Wie viel Neues verträgt die Kirche?
7. Ostersonntag C: Apg 7,55-60 + Offb 22, 12-14. 16-17. 20
I
In einer Woche sind die 50 Tage des Hochfestes unseres Glaubens bereits wieder vorbei. Die Sonntage seit dem Weißen Sonntag bis heute haben dabei ein besonderes Gepräge. Beide Lesungen sind aus dem Neuen Testament genommen: die erste aus der Apostelgeschichte, die zweite aus dem letzten Buch des Neuen Testaments, der Offenbarung des Johannes, mit dem griechischen Namen auch „Apokalypse“ genannt.
II
Beide Schriften erzählen von der Kirche: Die Apostelgeschichte, vermutlich vom Evangelisten Lukas niedergeschrieben, schildert uns den Anfang dieser neuen Glaubensgemeinschaft. Und sie tut es so, wie meistens Neuanfänge unter Menschen erzählt werden: voller Begeisterung und in leuchtenden Farben, gleichsam als habe sich ein Traumbild verwirklicht: Die Jesus-Leute waren ein Herz und eine Seele, sie hatten alles gemeinsam, legten ihre Habe den Aposteln zu Füßen, auf dass diese sie gerecht verteilten zwischen Arm und Reich etc. etc. Die Apokalypse dagegen stammt aus einer Zeit schlimmer Bedrängnis: Die Gemeinden werden unterdrückt und verfolgt, blutiges Martyrium ist kein Sonderfall. Angst und Verzweiflung lassen die Gläubigen manchmal die Feinde in der Sprache von Rache, Gewalt und Vergeltung buchstäblich niederbeten.
III
Und dennoch brechen sich auch in diesem schwierigen Stück des Neuen Testaments Trost und Zuversicht immer wieder Bahn: dass der Herr die Seinen auch in dieser Zeit des Kampfes nicht allein lässt, um dann in dem wunderbaren Bild von der himmlischen Stadt Jerusalem zu enden, in der die zwölfmal zwölfmal tausend – also zahllosen – Glaubenstreuen in ein unverlierbares Leben gerettet sein werden, weil Christus, der Auferstandene, dieses Gleichnis Gottes in Menschengestalt, das Alpha und das Omega ist, der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende von allem und deswegen nichts geschieht, was nicht schlussendlich in seinen Händen geborgen wäre – auch jetzt in den Zeiten der Not.
Doch so, wie sich in der Apokalypse auch solche trostvollen Seiten finden, so begegnen uns in der vorderhand so harmonisch strahlenden Apostelgeschichte auch Konflikte, und das nicht zu knapp. Der auffälligste drehte sich um den Konvertiten Saulus, diesen neubekehrten ehemaligen Christenverfolger, der nun als Paulus in atemberaubender Geschwindigkeit zum Apostel der Weltmission wird, keinem Konflikt mit der Tradition seiner Herkunft, dem pharisäischen Judentum, aus dem Weg geht, und sich auch noch mit den Autoritäten der Jerusalemer Urgemeinde, speziell mit Petrus anlegt, als es um die Frage geht, ob denn auch die Nicht-Juden, die sich zum Evangelium bekehren, die jüdischen Kultgesetze einhalten müssten, wenn sie Christusgläubige sein wollten.
Ein anderer Konflikt in der gleichen Sache wird dabei von der dreifach in der Apostelgeschichte erzählten Bekehrung des Saulus gleichsam überblendet, ist aber nicht weniger spektakulär: Die Bekehrung des Petrus. Denn dem wird in einem Traum offenbart, dass es nichts Unreines gibt in einer Welt, die Gott geschaffen hat, und dass er deswegen keinerlei Berührungsangst gegenüber den sogenannten Heiden haben müsse, weil denen genauso wie ihm und seinen jüdischen Glaubensgeschwistern zuvor der Heilige Geist geschenkt sei. Als er das im Haus des heidnischen Kornelius in Caesarea erlebte, wie auf die Predigt hin, um die man ihn bat, die Anwesenden vom Geist ergriffen wurden, wie damals sagte, also sich zu Christus bekannten, da sagt sich der im Neuen Testament bisweilen etwas einfältig herüberkommende Petrus: „Wer bin ich, dass ich Gott hindern könnte?“ – eine Sentenz, die mittlerweile dadurch Berühmtheit erlangte, dass Papst Franziskus am 28. Juli 2013 auf dem Rückflug vom Weltjugendtag in Rio de Janeiro auf die Frage nach seiner Haltung zu Homosexuellen ziemlich wortnah zu Petrus in Caesarea antwortete:
„Wenn einer Gay ist und den Herrn sucht und guten Willen hat, wer bin ich dann, ihn zu verurteilen?“
So nah können sich die Apostelgeschichte und das 21. Jahrhundert kommen. Reaktionäre Gruppen in der Kirche prügeln Franziskus bis heute für diesen Satz. Er gehört für sie auch in das Bündel der Indizien, dass dieser Papst ein Häretiker sei.
