Zugleich 70. Geburtstag von Dr. Anton Hierl - Überschwang
Montag der Karwoche B: Joh 12, 1-11
I
Lieber Anton,
heute ist für Dich ein großer Tag. Trotzdem geht es jetzt nicht zuerst um Dich, sondern um das Wort des Evangeliums, unter das Du Dich selbst vor ziemlich genau 44 Jahren – hier in St. Anton – als Diakon gestellt hast, denn mit der Diakonenweihe beginnt das Recht und die Pflicht zur Predigt (ich war damals als Ministrant dabei). Und dann hast Du dem Wort gedient, die letzten zwölf Jahre hier in St. Anton.
Die Liturgiereform des letzten Konzils hat uns den Tisch des Wortes in der Liturgie reich gedeckt. Nicht immer ist die Wahl gelungen, das ist bekannt. Das heutige Evangelium an seinem Ort in der Eucharistie des Montags der Karwoche ist dagegen so etwas wie ein Glücksfall. Eine scheinbar kleine Episode im Nachgang gleichsam zum skandalösen Evangelium des gestrigen Sonntags, der Geschichte von der Ehebrecherin, der gegen die Urteilsgeilheit der Schriftgelehrten voraussetzungslos vergeben wird, weil nur solche Zuvorkommenheit Gottes den Menschen aus der Sackgasse der Sünde zu holen vermag. Aber ganz generell gilt: Wo Jesus mit Frauen zusammentrifft, wird die Sache nicht nur heiß, sondern jedes Mal zur theologischen Sternstunde. Auch für das heutige Evangelium gilt das. Denn die kleine Geschichte von Maria mit dem Nardenöl ist eine kostbare Miniatur, die uns mit einer einzigen Geste in die Mitte des Ostergeschehens hineingeleitet, das wir in wenigen Tagen feiern werden.
II
Jesus kommt in das Haus der Geschwister von Bethanien. Wie zuvor schon einmal bei Lukas erzählt, auch hier wieder die sprichwörtlich gewordene Rollenteilung: die fleißige Hausfrau Martha, die sich um den Gast kümmert. Und ihre Schwester Maria, die diesmal aber nicht nur Jesus zuhört, sondern etwas tut: Sie kommt mit einem Gefäß voll Salböl, offenkundig, um Jesus aus Dankbarkeit den gestischen Ehrendienst einer Salbung der Füße zu erweisen, durchaus nichts Ungewöhnliches übrigens, wenn auch keineswegs alltäglich. Sie muss zu solcher Dankbarkeit einen bewegenden Grund wohl aus vorausgegangenen Begegnungen mit Jesus gehabt haben. Wir erfahren darüber nichts, können bloß ahnen, dass es zutiefst mit ihrem Leben, ihrem Geschick zu tun gehabt haben muss. Und dann tut sie noch etwas, das allerdings jetzt jeden Rahmen sprengt: Sie löst ihre Haare und trocknet die Füße Jesu damit ab. Wie peinlich – gilt doch das Haare-Lösen einer Frau vor Männern als Schamlosigkeit par excellence. Der Überschwang ihres liebenden Dankes hat jegliche Form zu Bruch gehen lassen.
Und das noch Peinlichere: Jesus lässt sich diesen Liebes- und Ehrendienst gefallen. Er verteidigt ihn gar gegen Kritik, die buchstäblich auf der Hand liegt: Ob man das teure Salböl nicht hätte verkaufen können, um den Erlös der Armen zu geben. Diese Kritik legt Johannes dem Judas in den Mund. Und eben diese Konstellation Judas – Maria macht die symbolische Sinnmitte der Geschichte aus. Um es auf den Nenner eines einzigen Satzes zu bringen: Kalkül steht gegen Überschwang. Und Letzterer allein kann etwas von Jesus begreifen: Seine Gleichnisse vom Reich der Himmel, das wie ein beglückender Fund ist, für den es sich lohnt, alles dranzugeben, oder die Geschichte vom zuvorkommenden Vater, der alle Etikette fahren lässt, um seiner Güte willen. Und was schließlich ist Jesu Leben selbst anderes als Ausdruck solchen Überschwangs, der nicht berechnet und darum das Predigen und Handeln auch dann nicht aufgibt, als ein Misserfolg dem anderen folgt?! Ja mehr noch: Ist nicht Jesus so gewesen, wie er war, weil er sich als lebendiges Gleichnis dafür verstand, wie Gott ist, der Gott mit dem Dornbuschnamen, dessen „Ich bin der ich bin da für euch“ in seiner Voraussetzungslosigkeit das gänzliche Gegenteil von Geben und Nehmen, von "do ut des", also ein einziger Überschwang ist? Und ist es zu weit hergeholt, eben darin das tiefste Motiv für Judas’ Verrat zu vermuten, dass er die offenkundige Zwecklosigkeit, auf die alles Tun Jesu zulief, nicht mehr ertragen konnte?
