Wortlose Predigt heiliger Heiden
Hochfest Fronleichnam C: [Gen 14, 18-20]
I
Wenn man Kunstfreunde fragte, was denn für sie die zehn berühmtesten Meisterwerke der Welt seien, dann würde sie oder er kaum vergessen, das Abendmahl von Leonardo da Vinci im ehemaligen Dominikanerkloster zu Mailand mit aufzuzählen.
16 Jahre hat der Künstler daran gearbeitet, manchmal Tag und Nacht ohne Unterbrechung, manchmal an einem Tag nur drei Pinselstriche ziehend, um dann stundenlang schweigend davor zu sitzen. Tausende Male ist es kopiert, radiert, verkitscht worden bis zum Geht-nicht-mehr. Als da Vinci noch daran arbeitete, begann es bereits zu zerbröseln, weil sich die feuchte Wand nicht mit seiner neuen Maltechnik vertrug. Mehrfache Restaurierungsversuche später haben es buchstäblich ruiniert, so dass man das ursprüngliche Werk im Grunde nur noch erahnen kann. Und dennoch übt das Bild bis heute eine ungebrochene Faszination aus, schlägt Betrachterinnen und Betrachter in Bann.
II
Ich denke, das hat mehrere Gründe. Da ist zum einen natürlich die Bildgeschichte selbst. Dadurch, dass sich Leonardos Werk denen, die vor ihm stehen, zugleich in gewissem Sinn hinter dem Schleier der Übermalungen entzieht, macht es etwas fühlbar von dem Mysterium, das das Abendmahl seit je umgibt. Denn Jesus hat ja für seinen Abschied nicht nur einen Teil der Pesach-Feier seines jüdischen Glaubens aufgegriffen und neu gefüllt, der das Ereignis der Geschichte des Gottesvolkes schlechthin vergegenwärtigt: Exodus. Dieser jüdische Ritus hat seinerseits Wurzeln in einem uralten Hirtenfest und in diesem wiederum macht sich das Echo eines archaischen Ritus des Gott-Essens vernehmbar, wo Menschen in einer uns unvordenklichen Geschichtstiefe das Geheimnis von Tod und Leben begangen haben. Ägyptische und altgriechische Überlieferungen haben davon Spuren aufbewahrt. Und in der Bibel hat sich dieses heilige Wissen in der Episode der heutigen ersten Lesung niedergeschlagen, wo der – nota bene! – heilige Heide Melchisedek, den Abraham, also den Stammvater des biblischen Glaubens segnet, Brot und Wein, die Gaben der Erde und der menschlichen Arbeit dem höchsten Gott weiht und dann dem Abraham zur Stärkung reicht. Das alles schwingt bis heute leise mit, wenn wir Brot und Wein zum Altar bringen und Eucharistie feiern. Fast alle Kirchenväter haben darum gewusst, dass es beim Altarssakrament um die tiefste Frage des Menschseins überhaupt geht – ums Sterben und Leben und wie beides zusammengehört. „Pharmakon athanasias“ haben sie deshalb unter anderem die Eucharistie genannt, „Heilmittel der Unsterblichkeit“. Wir heute müssen uns da meist erst herantasten.
III
Genau dabei könnte uns Leonardo da Vinci helfen. Und das ist der zweite Grund, warum sein Abendmahl so viele Menschen fasziniert. Leonardo war nicht sonderlich fromm. Sein Lebensstil, seine Arbeitsgewohnheiten entsprachen nicht dem, was man damals von einem Katholiken so erwartete. Deshalb stilisieren ihn manche Biographen zum ersten modernen Menschen, der sich für die Religion nicht interessiert und stattdessen sich völlig dem Studium der Natur und des menschlichen Körpers gewidmet habe. Ich halte das für kurzsichtig. Schon Sigmund Freud fiel auf, dass Leonardo mit seinem Lesen im Buch der Natur, mit seinen Überlegungen zu Proportionen und Mathematik, dem ein gutes Jahrhundert nach Leonardos Tod geborenen jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza ähnelt, für den der radikale Gebrauch der Vernunft ein Bejahen der Schöpfung und damit eine Form der Gottesliebe war.
Ganz abgesehen davon hat Leonardo nicht nur testamentarisch verfügt, dass nach seinem Tod in drei verschiedenen Kirchen für ihn Messen gelesen werden sollten. Er hat auch – siehe Abendmahl – Aufträge für religiöse Kunstwerke übernommen, und zwar offensichtlich ohne, dass er das aus wirtschaftlichen Gründen nötig gehabt hätte, weil ihm Geld ziemlich egal war.
