Heute bestehen
Actus Academicus Januar 2015: systematisch
I
Es tut mir aufrichtig leid, aber das rhetorische Instrument des genus grande, der Festansprache, die Sie als diejenigen, die in diesen Stunden Ihre Magister-Diplome oder Promotionsurkunden erhalten, verdient hätten und vielleicht auch erwarteten, taugt heute nicht. Zu dramatisch ist die Lage momentan, in der Sie als Magistri bzw. Magistrae oder Doctores der Theologie von unserer Fakultät verabschiedet werden. Vom ersten Tag Ihrer nun bevorstehenden beruflichen Tätigkeit, sei es vor Schülerinnen und Schülern, sei es in einer Gemeinde, sei es in der Öffentlichkeitsarbeit, der Erwachsenenbildung, der Politik oder anderswo, werden Sie sich in eine Debattenlage verstrickt finden, wie es sie mindestens seit der berühmt-berüchtigten Regensburger Vorlesung des damaligen Papstes Benedikt im Herbst 2006 nicht mehr gegeben hat – in einen Streit um Religion und Öffentlichkeit, um Christentum, Islam, um Pegida, um Säkularität und die Gewaltfrage. Sie wissen, wovon ich spreche: Die Massaker von Paris, Charlie Hebdo, von Aufklärung und Fundamentalismus. Und Sie werden, das garantiere ich Ihnen, überall, wohin Sie jetzt als junge Theologinnen und Theologen kommen, sofort mit diesem Themenkomplex konfrontiert werden.
II
Was ist passiert und worum geht es dabei eigentlich? Ein für seine religionsfeindliche Einstellung und seinen Antiklerikalismus seit Jahren bekanntes Satiremagazin Namens Charlie Hebdo veröffentlicht wieder einmal bitterböse, meist mit dem Instrument sexistischer Darstellung arbeitende Karikaturen des Propheten Mohammed. Wobei entsprechende Zeichnungen über das Christentum seit Jahren weit drastischer waren als die über Judentum und Islam, auch Anzeigen nach sich zogen, aber vor Gericht regelmäßig im Namen der Meinungsfreiheit versandeten. Aber jetzt zogen zwei radikalisierte Djihadisten, die vom Islam übrigens wenig Ahnung hatten, los und mähten in einer beispiellosen Aktion nahezu die gesamte Redaktion des Magazins, begleitet vom Schrei „Allahu akbar“ – Gott ist groß – in einem Blutbad nieder, um die angebliche Beleidigung des Propheten zu rächen.
III
Die Zahl der Kommentare und Deutungen des schrecklichen Geschehens ist längst unübersehbar geworden. Aber sie lässt sich dennoch sehr leicht zwei Sichtweisen zuordnen: Die einen fordern – in etwa vergleichbar den „neuen Atheisten“ angelsächsischer Herkunft – nun endgültig allem, was sich als „heilig“ versteht, die öffentliche Anerkennung und allen Schutz zu entziehen, Religion also strikt in die Privatsphäre zu verbannen und sie öffentlich unsichtbar und damit wirkungslos zu machen. Die anderen rufen nach einer Verschärfung rechtlicher Normen zum Schutz der Gefühle religiöser Überzeugungsgemeinschaften – so fordern sie etwa in Deutschland die Wiedereinführung des Gotteslästerungsparagraphen oder zumindest die Durchsetzung der Bestrafung bei „Beschimpfung religiöser Bekenntnisse“, wenn diese dazu angetan sind, den öffentlichen Frieden zu stören. Beides liegt so sehr daneben, wie es – entschuldigen Sie dieses Kunstwort – danebener nicht liegen könnte. Die Ersteren, die Anti-Religiösen, haben bis heute nicht begriffen, dass man Religion einfach nicht unsichtbar machen kann, weil selbst Atheisten einer – im Übrigen ziemlich hart gesottenen – Glaubensüberzeugung folgen, die für ihr Zutreffen relativ wenige Argumente aufzubieten hat. Und die Anderen, die Religions-Sensiblen (oder sollte ich sagen: Religions-Sensibelchen) haben noch immer nicht begriffen, dass man Gott, wenn es Gott gibt, nicht beleidigen kann, weil er dafür viel zu groß wäre, wie schon mein Hausheiliger, der jüdische Philosoph und „Ketzer“ Baruch de Spinoza, wusste und der große Rechtsgelehrte Anselm von Feuerbach vor gut 200 Jahren formulierte – als ob er, dieser Gott, wenn er Gott ist, wegen ein paar geschmackloser Karikaturen beleidigt sein oder gar durch die Strafe seiner Beleidiger versöhnt sein könnte. Wenn man Gott überhaupt beleidigen kann, dann dadurch, dass die einen seiner Geschöpfe um des Glaubens willen andere ihresgleichen umbringen.
