Was Kirche ausmacht
5. Ostersonntag B: Joh 15, 1-8
I
Als Michail Gorbatschow die politischen Geschicke Russlands bestimmte, sind wahre Wunder geschehen. Ihm war – menschlich gesehen – zu verdanken, dass der kalte Krieg zwischen Ost und West zu Ende kam, dass ganz Osteuropa zu einem Neuanfang finden konnte, der wenige Jahre nicht einmal vorstellbar war, freilich derzeit wieder verspielt zu werden scheint. Anderes aber dünkt mich noch wunderbarer: Wie Glaube und Kirchen trotz siebzigjähriger Unterdrückung durch die Vorgänger Gorbatschows lebendig bleiben konnten: Die russischen Kirchen sind heute so voll, wie sie vor der Oktoberrevolution 1917 voll waren. Dass sich dabei die russisch-orthodoxe Kirche aus sehr durchsichtigen Gründen für den Neo-Nationalismus der gegenwärtigen Machthaber einspannen lässt, steht auf einem anderen Blatt.
II
Das, worum es mir geht, trifft man deswegen auch anderswo an, bei einer kleinen Splitterkirche. Es zeigt sich in dem, was ein deutscher evangelischer Pfarrer erlebte, der einen russischen Kollegen besuchte, mit dem er vor dem Fall der Mauer in Briefkontakt stand. Dieser russische Pfarrer ist zuständig für die evangelischen Christen von Litauen bis hinab an die afghanische Grenze. Zum Teil muss er seine Pfarrkinder mit dem Linienflugzeug besuchen. So weit verstreut leben sie. Keine Seltenheit ist, dass eine Familie mehrere tausend Kilometer anreist, um ihr Kind in einem Gottesdienst taufen zu lassen. An dem Abend, bevor der deutsche Besucher den russischen Kollegen wieder verließ, stellte ihm der einen Schuhkarton auf den Schoß und sagte ihm, er solle ihn öffnen. Voll Erstaunen entdeckte der andere, dass in der kleinen Kiste die gesamten evangelischen Christen Russlands namentlich und nach Wohnsitz geordnet auf Karten verzeichnet waren. Der Schuhkarton war die ganze Kirchen-Organisation, die es gab: kein Bischofspalais, kein Ordinariat, keine Behörden, nicht einmal ein Pfarrbüro. Und doch eine lebendige Gemeinschaft von Christen, die nicht einmal Jahrzehnte gottloser Diktatur von der Treue zum Glauben hatten abbringen können.
III
Unglaublich müsste so etwas erscheinen, wenn – ja, wenn nicht genau das schon im Neuen Testament schwarz auf weiß niedergeschrieben stünde, und zwar in dem Stück des Johannesevangeliums, das wir vorhin gehört haben. Das Johannesevangelium ist ziemlich spät entstanden, Jahrzehnte nach Ostern. Und der Evangelist hat sich mehr als die anderen vorher fragen müssen, worauf es denn ankommt, dass die Gemeinde, die die Kirche Jesu Christi ist, und nicht ein Verein oder Interessenverband, den Menschen gegründet haben. Und in Erinnerung an das, was Jesus gesagt hat und wie er gewesen ist, gibt Johannes auf diese Frage nach dem Wichtigsten für die Kirchen eine ungeheuer einfache Antwort. Er lässt Jesus sagen: Ich bin der Weinstock und ihr seid die Rebzweige.
Das ist ein Sinnbild. Sinnbildliche Rede lässt sich nicht einfach zurückführen auf Sachwörter. Sie ist intuitiv. Die Rede vom Weinstock und den Reben spricht die Sprache der persönlichen Nähe, des Vertrautseins, ja geradezu der Intimität, der Liebe. Jesus sagt damit: Worauf es einzig ankommt, ist: Mit mir verbunden sein. So wie der Saft aus dem Rebholz in die Rebzweige strömt, dass sie Blätter hervortreiben und Frucht tragen, und so, wie umgekehrt die Reben den Weinstock lebendig erhalten und durch ihre Früchte machen, dass der Rebstock ist, was er sein soll – so ist es, sagt Jesus, zwischen mir und euch. Nur durch die Verbundenheit mit Jesus Christus - also dadurch, dass wir sein Gottvertrauen und seine Güte teilen und selber wagen - nur dadurch gibt es uns überhaupt als Christen. Und nur aus dieser Verbundenheit heraus können wir sein, wozu wir berufen sind: Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.
Getrennt von Jesus sein, hieße: Ohne Gottvertrauen mit Gott und der Welt und sich selbst zurechtkommen wollen; und meinen, ohne Güte mit alle denen auszukommen und ihnen gerecht werden zu können, denen wir begegnen. Was geschieht, wenn einer das versucht, das wissen wir zur Genüge. Ohne Gottvertrauen leben bedeutet: misstrauisch sein müssen, voller Angst, zu kurz zu kommen und immer um den eigenen Anteil an allem gebracht zu werden; und ohne Güte leben – das wissen wir auch – heißt: die Hölle erleben: dass alles, was wir gut meinen und auch gut machen, als selbstverständlich und ohne ein Wort des Dankes hingenommen wird. Und dass alles, was uns danebengeht, anderen Grund gibt, uns noch ein’s draufzugeben durch Spott und Kritik und Verachtung, um uns spüren zu lassen, wie wenig wir taugen. Darum ist keine Übertreibung des Evangeliums, wenn Jesus sagt: Wer nicht in mir bleibt – also: wer ohne Gottvertrauen und Güte lebt, der wird wie eine unfruchtbare Rebe weggeworfen, und er verdorrt. Und auch: Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer und sie verbrennen. Die Trennung von Jesus ist für den, der ihn als Herrn, d.h. als maßgeblich für das Menschlichsein erkannt hat, tatsächlich das Gericht, weil dieser Maßstab Jesu Christi seine Unmenschlichkeit entlarvt. Und das ist eigentlich vernichtend für jeden, in dessen Leib noch ein Herz schlägt.
IV
Dass uns das nicht geschieht, dazu sind wir Kirche: Durch unser gemeinsames Hören, Beten und Feiern und auch durch unser Glaubenszeugnis füreinander vertiefen und festigen wir die Verbundenheit mit Jesus Christus. Und umgekehrt: Durch diese Verbundenheit mit ihm sind wir Kirche. Mehr braucht es dazu nicht. Aber das braucht es unbedingt.
Huub Oosterhuis hat dieses für die Kirche Unabdingbare einmal in einer langen Fürbitte verdichtet. Darin heißt es unter anderem:
Deine Stimme hat uns gerufen, Gott,
dein Wort hat uns geschaffen.
Du hast uns zusammengefügt,
Menschen bloß,
aber lass uns neue Menschen sein,
ein neuer Anfang der Hoffnung und des Friedens
in dieser großen und zerfahrenen Welt.
In deiner Torheit
Hast du deinen Namen in unseren Mund,
dein Werk in unsere Hände gelegt.
[…]
Gestalte deine Kirche um,
gib ihr den Lebensmut,
dein Wort zu tun und deinem Geist zu folgen;
[…]
Erinnere uns daran,
dass wir allein gesendet sind,
in Demut deine Gnade zu verkünden,
denn du selbst hast uns angenommen,
und immer haben wir Verzeihung nötig.
Wahrlich eine Fürbitte, täglich neu zu sprechen, um in das Sinnbild vom Weinstock und den Reben hineinfinden und hineinzuwachsen.