Aber wenn er solche Aufträge übernahm, dann wich er jedes Mal auf geradezu verstörende Weise von dem Kanon ab, der für die bildliche Darstellung zumal biblischer Szenen unausgesprochen oder ausgesprochen in Gestalt von Vorgaben seitens der Auftraggeber verbindlich war. Und genau das ist auch beim Abendmahlsbild der Fall. Leonardo zeigt uns nämlich Jesus und die Jüngerschar nicht beim Teilen von Brot und Kelch, sondern in dem Augenblick, da Jesus kundgibt, einer aus dieser Runde werde ihn verraten. Goethe hat just das 1817/18 zum Zentrum eines berühmten kunstwissenschaftlichen Aufsatzes über Leonardos Abendmahl gemacht. Da heiß es unter anderem:
„Das Aufregungsmittel, wodurch der Künstler die ruhig heilige Abendtafel erschüttert, sind die Worte des Meisters: Einer ist unter euch der mich verrät! Ausgesprochen sind sie, die ganze Gesellschaft kommt darüber in Unruhe; er aber neigt sein Haupt, gesenkten Blickes, die ganze Stellung, die Bewegung der Arme, der Hände, alles wiederholt mit himmlischer Ergebenheit die unglücklichen Worte, das Schweigen selbst bekräftigt: Ja es ist nicht anders! Einer ist unter euch der mich verrät.“1
Und dann beschreibt Goethe, wie Leonardo die Jünger in Dreiergruppen bündelt und physiognomisch ihren ganz individuellen Reaktionen auf dieses Jesuswort Ausdruck verleiht. In besonderer Weise schaut er dabei auf die Drei rechts von Jesus, wo Leonardo Johannes, Judas und Petrus zusammenstellt. Petrus, hinter Judas stehend, hochfahrend gleichsam und auf Johannes eindringend, wer denn der Verräter sei, und Judas davor, wobei Petrus mit seiner Rechten dem Judas wie unbeabsichtigt einen Messergriff in die Rippen drückt, weshalb dieser sich halb über den Tisch beugt, den Geldbeutel in der Hand.
IV
Vermutlich gibt es kein anderes Bild auf Erden, wo Liebe und Verrat derart ineinander gewoben sind wie auf diesem Abendmahl Leonardos. Und eben dies ist ein Wink, der uns heute an Fronleichnam, da wir mit einer Eucharistiefeier das Geheimnis der Eucharistie feiern, zu denken geben mag. Man muss sich ja nur klarmachen, was wir da tun: Wir empfangen, wenn wir vom geteilten Brot essen und aus dem Kelch trinken, Leib und Blut des Herrn. Wir nehmen sein Leben in uns hinein, aber zugleich holt er uns auf diese Weise, da wir uns mit ihm vereinen, in sich hinein. Wir werden ein Stück von ihm, wollen also sein wie er mit allem, was dazu gehört und sich bündelt im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Jedes Mal, wenn wir die Kommunion empfangen, drücken wir aus: Ja, ich will sein wie Du, Herr. Ich will, dass Du so in mir bist, dass ich ganz in Dir bin. Und dann kann es gar nicht anders sein, als dass alles, was wir tun und treiben, diesem Verbundensein Ausdruck gibt. Tut es das nicht, zeihen wir die Liebe der Lüge und sind wir in die Fußstapfen des Judas getreten.
V
Um die Entstehung von Leonardos Abendmahl ranken sich auch Legenden – mal mehr, mal weniger glaubwürdige. Eine gibt es aber, die entspricht ziemlich genau dem, was ich eben über das Ineinander von Liebe und Verrat zu sagen versuchte. Leonardo hat immer nach konkreten Modellen gemalt – auch beim Abendmahl. Die Mönche des Dominikanerklosters rissen sich darum, Modell sitzen zu dürfen. Nur für zwei Figuren wollten sie das partout nicht: Für den Jesus und für den Judas. So ging Leonardo in der Stadt auf die Suche. Eines Tages stieß er auf einen jungen Fährmann mit einem so offenen Gesicht und so klaren Blick voller Zugewandtheit, dass er ihn fragte, ob er ihm Modell sitzen wolle für den Jesus. Der Mann tat das.
Und dann suchte Leonardo nach dem Judas-Modell. Und er fand einfach keines, Jahre lang. Eines Nachts ging er spät nach Hause, da wurde vor seinen Füßen ein völlig betrunkener Zecher aus einer Kneipe geworfen. Leonardo fing ihn auf, sah im Mondlicht dessen von Suff und Schlägereien verwüstetes Gesicht und dachte: „Der ist`s!“ Er fragte ihn, ob er bereit sei für diesen Dienst des Modell-Sitzens. Für ein paar Flaschen Branntwein stimmte der Mann zu. Eines Tages kam er nicht so stockbetrunken wie sonst, schaut auf das Gemälde, stockte, stieß einen gellenden Schrei aus und rannte davon. Leonardo war schockiert, bis er merkte: Sein Judas-Modell hat ihm Jahre zuvor für das Bildnis Jesu Modell gesessen und hatte sich jetzt, in einem halbklaren Moment selbst erkannt. Leonardo erfuhr: Der Mann hatte durch Krankheit und Unglück Frau und Kinder verloren, seine Arbeit eingebüßt, war auf Abwege geraten und hatte allen Boden unter den Füßen verloren.