Diese Nähe zwischen damals und heute stellt sich auch noch an einer anderen Stelle der Apostelgeschichte ein, vielleicht noch unmittelbarer als bei dem eben zitierten päpstlichen Satz, weil sich viele von uns direkt betroffen fühlen könnten. Wieder geht es um einen Konfliktfall – und es ist der, von dem in der ersten Lesung von heute die Rede ist, also der Stephanus-Konflikt.
IV
Diesen Stephanus-Konflikt kennen die meisten von uns ziemlich gut vom Zweiten Weihnachtsfeiertag. Stephanus war der erste Märtyrer der Kirche überhaupt. Deswegen konnte das erst später entstehende Weihnachtsfest dieses Märtyrergedächtnis nicht verdrängen und hat es darum in gewissem Sinn aufgesogen. Das überblendet freilich den Kern der Sache, um die es dabei eigentlich ging. Darum lohnt es sich, ihn freizulegen.
Stephanus gehört zum Kreis der ersten christlichen Diakone, also derer, denen aufgetragen war, sich in besonderer Weise um die Bedürftigen zu kümmern. Diesen Dienst „an den Tischen“, wie es in der Apostelgeschichte heißt, verband er mit einer offenkundig sehr überzeugenden, wohl mitreißenden Predigt über den gekreuzigten und auferstanden Jesus als den Christus, des Messias Gottes. Aber das führte ihn in einen heftigen Konflikt mit einem Teil der jüdischen Gemeinden. Die werden auch genau lokalisiert, weil erst das den Konflikt verständlich macht: Es handelt sich um Leute der Synagoge der Libertiner, Zyrenäer und Alexandriner sowie um Leute aus Zilizien und der Provinz Asien, sagt die Apostelgeschichte. Es geht also um Leute aus der jüdischen Diaspora – Juden, die als kleine Minderheit in einem heidnischen, spätgriechischen Umfeld leben und überleben müssen. Und die tun, was alle Minderheiten innerhalb einer fremden Mehrheit tun: Sie achten pingelig darauf, dass sich ja nichts ändert am Bisherigen, denn an der Treue zu dem, was bisher war, hängt ihr Selbstverständnis, ihre Identität. Das gilt heute genauso – für die winzige protestantische Kirche im übermächtig katholischen Polen genauso wie für die katholische Minderheit in skandinavischen Ländern oder die nur noch in Promille-Größe zu beziffernde katholische Gemeinde im Iran – umgekehrt gilt das genauso für muslimische Gemeinden im außer Rand und Band geratenen, feierwütigen, alle moralischen Grenzen verhöhnenden Babylon-Moloch, Berlin.
Und dann kommt da einer der ihren, dieser Jude Stephanus, daher und sagt ihnen: Leute, wenn ihr wirklich Gott nahe sein wollt, dann gewöhnt euch an den Gedanken, dass der Tempel nicht mehr das Wichtigste ist. Denn da ist etwas Neues geschehen: Da trat einer auf, der hat von Gott so erzählt, dass es uns die Seele umdrehte und er dabei den alten Geboten unseres Glaubens einen neuen Sinn gab. Und er hat diese Botschaft auch dann festgehalten, als man ihn dafür tötete. Doch das Neue, das er brachte, hörte damit nicht auf. Es hat sich gegen alle Angst und Verzweiflung derer, die ihm vertrauten, auch danach fortgesetzt auf eine Weise, die man nur so begreifen konnte, dass er auf neue Weise bei ihnen war.
Viel Gescheites fiel ihnen nicht ein, um dem Ausdruck zu geben, was sie damit meinten: Erhöht zu Gott, sagten sie dafür, auferweckt, auferstanden und so. In solchen Bildern sprachen auch die alten Ägypter schon irgendwie. Aber für Stephanus war das, was mit Jesus geschehen war, derart sonnenklar, dass er sich lieber steinigen ließ als seine Predigt zu widerrufen. Er war bis ins Mark überzeugt, dass die Predigt und das Geschick Jesu dem Glauben seines Volkes Israel eine Zukunft eröffnen, die er ohne diese nicht haben würde. Deshalb sein Lebenszeugnis.
