Die Heilige Woche der Philosophen

Wechselseitige Verwandlung

Ostermontag C

I
Schon liegt die Heilige Woche hinter uns. Der heutige Ostermontag weist uns durch seinen Festcharakter ein, jetzt schiere fünfzig Tage lang die Gabe des Ostermorgens zu feiern. Und mit der ihm zugehörigen Emmausgeschichte hat sich dieser heutige Tag tief der Frömmigkeit der Gläubigen eingeschrieben. Und das ist auch kein Wunder. Denn diese Geschichte, unendlich oft ausgestaltet in Wort oder Bild, gibt Antwort, wie das einmalige Geschehen des Ostermorgens gleichsam auf Dauer gestellt jederzeit neu zur erstpersönlichen geistlichen Erfahrung glaubender Menschen werden kann. Im Hören des Wortes, im Brechen des Brotes. In der Praxis der Nachfolge, also der Liebe.

II  
Seit Palmsonntag standen unsere Predigtgedanken unter dem Motto Die Heilige Woche der Philosophen. Deswegen muss ich an dieser Stelle gleich bekennen, dass sich in der Philosophie so gut wie niemand mit dem Ostermontag beschäftigte, noch weniger als mit dem Palmsonntag.  Und dennoch, wenn man lange und viel genug blättert und sucht und liest, da stößt bei Dichtern und Denkerinnen auf ganz eigenartige Aphorismen, die um die Frage kreisen, was Ostern für sie bedeutet. Bei Oscar Wilde finden sich solche Zeilen, bei Balzac, bei Teilhard de Chardin, bei Miguel de Unamuno, um ganz willkürlich einige aufzurufen. Auch der größte Sprachphilosoph deutscher Zunge des 20. Jahrhunderts, Ludwig Wittgenstein, der ursprünglich katholischer Priester hatte werden wollen, gehört in diese Reihe. In den postum veröffentlichen Vermischte(n) Bemerkungen stößt man auf ein Notat aus dem Jahr 1937, in dem der Philosoph über Ostern nachdenkt.

„Was neigt auch mich zu dem Glauben an die Auferstehung Christi hin? Ich spiele gleichsam mit dem Gedanken. – Ist er nicht auferstanden, so ist er im Grab verwest wie jeder Mensch. Er ist tot und verwest. Dann ist er ein Lehrer, wie jeder andere und kann nicht mehr helfen, und wir sind wieder verweist und allein. Und können uns mit der Weisheit und Spekulation begnügen. Wir sind gleichsam in einer Hölle, wo wir nur träumen können, und vom Himmel, durch eine Decke gleichsam abgeschlossen. Wenn ich aber WIRKLICH erlöst werden soll, – so brauche ich Gewißheit – nicht Weisheit, Träume, Spekulation – und diese Gewißheit ist der Glaube.

Und der Glaube ist Glaube an das, was mein Herz, meine Seele braucht, nicht mein spekulierender Verstand. Denn meine Seele, mit ihren Leidenschaften (…) muß erlöst werden, nicht mein abstrakter Geist. Man kann vielleicht sagen: Nur die Liebe kann die Auferstehung glauben. Oder: es ist die Liebe, was die Auferstehung glaubt. Man könnte sagen: Die erlösende Liebe glaubt auch an die Auferstehung; hält auch an der Auferstehung fest. Was den Zweifel bekämpft, ist gleichsam die Erlösung. Das Festhalten an ihr muß das Festhalten an diesem Glauben sein. Das heißt also: sei erst erlöst und halte an deiner Erlösung (…) fest – dann wirst Du sehen, dass Du an diesem Glauben festhälst. Das kann also nur geschehen, wenn Du dich nicht mehr auf die Erde stützt, sondern am Himmel hängst.“1

In diesen kreisenden Gedanken kommt Wittgenstein auf seine Weise dem sehr nahe, worauf die Geschichten von den Ostererscheinungen und besonders die Emmausgeschichte zielen: Sie alle tun nämlich nichts anderes, als die Jüngerinnen und Jünger Jesu in ihre Heimat, ihr alten Lebensorte zurückzusenden, um dort zu tun, was er getan hat: die Liebe zu leben und darin erlöst zu sein. Und wer das tut, kann gar nicht anders als an die Auferstehung zu glauben, weil sie oder er merkt, dass alles, was aus Liebe geschieht, ein unvergängliches, unwiderrufliches Wirklichsein gewinnt und niemals vergebens gewesen wird. Man kann das nicht andemostrieren oder einfach in Katechismussätze bringen. Nicht zufällig sagt Wittgenstein gleich eingangs seiner Überlegungen, ein Spiel mit diesem Gedanken lasse ihn sich zum Glauben an die Auferstehung Christi hinneigen. Ich denke, das ist genau der Emmausweg zur Begegnung mit dem Auferstandenen und zur Erfahrung des eigenen Erlöstseins. Wir dürfen mit der Emmausgeschichte spielen, in Gedanken – wie es wäre, mit dabei zu sein – bis hin zum gemeinsamen Spiel der Emmauswanderung, da man über Christus spricht, gemeinsam Mahl hält und dann in dieser menschlich-geistlichen Atmosphäre zu spüren, wie gut es ist, da zu sein, in der Gemeinschaft geborgen zu werden und im Tiefsten zu ahnen, mit allem, was man ist und hat und tut als endliches Wesen, von einem Grund unverrückbarer Güte getragen zu sein. Ein wenig abstrakter und theologisch gewendet: Die Emmaus-Szene und ebenso ihr indirekter Reflex in Wittgenstein geben uns einen Wink, wie Natürliches und Übernatürliches ineinander zu spielen vermögen, das Übernatürliche am Natürlichen für Momente aufleuchtet und unendlich zu trösten vermag.