VI
Jesus und Judas in einer Person. Beides steckt in jedem Christen, in jeder Christin. Und es steckt auch – ins Größere gewendet – in der Kirche als Ganzer, die man oft und gern auch „Leib Christi“ nannte und nennt. Was da Verrat bedeuten kann, erleben wir derzeit – Land um Land ergreifend – durch die Aufklärung der Missbrauchsskandale. Denn die haben ihre tiefste geistliche Wurzel in einem Verrat an der Liebe. Augustinus hat diesen inneren Zusammenhang von Eucharistie und Kirche-Sein in einer Osterpredigt für Neugetaufte prägnant auf den Punkt gebracht, indem er sagte:
„Seid, was ihr seht, und empfangt, was ihr seid.“2
Wo Verrat geschieht, wird dieser Zusammenhang zerstört. Das verursacht Verletzungen, seelische und im Fall von Missbrauch auch körperliche – und geistlich pervertiert sich Glaube in Lüge.
Dabei könnte alles ganz anders sein, wenn sich die Kirche, ihre Amtsträger und die Gläubigen vor diesem Verrat hüteten. Dann wäre nämlich wahr, was einst Gertrud von Le Fort in ihren Hymnen an die Kirche gedichtet hat, ein Großgedicht, das etwas vom Glanz und der Freude des Fronleichnamsfestes bis hinab in jenen unvordenklichen Brunnen der Geschichte seiner Herkunft spiegelt. In einem Zwiegespräch zwischen der menschlichen Seele und Gott, der durch die Stimme der Kirche spricht, legt die Dichterin dieser Stimme der Kirche unter anderem die Worte in den Mund:
„Ich habe noch Blumen aus der Wildnis im Arme, habe noch Tau in meinen Haaren aus Tälern der Menschenfrühe. Ich habe noch Gebete, denen die Flur lauscht, ich weiß noch, wie man Gewitter fromm macht und das Wasser segnet.
Ich trage noch im Schosse die Geheimnisse der Wüste, ich trage noch auf meinem Haupt das edle Gespinst grauer Denker. Denn ich bin Mutter aller Kinder dieser Erde, was schmähst du mich, Welt, dass ich groß sein darf wie mein himmlischer Vater? Siehe, in mir knien Völker, die lange dahin sind, und aus meiner Seele leuchten nach dem Ew'gen viele Heiden! Ich war heimlich in den Tempeln ihrer Götter, ich war dunkel in den Sprüchen all ihrer Weisen. Ich war auf den Türmen ihrer Sternsucher, ich war bei den einsamen Frauen, auf die der Geist fiel. Ich war die Sehnsucht aller Zeiten, ich war das Licht aller Zeiten. Ich bin ihr großes Zusammen, ich bin ihr ewiges Einig. Ich bin auf der Straße aller ihrer Straßen: Auf mir ziehen die Jahrtausende zu Gott.“
…
Und die Seele sagt zur Kirche:
„Du hast einen Mantel aus Purpurfäden, die sind nicht auf Erden gesponnen. Deine Stirn ist mit einem Schleier geschmückt, den haben dir unsre Engel geweint: Denn du trägst Liebe um alle, die dir gram sind, du trägst große Liebe um die, welche dich hassen. Deine Ruhe ist immer auf Dornen, weil du ihrer Seelen gedenkst. Du hast tausend Wunden, daraus strömt dein Erbarmen; du segnest alle deine Feinde. Du segnest noch, die es nicht mehr wissen. Die Barmherzigkeit der Welt ist deine entlaufene Tochter, und alles Recht der Menschen hat von dir empfangen. Alle Weisheit der Menschen hat von dir gelernt. Du bist die verborgene Schrift unter all ihren Zeichen. Du bist der verborgene Strom in der Tiefe ihrer Wasser. Du bist die heimliche Kraft ihres Dauerns.“3
VII
An Fronleichnam, da wir immer auch den Segen in alle vier Winde rufen und so unsere Welt Gott anvertrauen, dürfen wir uns dessen zumindest ein wenig erinnern, was Kirche sein könnte, wenn sich ihre Glieder, alle, den Wink, den der heilige Heide Leonardo uns mit seinem Abendmahl gibt, zu Herzen nähmen.
1Goethe, Johann Wolfgang von: Joseph Bossi über Leonardo da Vinci Abendmahl zu Mayland. In. Sämtliche Werke. 11.2 Divan-Jahre 1814-1819. Münchner Ausgabe. München 2006. 403-437. Hier 407.
2Augustinus: Sermo 272.
3Le Fort, Gertrud von: Hymnen an die Kirche. 5. Aufl. München 1948. 24. 26.