III
Maria mit ihrer Geste aber vergegenwärtigt, dass das Zwecklose nicht gleichbedeutend ist mit dem Sinnlosen. Nur wenn zwischen Beidem ein Unterschied besteht, kann auch die Passion Jesu etwas anderes sein als ein Betriebsunfall der Geschichte oder höchstens eine der Tragödien mehr. Der Überschwang ihres liebevollen Tuns lässt uns auf menschliche Weise etwas ahnen vom Geheimnis eines Gottes, der größer ist als alles, was Menschen sich von Gott ausdenken können, und sich darum klein macht auf eine Weise, über die hinaus Kleineres von einem Gott nicht gedacht werden kann. Nur wer es wagt, mit sich selbst verschwenderisch zu sein, wird auch verstehen lernen, wie der unbegreifliche Gott sich mitteilt in dem Weltabenteuer, das in Betlehem beginnt und sich auf Golgota vollendet.
IV
Und jetzt, an dieser Stelle, lieber Anton, muss ich doch noch auch von Dir etwas reden. Denn Du versinnbildlichst bis heute durch das, was Du tust und wie Du bist, genau etwas von diesem verschwenderischen Überschwang, an dem sich unser Gott verrät. Ich habe das schon früh wahrgenommen, als Du als Kaplan nach St. Anton kamst. Der damalige Pfarrer Reindl – Gott hab ihn selig – sagte mir: Stell Dir vor: Unser neuer Kaplan schreibt grade eine Doktorarbeit in Philosophie! Hammer! Pfarrer Reindl wusste natürlich, dass die Philosophie für mich, den jungen Seminaristen, das Lieblingsfach war. Und dann kamst Du, als Doktorand von Joseph Schmucker, dem großen Kantforscher, zu dem ich voll Verehrung aufblickte. Und du schriebst über Kant und Leibniz. Schwieriger geht’s kaum. Ein Priester-Philosoph. Das war mein Ideal, von dem ich träumte. Du weißt wahrscheinlich bis heute nicht, wie mich Dein Vorbild befeuerte den Weg zu gehen, den ich einschlug.
Und dann – nach Jahren – kamst Du wieder nach St. Anton als Pfarrer. Klar, Du hattest längst die philosophischen Ambitionen während der Jahre in Sinzing und Herz Marien sistieren müssen. Aber – das Überschwängliche, das blieb. Anders lässt sich nicht erklären, dass du für Deine Predigtvorbereitung immer wieder auch den griechischen und manchmal beim Alten Testament auch den hebräischen Urtext aufsuchst (die Pfarrer, die sich diesen Luxus leisten, kann man wohl an den fünf Fingern einer Hand abzählen). Und dann die seit Jahren von Dir angebotenen Glaubensgespräche, die historisch, exegetisch und systematisch den großen Fragen des christlichen Denkens nachspüren und Menschen weit über die Grenzen der Pfarrei anlocken. Überschwang pur. Völlig zwecklos, aber dafür nicht nur nicht sinnlos, sondern werbende Einladung, etwas von der Schönheit des christlichen Glaubens wahrzunehmen.
Anton Hierl ist ein Ästhetiker des Glaubens in Wort und Geste, der nichts für sich hermacht und deswegen durchsichtig ist auf das, was er weiterzusagen hat. Dafür danken wir ihm heute. Und ich tue das auch sehr persönlich und mit Wehmut: Ich werde Dich ab Herbst sehr vermissen.