IV
Dieser Gedanke freilich ist für Ostern so wichtig, dass es gut ist, ihm nochmals eigens etwas nachzugehen. Und dafür hole ich mir einen letzten Philosophen an die Seite, dem die Osterbotschaft alles andere als fremd war, weil er zugleich zu den großen Theologen und Predigern der Moderne gehört – und der doch ganz eigenwillig mit ihr umgeht: Friedrich Daniel Erst Schleiermacher.

Dass Schleiermachers Predigten von größtem Belang für sein Gesamtprofil sind, weiß man schon lange. Etwa ein Drittel seines Gesamtwerks besteht aus Predigten. Erhalten sind uns solche bis aus seiner frühen Kandidatenzeit. Schon in Halle bekleidete Schleiermacher das Amt des Universitätspredigers, in seiner Berliner Zeit hat er zunächst in der Charité-Kirche, dann – parallel zu seiner Tätigkeit als Hochschullehrer – lange Jahre in der Dreifaltigkeitskirche gepredigt. Charakteristisch ist, dass Schleiermacher neben gewöhnlichen Sonntagspredigten und solchen zu besonderen, auch öffentlich-politischen Anlässen, gern Predigten für die Publikation zu Reihen zusammenfasste, oder aber er hielt echte Predigtreihen, die in einer Bahnlesung an großen Teilen ganzer neutestamentlicher Schriften entlang gingen, so etwa beim Markusevangelium und vor allem im Fall des Johannesevangeliums, über dessen Kap. 1-16 er von 1823 an in einer sage und schreibe fünf Jahre dauernden Reihe gepredigt hat.

Mit den Johannes-Homilien kommen wir auch an den Punkt, von dem aus sich sozusagen das philosophisch-spekulative Tiefengeflecht der Schleiermacherschen Predigten erschließt, mit dem er vermutlich mehr auf seine Zeitgenossen wirkte als durch seine akademische Lehre. Treffend schrieb Wolfgang Trillhaas, mit diesen Homilien würde man „[…] ins Heiligtum Schleiermachers eintreten.“2

Faktum ist, dass die Frühidealisten, also vor allem die jungen Tübinger Stiftler Schelling, Hegel, Hölderlin, aufgewühlt von Kant und in sensibler Wahrnehmung von dessen Lücken, eine kritische, Kant überschreitende Kantfortschreibung in der Absicht suchten, im Vergleich zur traditionellen orthodoxen Dogmatik sozusagen die besseren, weil Vernunft und Glaube wirklich zusammenbringen könnenden Theologen zu werden. Zu diesem Zweck führten sie Kantisches Erbe, namentlich aus der Kritik der praktischen Vernunft, zusammen mit wiederentdeckten platonischen Traditionen, mit der Gottunmittelbarkeit der Liebesmystik, wie sie von Jakob Boehme herkommend bei den Herrnhutern blühte – und mit dem durch den Pantheismusstreit überhaupt erst entdeckten Spinoza, der mit seine atemberaubenden Verbindung von strengstem Rationalismus und intellektueller Gottesliebe sozusagen die Blaupause für ein fugenloses Ineinander von Vernunft und Gottesliebe bot.3 Für Theologen und Prediger lagen das dafür geeignetste Bildmaterial und die entsprechenden sprachlichen Ressourcen geradezu naturwüchsig im Johannesevangelium bereit. Daher kommt auch Schleiermachers Faszination durch das Johannesevangelium, die so weit geht, dass er im Grunde das Christentum als Ganzes johanneisch, also im Licht des erhöhten, zeitenthobenen Christus versteht.

