Wahrheit aus der Fremde

Fest der Erscheinung des Herrn C: Jes 60, 1-6  + Mt 2, 1-12

I
Die Weihnachtszeit nimmt sich aus wie ein Gebirgsmassiv mit zwei Gipfeln und einem Hochplateau dazwischen: Die Gipfel sind der 25. Dezember und der 06. Januar – und dazwischen eben all die anderen weihnachtlichen Festtage. Die Doppelspitze wurzelt in der geistlichen Einsicht, dass gerade das Kommen Gottes in der Niedrigkeit des Betlehemer Krippenkindes seine wahre Herrlichkeit spiegelt, deren Glanz sich vom judäischen Dörfchen aus über den ganzen Erdball breitet. In der westlichen Kirche ist das Idyll der Krippenszene zum Inbild von Weihnachten geworden, in der Ostkirche dagegen der heutige Festtag.

II
Ich denke, Beides hat sein gutes Recht. Aber gerade deswegen tun wir im Westen gut daran, mehr als sonst wohl dem nachzuspüren, was da den östlichen Kirchen so wichtig geworden ist, dass für sie das heutige Fest der Erscheinung das eigentliche Weihnachtsfest repräsentiert.

III
Noch ungleich mehr als im Fall der zwischen Nazareth und Betlehem spielenden Geburtsgeschichte Jesu kommt man dem Fest der Erscheinung nur auf die Spur, wenn man seinen tiefen alttestamentlichen Wurzeln nachgeht, wie sie in der heutigen ersten Lesung aufblitzen. Sie ist genommen aus dem Buch des sogenannten „Dritten Jesaja“, einem Propheten oder Propheten-Kollektiv aus der Zeit, da das Babylonische Exil zu Ende ging und Israel wieder heimkehren durfte. Unsere Lesung bejubelt das gleichsam in der Tonlage des Halleluia aus Händels „Messias“. Aber die Wirklichkeit sah ganz anders aus: Nur eine Minderheit mochte zurückkehren nach Jerusalem. Gar nicht so wenige aus Gottes Volk hatten sich in Babylon etabliert, mochten lieber dortbleiben, anstatt sich in der verwaisten und zerstörten Heimat an einen Neuaufbau zu machen. Es ist im Grunde nicht zu fassen, aber die letzten Juden verließen Babylon, also den heutigen Irak, während des Irakkrieges von 2003, also gut zweieinhalb Jahrtausende nach dem Ende des Exils. Im Blick auf unsere Lesung bedeutet das: Diese prophetischen Zeilen artikulieren eine Vision, eine kühne Utopie. Und die Erfüllung dieser Vision der strahlenden Friedensstadt Jerusalem, steht aus bis heute. Die derzeit erneut durch den irrlichternden Rowdy Donald Trump befeuerten Konflikte um die Stadt Jerusalem illustrieren das aufs Drastischste.

IV
Doch gerade auf dieser dunklen, unheilsschwangeren Folie beginnt die jesajanische Vision erst recht von Hoffnung zu glühen: dass da etwas geschehen möge, das die Finsternis, die sich über Erde und Völker gebreitet hat, lichten werde. Dass die Mächtigen der Welt, die Könige, alle Konflikte vergessen werden und sich aufmachen hin zu jener Lichtquelle, die das Dunkel verscheucht. Dass Menschen von überall her voll Freude dorthin aufbrechen, zu jener Lichtstadt auf dem Berge, als die die der Zionsberg da beschrieben wird. Und dass sie diese Stadt beschenken werden mit dem Schönsten, was sie ihr bringen können – und dem Wertvollsten, was damalige Nomadenstämme besaßen: die Kamele und Dromedare, die von Saba Weihrauch und Gold herbeitragen. Die Erwähnung des Namens des äthiopischen Landes „Saba“ spielt natürlich auf jene Geschichte an, gemäß der die Königin von Saba nach Jerusalem reiste, um sich persönlich von der Weisheit des Königs Salomo zu überzeugen und ihn dabei mit kostbaren Geschenken dankte. Alles zusammen ein einziges Inbild von Austausch, Begegnung, Gemeinschaft und Frieden – immer bezogen auf die wieder auferbaute Gottesstadt des Ersten Testaments.

