Über das Wunder der Uneigennützigkeit

7. Sonntag C: 1 Sam 26, 2.7.9. 12-13. 22-23

I
Die erste Lesung von heute aus dem ersten Samuelbuch führt uns christliche Hörerinnen und Hörer von heute in Gefilde, die uns sehr verschlossen sind. Diese sogenannten Geschichtsbücher des Ersten Testaments interessieren uns zumeist einfach nicht – was geht uns schon an, was damals in und mit Israel geschah! Und da begegnen uns zudem noch und noch Konfliktlagen und Gewaltgeschichten, von den uns wohl lieber wäre, sie stünden nicht in der Bibel, damit wir nicht zu nah an andere Traditionen, zumal diejenigen des Koran gerückt werden können.

II
Aber es hilft nichts: Auch das Alte – oder besser: Erste – Testament ist ein Buch voller Gewalt. Und wir Christinnen und Christen können uns davor nicht davonstehlen, weil wir mit unserem Glauben auf den Schultern des Judentums stehen. Wir müssen uns dem Faktum stellen, dass sich der biblische Glaube mühselig und nichts Menschliches auslassend, gleichsam herausarbeiten musste aus den geschichtlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er sein Profil gewann. Er ist ja nicht einfach vom Himmel gefallen. Er musste buchstäblich hervorgedacht werden, wie Thomas Mann sagen würde. Selbst für den Gottesgedanken gilt das.

Deswegen schrieb Thomas Mann in seinem Mammutwerk der vier-bändigen Josephsromane über Abraham eine schier atemberaubende Passage. Da heißt es:

„So hatte Abraham Gott entdeckt aus Drang zum Höchsten, hatte ihn lehrend weiter ausgeformt und hervorgedacht und allen Beteiligten eine große Wohltat damit erwiesen: dem Gotte, sich selbst und denen, deren Seelen er lehrend gewann. Dem Gotte, indem er ihm Verwirklichung in der Erkenntnis des Menschen bereitete, sich selbst und den Proselyten aber namentlich dadurch, dass er das Vielfache und beängstigend Zweifelhafte auf das Eine und beruhigend Bekannte zurückführte, auf den Bestimmten, von dem alles kam, das Gute und das Böse, das Plötzliche und Grauenhafte sowohl wie das segensvoll regelmäßige, und an den man sich auf jeden Fall zu halten hatte. Abraham hatte die Mächte versammelt zur Macht und sie den Herrn genannt – ein für allemal und ausschließlich […].“1

Man muss dabei die Doppelrichtung des Prozesses im Blick behalten: Durch das Hervordenken Gottes, durch welches Abraham „gewissermaßen […] Gottes Vater“2 wird, wird Gott ein Gott „im Werden“3, aber was da wird, wirkt als durch und durch dringende Lebensmacht auf den Abraham und die Seinen zurück. Nochmals wörtlich:

„Denn ihm gab Gott die Unruhe ins Herz um seinetwillen, dass er unermüdlich arbeite an Gott, ihn hervordenke und ihm einen Namen mache, zum Wohltäter schuf er sich ihn und erwiderte dem Geschöpf, das den Schöpfer erschuf im Geiste, die Wohltat mit ungeheuren Verheißungen. Einen Bund schloß er mit ihm in wechselseitiger Förderung, dass einer immer heiliger werden sollte im andern, und verlieh ihm das Recht der Erberwählung, Segens- und Fluchgewalt, dass er segne das Gesegnete und Fluch spreche den Verfluchten. Weite Zukünfte riß er auf vor ihm, worin die Völker wogten, und ihnen allen sollte sein Name ein Segen sein.“4

III
In genau dieser Fluchtlinie steht auch unsere erste Lesung von heute. Zuerst hatte König Saul den jungen David, diesen Hüterbuben aus einer Betlehemer Bauernfamilie liebgewonnen, hatte ihm riskante militärische Aktionen anvertraut. Und der erledigt die Aufgaben derart gut, dass ihm bald die Leute – zumal auch die Frauen (so war das halt damals vor #metoo) – zu Füßen lagen, dem jungen, rotblond gelockten Helden. Und dann wird der alte Saul eifersüchtig (typisch Mannsbild in der Midlife-Crisis) und sucht, den jungen Konkurrenten auszuschalten. Er entfacht einen regelrechten Kriegszug gegen ihn.

Und in dessen Verlauf kommt es zu jener denkwürdigen Szene, von der unsere Lesung erzählt. David dringt in das Lager Sauls ein. Die Wächter schlafen. Davids Gefährten jubilieren und sagen: Gib´s ihm! Mach ihn nieder, dann bist Du König! Aber David tut genau das nicht. Er achtet das gottgegebene Amt des Königtums. Er verzichtet auf die Rache, die menschlich verständlich gewesen wäre. Das war noch nicht die Feindesliebe, von der das heutige Evangelium in der lukanischen Feldrede – diesem Pendant der matthäischen Bergpredigt – spricht. Und dennoch weist diese davidische Großherzigkeit schon von Ferne auf eine Grundhaltung, die man jesuanisch nennen kann: Dass jemand auf seine Möglichkeiten und Rechte verzichtet, um dem Gegenüber, das sich vielleicht sogar als feindlich dünkt, noch einen Spielraum einzuräumen, der die Situation grundlegend zu verwandeln vermag. Einen Spielraum, der im Grunde nichts mehr mit Moral zu tun hat, sondern nur noch einer geistlichen Haltung und ihrer inneren Freiheit zu entspringen vermag.

