Von der Furchtlosigkeit

12. Sonntag A: Mt 10,26-33

I
Nichts geht über ein gepflegtes Klischee. Eines davon betrifft die Redefreudigkeit von Menschen in den nördlichen Breiten unseres Landes, also auch in Münster. Eines Tages ist ein Münsteraner unterwegs Richtung Köln, ein Kölner Richtung Münster. Beide treffen sich. Auf der Schulter des Münsteraners sitzt ein Papagei. Schönen guten Morgen grüßt der Kölner in seinem rheinischen Singsang. Spricht er?, fragt er mit Blick auf den Papagei. Sagt der Papagei: Weiß ich nicht. Noch bizarrer ist eine Karikatur, die ich neulich fand: Beerdigung in Ostfriesland: Die vier Totengräber lassen gerade den Sarg in die Grube. In der Sprechblase des Pastors steht ein einziges Wort: Jooo! Will meinen: Was soll man noch sagen und viele Worte verschwenden: So ist es eben mit dem Leben. Ende. Jooo.

II
Wie gesagt: Gepflegte Klischees. Aber bloße Gerüchte sind die auch nicht. Auf dem Friedhof von Keitum auf Sylt findet sich ein Grabstein, auf dem in altfriesischer Sprache mit ganzen sechs Worten umschrieben wird, worauf es im Leben ankommt:

Harki Got
Dö Rogt
Wik Nehmen

Auf hochdeutsch:

Gehorche Gott,
tue Recht,
weiche keinem.

III
Vielleicht hat der, der das auf den Grabstein schrieb oder schreiben ließ, dabei auch an das heutige Evangelium gedacht. Jedenfalls kommt in dem Grabspruch genau das vor, was uns die paar Verse aus der Aussendungsrede Jesu an seine Jünger nahebringen möchten.

Diese Aussendungsrede hat überhaupt nichts Erhabenes, nichts Feierliches an sich. Im Gegenteil: Sie weiß um Gefahren, in die sich die begeben, die das Evangelium weitertragen, und spricht das ungeschminkt aus. Die Jünger haben Angst um die ihnen anvertraute Botschaft, ob sie denn überhaupt Hörer finden, ob sie ankommen wird. Und sie haben Angst um sich selbst. Sie wurden ja mit ihrer von Jesus kommenden Botschaft über Gott und das Leben als Störenfriede empfunden. Und mit Störenfrieden wird, wo immer möglich, in der Regel kurzer Prozess gemacht: Man erledigt sie persönlich, um das loszuwerden, wofür sie stehen.

Gegen beide Ängste ermutigt Jesus seine Jünger: Fürchtet euch nicht vor den Menschen! Habt keine Angst um das Evangelium! Es wird sich durchsetzen. Denn nichts ist verhüllt, was nicht enthüllt wird, und nichts ist verborgen, was nicht bekannt wird. Auch wenn zunächst nur wenige dem Evangelium Gehör schenken, es wird ankommen. Das Wort schafft sich seine Hörer, sagte der große reformierte Theologe Karl Barth einmal. Das heißt auch: Ihr braucht euch selbst, euer Tun und Mühen so wichtig gar nicht zu nehmen. Mehr als ihr euch vorstellen könnt, geht dabei von selbst.

Und was die Angst der Jünger um sich selbst betrifft: Dabei geht es um so etwas wie einen Ernstfall des Glaubens an den, dem sie sich verbunden haben. Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können! Diese Furchtlosigkeit vor Menschen hängt davon ab, was eine oder einer Gott zutraut. Wenn ich glaube, dass ich nicht einmal dann, wenn mich andere vernichten, ein Nichts werde, weil Gott mich auch noch im Ende meines irdischen Lebens hält und trägt, dann kann mich keiner mehr einschüchtern.

Das zu glauben, fällt uns manchmal gar nicht so leicht. Trotzdem ist es der einzige Weg, der uns von der vielen Angst erlöst, die wir vor anderen, manchmal voreinander haben. Wer Gott ernst nimmt – fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann, sagt das Evangelium dafür –, wer Gott ganz ernst nimmt, der muss keinen mehr fürchten, nicht einmal Tod und Teufel mehr, wie ein Sprichwort weiß.

Was heißt dabei „Gott ernst nehmen?“ Das sagt unser Evangelium in einem Bild so einfach und zugleich treffend, wie es eigentlich nur von Jesus selbst stammen kann: Verkauft man nicht zwei Spatzen für ein paar Pfennig? Und doch fällt keiner von ihnen zur Erde ohne den Willen eueres Vaters. Spatzen sind nicht viel wert – siehe Marktpreis. Und sie fallen vom Himmel. Wer in der Seele empfindsam ist, dem tut auch ein solcher kleiner Vogel leid, wenn er tot daliegt. Und doch hat beides mit Gott, dem Schöpfer zu tun: dass es solche kleine Kreaturen überhaupt gibt und dass sie sterben. Und beides ist nicht gleichgültig und nicht zufällig. Es hat im Willen des Vaters, in Gott also, seinen Sinn. So dürfen wir auch von uns selber denken. Gottes Gedanken und seine Sorge gelten uns auch, bis zum einzelnen Haar, will sagen: Um und um. Das ist der Grund, warum wir nichts und niemand zu fürchten haben – nur einen: Gott.