V
Dieses ganze Bündel utopischer Motive einer großen Völkergemeinschaft, die sich um Jerusalem schart, hat der Evangelist Matthäus – und nur er – in seine Version der Geschichte von der Geburt Jesu hineingewoben. Damit hat er dem visionären Jerusalem des „Dritten Jesaja“ gleichsam ein persönliches Gesicht verliehen – das Antlitz des Christus-Kindes. Aus den Völkern und Königen von einst werden jetzt Sterndeuter oder Weise aus der Ferne – Wahrheitssucher aus der Fremde. Anders als die Jerusalemer politischen und religiösen Autoritäten – König Herodes und seine Schriftgelehrten – erkennen sie im Krippenkind das Inbild des großen Friedens und jener tiefen Weisheit, die die Welt durchwaltet und deren liebende Sucher, also Philosophen, sie sind. Und Matthäus nutzt diese Inszenierung zugleich, um schon zu Anfang das Profil des wahren Friedenskönigs zu zeichnen, indem er den zu Tode erschrockenen, um seine Macht bangenden und dann zum Mittel des Kindermordes greifenden Herodes dem ohnmächtigen Kind in der Krippe gegenüberstellt, das durch sein schlichtes Dasein und gemocht sein der wahre König ist und selbst die Weisen aus der Fremde bezaubert.

VI
Und überhaupt „die Fremde“ – das ist im Grunde das heimliche Leitmotiv in unserer Jesaja-Lesung wie im Evangelium: Beide mal sind es nicht die Nahen, sondern die aus der Ferne und Fremde, die Gottes Spuren in der Welt suchen – und finden. Und bei Matthäus wird es im unmittelbaren Fortgang des Evangeliums, Israels Fremde schlechthin, nämlich Ägypten sein, die das neugeborene Jesus-Kind vor den mörderischen Häschern des machtbesessenen Herodes rettet.

Und wenn ich diesem Zug unserer Lesungen so etwas nachsinne, dann frage ich mich, ob da nicht für uns selbst als Glaubende ein tiefer Wink verborgen ist. Könnte es sein, dass wir viel öfter den sogenannten „fremden Stimmen“, denen aus der Literatur, Musik und bildenden Kunst, denen von den Theaterbühnen, aber genauso denen aus der BILD-Zeitung und den Stimmen derer, die an den Rand der Gesellschaft geraten sind, nachlauschen müssten, um dem Geheimnis unseres Glaubens wirklich nahe zu kommen? Stimmen gar, die manchmal wie eine Gegenbotschaft klingen?

Lassen Sie mich ein extremes Beispiel wählen, das ich in der SPIEGEL-Ausgabe vom dritten Advent letzten Jahres gefunden habe. Dort erzählt der Autor Christian Stöcker, dass auf Netflix, einem Streaming-Dienst zum Abrufen von Filmen, derzeit ein Weihnachtsfilm mit dem Titel „Christmas Chronicles“ läuft. Und der Film legt gnadenlos offen, was bei uns aus Weihnachten geworden ist:

Woran all die „Gläubigen" im Film glauben, außer an den Weihnachtsmann, wird kein einziges Mal ausgesprochen. Jesus, Maria, Josef und das übrige Personal bleiben unerwähnt. Stattdessen erklärt der Nikolaus irgendwann, dass es vor allem darum gehe, an sich selbst zu glauben. Netflix hat die Zutaten der amerikanischen Weihnachtsfolklore also entkernt und statt des Christentums den amerikanischen Traum hineingesteckt: Believe in yourself! Das scheint, jedenfalls Neflix' BigData-Weltsicht zufolge, der maximal anschlussfähige Rest von Weihnachten zu sein: Einer Umfrage zufolge sagen heute noch 36 Prozent der Deutschen, Religion sei ihnen wichtig. Religion rangiert demnach in Sachen persönlicher Wichtigkeit jeweils 16 Prozentpunkte hinter den Werten „Markenvielfalt" und „Privatfernsehen". Das passt irgendwie zum Netflix-Weihnachtsmann.