IV
All diese Dinge scheinen uns im ersten Moment unendlich fern, alt-israelitische Konfliktlagen halt. In Wirklichkeit stehen sie uns Face to Face, wie man heute sagt, und fallen uns – wenn sie ungelöst bleiben – buchstäblich auf die Füße. Denn genau das Gleiche erleben wir seit Monaten innerkirchlich. Die Rollen sind ziemlich gut erkennbar verteilt: Die Saul-Rolle spielen Leute aus der Römischen Kurie. Die David-Rolle hat Papst Franziskus übernommen. Viele Menschen finden überzeugend, was er tut, wie er alle Kamellen in der Kirche abräumt, neue Gedanken anstößt – wenn auch manchmal ängstlich und zögerlich (aber er weiß, warum er das so tut – und einem 83-Jährigen muss man ja nicht unbedingt die Power eines 30-Jährigen abverlangen). Und die Saule in der Kurie werfen ihm Prügel in den Weg, wo immer sie können. Trotzdem tötet er sie nicht, indem er sie zum Beispiel aus dem Kardinalskollegium wirft, was er könnte, er lässt sie gewähren, nur entlässt er den einen oder anderen aus hochrangigen Ämtern – und dann wüten die weiter als Frühpensionäre (einer spielt sich gar als Gegenpapst auf, wohl in der absurden Hoffnung, Franziskus´ Nachfolge anzutreten). Er achtet ihr Amt. Das ist hochgefährlich. Aber er traut sich das. Das ist auch etwas Davidisches.

Vergleichbares gilt für die Art und Weise, wie man ihn indirekt fertig machen möchte. Erzkonservative Webseiten und Blogs suchen seit Monaten danach, Franziskus irgendwelche Versagen in Sachen Missbrauch ans Bein zu schmieren. Wenn da etwas versäumt gewesen sein sollte, dann nicht anders als bei Joseph Ratzinger, als er Erzbischof in München war, oder anderen Erzbischöfen und Kardinälen. Die wussten das damals nicht anders, obwohl es grottenfalsch war. Und was kaum jemand bis heute ausspricht: Die schlimmsten Missbraucher wie Kardinal McCarrick haben ihre Karriere nicht unter Franziskus, sondern unter dem viel zu schnell heilig-gesprochenen Johannes-Paul II. gemacht, genauso wie der üble Gründer der Legionari di Cristo, Marcial Maciel Degollado, der nicht nur Seminaristen missbrauchte, sondern mit mehreren Frauen auch noch Kinder zeugte (die er dann auch noch missbrauchte). Und eine der übelsten Rollen hat dabei der Privatsekretär von Johannes-Paul, der spätere Kardinal von Kraukau, Stanislaw Dziwisz, gespielt (da könnte auch dem einen oder anderen deutschen Kurienkardinal noch was auf die Füße fallen). Si sa, ragazzi!

V
Ich mag nicht mit solchen Bemerkungen aufhören, die bitter sind, obwohl wahr und hart. Deswegen stelle ich an das Ende ein Gedicht des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig. Überschrieben ist es mit

Des Jehuda Halevi
Sechsundneunzigstes Gedicht

Und es heißt:

Wenn deinem Gott du harrst entgegen,
wie könnte dich der Tand der Welt erregen!

Wenn du in Wahrheit auf den Namen Gottes traust,
so sorg nicht, jauchze nicht des Weltlaufs wegen.

Doch so ists nicht! Nein, wohnend in der Lüste Grab.
Verweigerst Zucht du, willst nicht überlegen!

Im Dunkeln wohnst du, siehst des Lichtes Ort nicht – wie
Willst Gut und Bös du auseinanderhegen?

Nah ist dein Flug von hinnen! Wähl der Wahrheit Pfad.
Was schweifst du rechts und links zu Seitenwegen!

Die Tage trügen dich! Eh noch ihr Trug gelang
Betrüge sie! So bist du überlegen.

Such Erbe für dich selbst, das ewig du ererbest,
lass, was dir nur erwirkt des Erben Segen.

Wenn du auf den Namen Gottes traust, musst du dich nicht mehr sorgen, und der Weltlauf – sei er strahlend, sei er dunkel – muss dich nicht mehr scheren. So hat es David gehalten und ist trotz seiner Schuldverstrickungen – Stichwort Batseba – zum Idealkönig Israels und gar zum Vorausbild des erhofften Messias-Königs geworden. Bei Papst Franziskus nehme ich auch dieses Vertrauen in den Namen Gottes wahr, der da heißt „Ich-bin-der-ich-bin-da-für-euch“. Das bewahrt nicht vor Fehlern und Fehlschlägen. Aber es schenkt der Seele einen Frieden, den nichts erschüttern kann. Deswegen denke ich, es lohnte sich, dies auch selbst auszuprobieren.


1Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der zweite Roman: Der junge Joseph. 9. Aufl. Frankfurt a.M. 2000. 42.
2Mann: Der zweite Roman (Anm. 30). 44.
3Mann: Der erste Roman (Anm. 29). 53.
4Mann, Thomas: Joseph und seine Brüder. Der vierte Roman: Joseph, der Ernährer.  9. Aufl. Frankfurt a.M. 2000. 279-280.