IV
Gott fürchten, Gottesfurcht – das sind Worte, die man leicht missverstehen kann. Weil „fürchten“ in Bezug auf Gott etwas anderes bedeutet, als in Bezug auf Menschen. Einen Menschen fürchten heißt so viel wie: vor ihm davonlaufen wollen. Gott fürchten dagegen meint: Gott als Gott anerkennen. Ihm die Ehre geben. Für bare Münze nehmen, was er uns durch Jesus gesagt hat. In dieser Gottesfurcht gründet jegliche Freiheit, die es für uns geben kann. Weil ich Gott glaube, dass er Gott ist, bin ich unabhängig von dem, was Menschen mir zumuten. Darum hängt so viel daran, Gott ernst zu nehmen.

V
Wie zentral die Jesusworte aus dem heutigen Evangelium bereits in der frühesten Gemeinde empfunden wurden, spiegelt sich nicht zuletzt darin, dass dieses Motiv der Furchtlosigkeit auch in etwas späteren Zeugnissen ausdrücklich Thema wird, die ihrerseits Eingang in den Kanon der des neuen Testaments fanden, und zwar genau an der Stelle, wo die wohl aufregendste – ja, ich muss es wohl so sagen – Definition des christlichen Gottes auftaucht: Im Ersten Johannesbrief. Dort steht bekanntlich der umwerfende Satz: Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm (1 Joh 4, 16). Und just der nächste Vers intoniert exakt den Kern des heutigen Evangeliums, wenn es dort heißt: Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollendete Liebe treibt die Furcht aus (1 Joh 4, 17f.). Ein Philosoph unserer Tage, Dieter Henrich, zeigt sich überzeugt, dass das Christentum gerade durch diesen Zuspruch damals das mächtige Römerreich nicht nur für sich gewinnen, sondern auch überwinden konnte. Weil Worte wie diese über die Liebe und die Furcht ins Zentrum menschlichen Daseins gesprochen sind und dort etwas in Gang setzen, was es vorher so nicht gab.
Und ich denke, das trifft den Punkt heute mehr denn je: Es gibt so viele Dinge, vor denen wir uns fürchten könnten: Die Migrantenströme – Fachleute sagen uns, dass momentan 11 Millionen junger Menschen aus Afrika unterwegs nach Europa sind. Und es könnten noch viel mehr werden. Ein verlogener und narzisstischer Präsident in den USA, der die ehemalige Weltmacht zum unberechenbaren Dumdum-Geschoß macht, der gescheiterte Arabische Frühling, der in einen hundertjährigen Religionskrieg führen könnte, der Zyniker im Kreml, der Spaß hat an der Destabilisierung halber Kontinente, der verfettete Proll in Nordkorea, der mit der Atombombe spielt – und das alles noch überlagert von ein paar Weltkonzernen, die um ihrer Profite willen jegliche Selbstbestimmungsrechte von Menschen nicht nur aushebeln, sondern schlichtweg mit Füßen treten. Das alles ist dazu angetan, aus Furcht vor dem und dem am Ende schließlich Angst werden zu lassen: dieses beklemmende Gefühl, bedroht zu sein, ohne genau benennen zu können, woher genau denn die Gefahr dräut. Heidegger hat das eindringlich beschrieben in seinem Meisterwerk Sein und Zeit und die Angst in die Liste der Existenzialen aufgenommen, also der Grundzüge, die menschliches Dasein als solchen ausmachen.

VI
Vielleicht ist dieses „Furcht ist nicht in der Liebe“ das wirkmächtigste Wort des christlichen Glaubens – wenn es denn ernstgenommen wird. Der allererste Beweis für seine Wahrheit bestünde natürlich in seiner Selbstanwendung auf die Kirche. Papst Franziskus tut das ja auch in etlichen Hinsichten. Aber es bräuchte dazu noch viel mehr: Etwa in der Frage der Zulassung zum geistlichen Amt. Warum die Furcht vor den Frauen? Warum die Furcht vor den verheirateten Männern? Die würden das schon recht machen. Wenn wir mehr wert sind als viele Spatzen, dann packen wir das alles locker.

Gehorche – also: Sei ganz Ohr für – Gott, tue darum Recht und weiche niemanden. Christsein besteht darin, diese Wahrheit vom Sylter Grabstein jeden Tag zu verwirklichen.