Mit anderen Worten: Weihnachten ist für den weit überwiegenden Teil der Bevölkerung schon lange kein "christliches" Fest im engeren Sinne mehr. Es ist ein, wahlweise oder in beliebiger Kombination, heidnisches, traditionelles, kommerzielles oder einfach familiäres Ritual, ausgerichtet dem Markt, dem Magen und den Kindern zuliebe. Wie der Karneval. Stichwort „Weihnachtsstimmung". Das sollte man sich zumindest eingestehen. Und der Autor des Artikels, aus dem ich soeben zitierte, schließt mit den Worten: Ich persönlich finde das übrigens gar nicht schlimm – aber ich mag ja auch Halloween1.  Dem entspricht exakt der Weihnachtsmarkt-Trubel in unseren Städten, zumal auch die Extremvariante hier in Münster.

VII
Und was sagt uns, den Nahen, denen Weihnachten angeblich so vertraut ist, eine solche Stimme aus der Ferne und Fremde, wie sie wohl fremder und ferner kaum sein könnte? Sie sagt uns, dass wir als Glaubende die Weihnachtsbotschaft auf ganz neue Weise ernst nehmen müssen, um sie wieder faszinierend zu machen von innen her. Dass sie ihren Glanz, ihre stille Verheißung wiedergewinnt – und auch ihren Ernst. Einen Weg, der dorthin führen könnte, habe ich in einem Gedicht des tschechischen Dichters Jan Skácel gefunden, einen Weg völlig unspektakulär, auch nicht belastet mit moralischen Klimmzügen eines besonderen sozialen Engagements, sondern verwirklicht in einem schlichten menschlichen Zueinander. Das Gedicht heißt:

Weihnacht für Erwachsene

Mit kindlicher Freude werden wir uns die Hände wärmen
wir werden lächeln und sagen
Weihnacht ist da
derweil der Frost mit weißem Faden all das Abgetragne
säumen wird
das ausgefranst ist in den langen Jahren

Ein wenig werden wir heiter sein
und ein wenig werden wir trauern
und ein wenig belustigt sein über uns selbst
und die Stille wird ihre zehn Finger ausstrecken
nach unsern Gesichtern
und wird herunterfrieren in die menschenleeren Straßen

Und die warmen Arme der Weihnachtsbäumchen
werden zu den Fenstern drängen wenn die Kinderlosen
nach dem Abendessen noch spazieren gehn
und sich bei den Händen halten
und einer des andern Kind ist

Und jeder von den beiden
wird der Erwachsene sein wollen
und sich um den andern kümmern
denn draußen ist´s eisglatt
und drinnen ist Weihnacht2

Einer des andern Kind sein und jeder von beiden der Erwachsene sein wollen, der den andern vor dem Sturz bewahrt auf den eisigen Wegen der Welt. Menschlicher und warmherziger kann man kaum aussprechen, worum es an wirklich Weihnachten geht.


1Vgl. Stöcker, Christian: http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/weihnachten-warum-wird-das-fest-eigentlich-noch-gefeiert-kolumne-a-1243835.html [Aufruf 17. 12.2018]
2Skácel, Jan: Für alle, die im Herzen barfuß sind. Lyrik und Prosa. Ausgewählt von Peter Hamm. Aus dem Tschechischen von Reiner Kunze, Felix Philipp In-gold, Urs Heftrich und Christa Rothmeier. Göttingen 2018. (Edition Petrarca). 85.