einmal wirklich recht werden soll, der Stärkere kommen, – einer, der mit Feuer tauft, also das Bestehende bis zum letzten Grunde verwandelt. Einer, der die Zweideutigkeit in uns aufhebt wie der Bauer auf der Tenne, der mit der Worfschaufel die Spreu vom Weizen trennt.
IV
Für Johannes kann so etwas kein anderer als Gott selber tun. Darum legt er mit dem Wort, er sei nicht wert, jenem Kommenden die Schuhe aufzuschnüren, einen so großen Abstand zwischen sich und den, auf den er hofft. Und Johannes hat recht mit dieser Ahnung. Aber ganz anders, als er selbst es sich je hätte träumen lassen. Denn: Der Kommende, also Gott, begegnet nicht überwältigend in Macht und Pracht, die jedes Wort verstummen lässt, sondern – als Mensch. Und er macht die Zweideutigkeit unseres Lebens nicht eindeutig, indem er des Täufers Gebote verschärft, sondern dadurch, dass er sie – für zweitrangig erklärt. Genau das geschieht ja etwa in der Bergpredigt, wenn Jesus dem, der auf die rechte Wange geschlagen wird, gebietet, auch noch die linke hinzuhalten, und dem, von dem man verlangt, eine Meile lang Begleiter zu sein, dass er zwei mitgeht. Was so in Menschenaugen als schierer Widersinn dünkt, deckt auf, wie begrenzt Gesetz und Gebot, auch die gut gemeinten, in Wahrheit sind: Sie laufen alle auf das „Wie du mir, so ich dir“, das „Tu mir nichts, dann tue ich dir auch nichts“ hinaus und gehören darum noch immer in den Bannkreis des Egoismus. In der Tiefe seiner Seele angerührt und so der Bekehrung zum Guten fähig werden kann ein Mensch nur durch das Nicht-Geforderte, das Unverhoffte, frei Geschenkte, das buchstäblich Über-Flüssige. Theologinnen und Theologen sagen „Gnade“ dafür, lateinisch gratia – da kommt unser „gratis“ her, griechisch charis, das kann man mit Charme, also „gewinnender Zuneigung“ übersetzen. Nur die Gnade kann wirklich heilen, was angeschlagen, sie kann richten, was verbogen ist. Und sie nur gibt einem die Kraft, neu anzufangen mit sich. Sie, die Gnade, war gemeint, wenn die russischen Frauen die Hände der Verbrecher küssten. Und sie, die Gnade, ist gemeint, wenn wir Advent halten. Ausschau nach dem, der kommen soll. Nur in der Hoffnung auf das Unverhoffte der Gnade können wir es aushalten mit uns. Und weil Weihnachten so viel heißt wie: diese Hoffnung geht nicht ins Leere, darum freuen wir uns auf diesen Tag und nennen wir in der Vorfreude den heutigen Sonntag „Gaudete“.