Gottes Aposteriori

Actus Academicus 12. Juli 2014: Ex 33, 12-23 + Joh 14, 1-12

I
Wer so wie Sie heute ihre oder seine Promotionsurkunde oder ein Abschlusszeugnis ausgehändigt bekommt, denkt sich wie von selbst: Geschafft. Das denken wir alle immer wieder. Und immer ist es falsch. Schon beim ersten Mal stimmt es nicht. Ein Dichter aus der Gegend, der ich selbst entstamme, hat das neulich so gesagt:

auf die Welt kommen

ein kleiner
ein heller punkt
ein licht

du meinst du
erstickst
du mußt raus

deinen kopf deinen kleinen
drückt’s zusammen
dann würgt’s dich

du schreist
und schreist
so laut du kannst

du kannst nicht mehr
bist fix und fertig:

dabei soll’s jetzt erst losgehn.

 
II
Mir liegt fern zu dramatisieren. Aber ein kleines Geborenwerden ist der Berufseinstieg schon. Man hat irgendwie das Gefühl, viel hinter sich zu haben – und findet sich unversehens in lauter Herausforderungen verstrickt, die man sich nie hätte träumen lassen. Und die größte dieser Herausforderungen: der ganz normale Alltag mit seinen Trivialitäten und Banalitäten. Gespräche, die nicht weiterführen; Situationen, die unklar bleiben. Die Ohnmacht, wenn einem jemand sein Unglück erzählt und man selbst nur noch zuhören kann und dableiben, obwohl man davonlaufen möchte. Danebengegangene Schulstunden, die doch so gut vorbereitet waren – aber die Schülerinnen und Schüler sind Montagfrüh durch nichts aus ihrer Lethargie zu reißen (und Religionsstunden sind bekanntlich immer Montagfrüh. Oder Freitagmittag). Natürlich: Es gibt auch die anderen Stunden, die guten, da man sich freut über Geglücktes. Aber der Regelfall sind sie nicht. Wenn man halbwegs sensibel ist und sich darum hie und da gleichsam selber einmal über die Schulter schaut, wird man sich ziemlich schnell fragen: Was tue ich denn da eigentlich?

III
Dass jemanden, der mit Theologie zu tun hat, diese elementare Frage so unversehens mitten im Werktag seines Berufes geradezu anspringen kann, das hat von Wesen mit dieser Profession zu tun, mit der Theologie, also der Gottrede in allen ihren Formen. Denn die Theologin, der Theologe haben buchstäblich nichts in der Hand. Da lässt sich nichts demonstrieren und produzieren (und wehe einer probiert‘s). Natürlich, Sie haben in den 10, 12 oder mehr Semestern viel studiert, gelesen, gelernt, haben in 15 Fächern Prüfung gemacht. Und wozu? Um Spurenleserinnen, um Spurenleser zu werden: jemand, der an dem, was ist, wahrzunehmen vermag, dass das, was ist, nicht alles gewesen sein kann, und der andere auf dieser Spurensuche buchstäblich als guter Geist begleiten oder sie diesen Blick zu lehren vermag. Natürlich: Einfacher wäre es uns lieber. Wie dem Mose auf dem Gottesberg: Lass mich doch deine Herrlichkeit schauen! Aber das geht nicht. Denn wenn an all dem – an Gott und was zu ihm gehört – etwas dran sein soll, dann muss es unser Eigenes übersteigen. Aber trotzdem muss es ein Gemeinsames geben, sonst vermöchten wir überhaupt nichts von diesem anderen zu wissen. Die Gottesantwort auf des Mose Bitte im Exodus-Buch bringt dieses Ineinander von Fremdsein und Vertrautheit in ein so geheimnisvolles wie anrührendes Bild: Siehe, neben mir ist ein Platz, da magst du dich auf den Felsen stellen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Höhlung des Felsens stellen und meine Hand über dich decken, bis ich vorübergegangen bin. Wenn ich meine Hand zurückziehe, wirst du meinen Rücken schauen.