Jedoch beschränkt sich dieser Zug keineswegs auf die späten Johannes-Homilien. Er ist von Anfang an in den Predigten präsent. Gerade in der ersten Predigt der ersten von ihm selbst publizierten Sammlung kommt das exemplarisch zur Geltung, wenn er zum Neujahrstag seinen Hörern den Koheletvers, dass es nichts Neues unter der Sonne gebe (vgl. Koh 1, 8.9) als Trost- und Ermutigungswort ins neue Jahr mitgibt, weil es doch für den Glaubenden überhaupt nichts Fremdes geben könne, was nicht schon in Gott bereitläge und darum vom frommen Gemüte in Gott nicht schon auch gewusst wäre und damit buchstäblich alles Eines wäre.4 Schleiermacher war sich dieses Zuges auch durch und durch bewusst. Systematisch macht der sich durch sein gesamtes bislang bekanntes Predigtwerk hindurch in einer Tendenz, man könnte sagen, von Vereinheitlichung geltend: Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt rücken gleichsam ineinander.

„Das Einzelne ist das Widerspiel des Ganzen, am individuellen Anlaß hat die Predigt das Allgemeine aufzuzeigen“5,

Außerdem entspricht bei ihm einer präsentischen Eschatologie, der alle Jenseitsvertröstung fremd ist, im Anthropologischen die Überzeugung, dass auch im Tod das Allgemeine, die Menschheit, bleibt und nur die Individuen vergehen. Und die Predigt dient dazu, dieser gelösten, in Christus gegründeten und von aller Leidenschaft, Begierde und Angst befreiten Sicht zur Klarheit durchzuhelfen.6 Höchst beeindruckend geschieht dies etwa in der Predigt, die Schleiermacher am 01. November 1829 am Grab seines jüngsten Sohnes Nathanael, der mit neuen Jahren an Scharlach verstarb

„Er hat das wirkliche Leben nicht ohne Christus lassen wollen“7,

fasst Trillhaas das homiletische Programm Schleiermachers treffend zusammen. Zur Durchführung kommt dieses Programm als „ein Eingehen der Erlösung in die Natur“8 zu deren Heiligung. Ihm war darum zu tun, religiöse Erfahrungspotenziale, die sich in Dogmen verobjektiviert und auch verhärtet hatten, sozusagen zu verflüssigen und in die Seele des Gott suchenden Menschen zurückzubringen. Diese Transformation von Übernatürlichem zu Natürlichem und dessen Verwandlung in einen Spiegel des Übernatürlichen – das war Schleiermachers theologische Antwort auf die philosophische Moderne. Von ihr können wir auch heute noch sehr viel lernen, wenn es um Ostern geht – ein Ostern, das sich offenbart in Spuren erlöster Schöpfung.

Die Dichterin Christine Busta hat solches Ostern in ihrem Gedicht An den Wänden meiner heimlichen Kirche in Worte gefasst:

„An den Wänden meiner heimlichen Kirche,
die ich mir selber mit Bildern ausmale,
sind sie alle erlöst beisammen.

Der gute Hirte neben dem zottigen Pan,
umwimmelt von Schafen und Ziegen samt Böcken,
der verlorene Sohn im Gespräch mit Odysseus,
Petrus, der auf den Wassern geht,
und Arion auf dem treuen Delphin,
Sankt Franziskus, singend mit Orpheus,
Magdalene, Leda umarmend.

Und inmitten von zierlichem Unkraut
viele Kamele und Esel,
von ihrer Bürde befreit
wie die Wölfe vom Hunger.

Auch Ritter Georg, umschwänzelt
von weihrauchatmenden Drachen,
goldenäugige Löwen, stöbernd in Folianten
mit Hieronymus, ihrem Freund,
prächtige Fliegenpilze bei kindlichen Pfifferlingen,
und Pfauen, demütig umfächelnd
die Schmerzensmutter Marie.

Auf dem Altarbild reicht
Veronika dem Judas das Schweißtuch
Gegen den Strick der Verzweiflung.“9


1Wittgenstein, Ludwig: Vermischte Bemerkungen. Frankfurt a.M. 1977. 68-69.
2Trillhaas, Wolfgang: Schleiermachers Predigt. (1933). 2., um ein Vorwort erg. Aufl. Berlin; New York 1975. (Theologische Bibliothek Töpelmann; 28). 176.
3Vgl. dazu Henrich, Dieter: Between Kant and Hegel. Lectures on German Idealism. Ed. by David S. Pacini. Cambridge, Mass.; London 2003.
4Vgl. Schleiermacher: Predigten. 1. Bd. Neue Ausg. Berlin 1843. (SW; II, 1). 11-23.
5Trillhass: Predigt (Anm. 2). 33.
6Vgl. Trillhaas: Predigt (Anm. 2). 27-28. 130-131.
7Trillhaas: Predigt (Anm. 2). 205.
8Trillhaas: Predigt (Anm. 82. 75.
9Busta, Christine: An den Wänden meiner heimlichen Kirche. In: Kurz, Paul Konrad (Hg.): Wem gehört die Erde. Neue religiöse Gedichte. Mainz 1987. 221.