IV
Was also bleibt unterm Strich? Natürlich das große Gut der Meinungsfreiheit, das zu den Kostbarkeiten der alteuropäischen Kultur gehört, um das uns die Amerikaner genauso wie die Asiaten beneiden dürfen – oder zumindest beneiden sollten. Religiöses war und ist dem buchstäblich seit Jahrtausenden ausgesetzt, ohne darum Schaden zu nehmen: Legionen sind der jüdischen Witze über Religion, nicht viel weniger dergleichen findet sich im Christlichen, speziell in der katholischen Tradition (ich könnte Ihnen ein paar Stunden lang derbe Witze über Päpste, Bischöfe und Pfaffen aus allen historischen Epochen erzählen). Und übrigens begegnet das Phänomen nicht weniger, sprachlich und selbst als Karikatur, im Islam seit dem 9. Jahrhundert; erst im Lauf des 19. Jahrhunderts hat der Islam dies unter dem Druck des reaktionären Wahabitentums weitgehend eingebüßt. Religion einerseits und Humor, Ironie, ja Sarkasmus andererseits haben sich in den großen monotheistischen Traditionen nie ausgeschlossen. Sie haben systematisch immer dort Raum gegriffen, wo die Gefahr Raum griff, dass religiöse Überzeugungen zum Instrument der Interessenwahrung und Machtausübung bestimmter Teilgruppen, meist klerikaler Eliten, einer Glaubensgemeinschaft wurden. Überall dort kam und kommt es zu drastischen sprachlichen wie ästhetischen Kritiken. Auch ein Gian Lorenzo Bernini etwa, der Meisterarchitekt von acht Päpsten, hat das im 16. Jahrhundert schon in seiner Karikatur des knausrigen Papstes Innozenz XI. drastisch zur Geltung gebracht, derzeit im Original zu sehen in Leipzig. Das ist nicht weit entfernt von Charlie Hebdo.
V
Aber darf religiöse Satire deswegen alles? Manche sagen momentan „ja“: Natürlich, alles! Immer drauf! Ich sehe das anders. Ich betrachte Respekt vor den Überzeugungen, auch den religiösen Überzeugungen anderer nicht als Hemmnis, sondern als inneres Moment aufgeklärter Vernunft. Ich kann einfach nichts Aufklärerisches an einer Karikatur von Charlie Hebdo finden, das die christliche Trinität in Gestalt einer analen Penetration von Gottvater durch Gottessohn darstellt und dann den Geist als Dreifaltigkeitssymbol dem Sohn in den Anus schiebt – als Persiflage dafür, dass der dreifaltige Gott nichts anderes als Liebe ist.