Neben Gott darf sich Mose stellen. Auf Du und Du mit ihm steht er. Das ist das eine. Aber die Herrlichkeit dieses Gottes, seine kabod, die Urs von Balthasar immer mit „Wucht“ übersetzte, die ist zu viel für ihn. Darum hält dieser Gott schützend seine Hand über den Mose, dass er nicht überfordert werde. Nur wenn es schon vorüber ist, darf Mose einen Blick auf das Unbegreifliche tun und vermag er gerade noch Gottes Rücken zu erblicken. Nur nachdem es war, wissen wir etwas vom Absoluten. Gotteserfahrung ist etwas Transitorisches, ist Vorübergang, und die Spur, die sie dabei zieht wie eine Sternschnuppe, ist das, was wir von ihr zu erfassen vermögen. Jenseits der Bilder gesagt: Den – buchstäblich gemeinten – Anspruch des Unendlichen vernehmen wir nur im Echo der Antwort, die wir auf es geben. Oder noch etwas zugespitzter: Gottes Existenz besteht darin, dass er sich uns zu denken gibt. Mich persönlich fasziniert, dass unsere Exodus-Stelle so etwas wie das heimliche Leitmotiv eines Gutteils der angeblich so glaubensfernen modernen Philosophie darstellt.

IV
Und noch eines finde ich faszinierend: dass sich die christliche Gottrede gerade in ihren Spitzensätzen genau diesem Ineinander von Nähe und Verborgenheit einschreibt, das dem Mose auf dem Gottesberg gewährt wird. Mit „Spitzensätze“ meine ich natürlich das heutige Evangelium: Verse aus den sogenannten Abschiedsreden Jesu, die nicht nur der Schlüssel zum Verständnis des Johannesevangeliums sind, sondern genau besehen zum christlichen Glauben insgesamt, aufgipfelt in dem so kategorischen wie prosaischen Wort: Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen.

Das Aufregende an diesem Satz vermag nur zu vernehmen, wer damit ernstmacht, dass es sich beim Evangelium nicht um etwas Neues nach dem sogenannten Alten oder Ersten Testament handelt, sondern um den allerersten und darum auch maßgebenden Kommentar zu diesem. Das heißt natürlich auch: Der Satz aus dem Johannesevangelium – dass den Vater gesehen habe, wer auf Jesus schaut – will als Auslegung und Konkretisierung der Exodus-Stelle aus der Lesung verstanden sein. Der Nazarener ist christlich gedacht das, was der Mensch von Gott wahrzunehmen vermag, sein Rücken sozusagen, sein Spur. Was er sagte, was er tat, wie er lebte, so ist Gott – und alles immer unter diesem Vorzeichen des Vorübergehenden, des nicht Festzuhaltenden.

Jesus als lebendiges Gleichnis Gottes, als seine Metapher. Metaphern sind eine heikle Sache. Man kann sie nie machen. Sie glücken (wenn sie glücken), sie mischen Fremdes und Vertrautes so, dass es die Adressaten und Adressatinnen trifft. Das ist nicht neu, schon Aristoteles hat es gewusst. Unser Glaubensbekenntnis, die Dogmen und Traditionen der Kirche, die Theologien – sie alle wollen eigentlich gar nichts anderes, als genau diesen Gedanken einzuhegen, dass sich der unfassliche Gott, der über jedes Menschenmaß geht, in einem Unseresgleichen zugänglich gemacht hat, in Augenhöhe gewissermaßen, metaphorisch eben. Als transitorische Spur in Menschengestalt. Und alle praktizierte Theologie – in der Verkündigung, gefeiert als Liturgie, mehr oder weniger wortlos getan in der Diakonie des Engagements oder des Gesprächs, ins Wort gebracht als Katechese oder wie immer –, all diese praktizierte Theologie kann ihrerseits nichts anderes sein wollen als Reflex oder Echo – oder sagen wir einfach nochmals: Metapher – der Gottesmetapher, die dieser Jesus war.

Insofern können Sie als Theologinnen und Theologen, die ihren Dienst aufnehmen, beruhigt ans Werk gehen: Machen können Sie ohnehin nichts. Gelungenes ist Geschenk, beglückender Fund. Aber eben darum wird das Suchen Ihrer besten Mühen wert sein. Und grundsätzlich gilt: Sie dürfen sich mit Gott auf Du und Du gestellt wissen. Mehr braucht es nicht.