V
Wollte man den Stephanus-Konflikt auf einen sehr nüchternen Nenner bringen, so könnte man sagen: Der Konflikt drehte sich schlicht um die Frage: Kann es im Glauben etwas Neues geben? Wenn nein, erübrigt sich jedes weitere Wort. Das ist dann die Position der radikalen Fundamentalisten. Oder wenn ja: Wie viel Neues verträgt – oder etwas kühner formuliert: Wie viel Neues braucht der Glaube, um er selbst zu bleiben. Im Fall des Stephanus war die Antwort nicht von Pappe: Er war angeklagt zu behaupten, dass dieser Nazoräer Jesus den Tempel zerstören und die tradierten mosaischen Gesetze ändern werde. Auf die Frage des Hohenpriesters, ob sich das so verhalte, antwortet Stephanus mit einer 53 Verse langen Nacherzählung der Heilsgeschichte seit Abraham. Und die gipfelt darin auf, dass, wenn denn Gott Gott ist, er nicht einmal in dem prächtigen Tempel Salomos Platz fände, sondern nur in etwas nicht von Menschenhand Gemachten (acheiropoietos, griechisch) – will sagen: in etwas von Gott selbst Kommenden, wie eben dem Menschen Jesus von Nazareth. Neueres wie einen ganz neuen Tempel, einen noch dazu nicht aus Stein und Gold, sondern aus Fleisch und Blut, hatte Stephanus seinen Glaubensgeschwistern kaum ansagen können. Verstanden haben sie das nicht, wollten sie auch nicht. Darum sein Tod durch die Steine.
VI
Dieser Stephanus-Konflikt um das mögliche Neue im Glauben wiederholte sich in der Geschichte der Kirche und Kirchen immer und immer wieder. Derzeit tut er das in der katholischen Kirche besonders heftig. Kaum jemanden unter Ihnen dürfte entgangen sein, dass sich unsere Kirche – fast hätte ich gesagt: unser Laden – derzeit in schwerstem Wasser befindet. Der nicht endende Missbrauchsskandal bis in Bischofs- und Kardinalsränge und unzureichende Aufarbeitungsstrategien kosten jegliche Glaubwürdigkeit. Idiotische Einlassungen seitens einiger vom Papst geschasster Kardinäle tun ein Übriges – und reaktionäre Laien-Gruppierungen befeuern das noch.
Die deutsche Bischofskonferenz hat darum versucht, bei ihrer Versammlung im Frühjahr 2019 in Lingen die Notbremse zu ziehen und einen „synodalen Weg“ angekündigt, über den drei Grundprobleme der Kirche von heute in Angriff genommen werden sollen: die Frage der Machtausübung, die Frage der Ämter einschließlich der Frage der Stellung der Frauen und die Frage der Moraltheologie. Denn klar ist vielen, dass das Phänomen des Missbrauchs nicht unverbunden ist mit dem Problem unkontrollierter Machtausübung, der Zulassung zu den kirchlichen Ämtern und einer Moraltheologie, die trotz jahrzehntelanger Bemühung einschlägiger Theologien in Fragen der Sexualität noch immer verkrampft ist und gesicherten Erkenntnissen der Humanwissenschaften um Jahrzehnte hinterherhinkt.
Aber kaum war dieses Lingener Notprogramm veröffentlicht, hat der erste deutsche Diözesanbischof am Ostermontag mit nur noch albern zu nennenden Einlassungen sein Mittun an diesem Unternehmen aufgekündigt, weil doch alles Wichtige schon geschehen und hinter den Motiven dieses synodalen Wegs nichts anderes stünde, als das Missbrauchsthema für die Durchsetzung kirchlicher Reformen – etwa einer Lockerung der Zölibatsverpflichtung und der Weihe von Frauen – zu missbrauchen. Recht viel zynischer geht es ja wohl kaum. Dass ein durchaus bekannter Priester des gleichen Bistums einen Brief unterschreiben kann, der Papst Franziskus zum Häretiker erklärt, ohne vom Bischof zurückgepfiffen zu werden, schlägt dem Fass die Krone ins Gesicht, um es so absurd zu sagen, wie es die Absurdität der Situation verlangt.
VII
Diejenigen, die eine Reform in den genannten Punkten für allerhöchst geboten halten, erleben derzeit einen medialen Shitstorm, der mit dem Steinhagel auf Stephanus zu vergleichen ist, weil er auf ihre moralische Vernichtung zielt (und die ist nicht weniger schlimm als die physische). Allerdings hat das Geschick des Stephanus damals dazu geführt, dass sich die junge Christengemeinde von Jerusalem in die Fremde verstreute und so der Anfang der Weltkirche wurde. Vielleicht entwächst dem momentanen Kampf um das Neue auch so etwas Ähnliches, das die Botschaft des Evangeliums in Kreise und Breiten trägt, die bisher den kirchlich Verantwortlichen noch nicht einmal in den Blick geraten waren.