Charlie Hebdo hat sich immer damit gebrüstet, die Kultur einer Achtung des Anderen als Anderen zu unterlaufen, und ist stolz auf seine Rücksichtslosigkeit – was übrigens entgegen dem momentanen öffentlichen Eindruck nur eine sehr kleine Minderheit von Franzosen und Französinnen zu goutieren weiß. Geschmacklosigkeiten gehören zum Standardrepertoire seiner Autoren. Auch das kann man durchaus noch verkraften. Was meiner Meinung nach nicht mehr geht – jetzt zitiere ich den tschechischen Soziologen und Theologen Tomáš Halík, der bittere Jahre als Untergrundpriester durchleben musste –, was nicht mehr geht, ist: „dass man Dekadenz und Zynismus als Symbol unserer Kultur der Freiheit feiert – denn zur Freiheit gehört die Verantwortlichkeit.“
Anders gesagt: Respekt vor religiösen Einstellungen gehört zur Substanz der Aufklärung. Das haben die Autoren von Charlie Hebdo offenkundig bis heute nicht verstanden. Und darum würde ich mir – genauso wie Halík – nie den Sticker „Je suis Charlie“ anheften, obwohl ich die Massaker von Paris für ein gotterbärmliches Verbrechen halte, zutiefst mit den Opfern vom 07.01. fühle und ihren Angehörigen mein Mitleid bekunden möchte.
VI
Und was hat das alles mit Ihnen und heute zu tun?, fragen Sie jetzt vielleicht. Ganz, ganz viel, antworte ich Ihnen. Sie gehen jetzt als Theologinnen und Theologen ins Berufsleben, in eines – das kann ich Ihnen versichern –, das herausfordernder nicht sein könnte. Tag für Tag werden Sie mit genau den Fragen konfrontiert sein, die ich soeben angeschnitten habe.
Und Sie werden erleben, dass Sie mit all diesen Fragen nur klarkommen, wenn Sie sich im Gang Ihres Studiums in ein Verhältnis zum Zusammenhang von Vernunft und Glaube gebracht haben. Das ist jetzt kein heimlicher Werbeblock für mein Fach der Philosophie, in dem dieses Thema wohl noch expliziter verhandelt wird als in den anderen Disziplinen, sondern einfach Fakt: Sie werden und müssen sich der Frage stellen, was es bedeutet, sich unter den Voraussetzungen einer sich als postreligiös gebenden, aber gleichzeitig religiös hoch aufgeladenen Spätmoderne als religiös sensible und kompetente Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu definieren. Einfach, das sage ich Ihnen gleich, ist das nicht. Daran sind die Philosophie und die Theologie der letzten fünf Jahrzehnte nicht unschuldig. Das gehört zu den verstörenden Hintergründen des neuesten Romans des französischen Skandalautors Michel Houellebecq mit dem Titel Unterwerfung, der just am Tag der Pariser Massaker erschien und an eben jenem Tag Gegenstand der Titel-Karikatur von Charlie Hebdo war. Die Leit-These des Buches: Der Westen hat seine eigenen Werte durch seine vergleichgültigende Wurstigkeit derart diskreditiert, dass ein gedeihliches Zusammenleben von Kulturen unter dem Vorzeichen der Globalisierung nur noch unter dem Vorzeichen anderer starker Überzeugungen denkbar sei. Und da das Christentum durch seine relativistische Schwäche offenkundig abgedankt habe, falle diese Rolle nunmehr dem Islam zu. Deswegen werde es in den auf uns zukommenden 20er Jahren dieses Jahrhunderts in Frankreich (und bald auch anderswo) islamische Staatsoberhäupter und die Einführung von Scharia und Polygamie geben.
Eine literarische Fiktion, gewiss. Und trotzdem hat sie einen Wahrheitskern: Zu sorglos hat man oft – übrigens auch an unserer Fakultät – das Lob des Pluralismus einer oberflächlichen Postmoderne gesungen, in der alles geht, wie man so sagte – und darüber die Kunst verlernt, Differenzen nicht mit Kalaschnikows, sondern mit Argumenten auszutragen, die sich bis ins Geviert letzter, also nicht nochmals zu hintergehender Gründe vorwagen.
Ich hoffe sehr, dass Sie diese Kunst im Gange Ihres Studiums bei uns gelernt haben. Wenn nicht, dann hätten wir als Ihre Lehrerinnen und Lehrer bitter versagt. Wenn schon, dann denke ich, dass Sie von uns mitbekommen haben, was es braucht, um als Theologin und Theologe in diesen bewegten Zeiten zu bestehen. Gottes Segen wünsche ich Ihnen für das, was jetzt vor Ihnen liegt.