Über die Würde der Endlichkeit

Totengedenken WWU 2018: Klgl 3, 17-26

I
Wenn man in Rom an der Ostkante des Kapitolinischen Hügels steht, bietet sich einem ein einzigartiger Blick auf das Forum Romanum: Der Triumphbogen des Septimius Severus mit seinem überbordenden Skulpturenschmuck gleichsam auf Armlänge vor Augen. Und weiter hinten sieht man vor der Kulisse des Kolosseums den Titusbogen. Auf dessen Innenseite findet sich Stein gemeißelt, was auf der Straße zwischen diesen beiden Bögen – der sogenannten „Via sacra“ – immer wieder einmal stattfand: ein Triumphzug nach siegreicher Schlacht. Die Reliefs im Titusbogen zeigen den Feldherrn im Kampfwagen auf dem Weg zum Kapitol, angeführt von der Göttin Roma, begleitet von der Siegesgöttin mit dem Lorbeerkranz, die Standarten der Heeresabteilungen. Und dann – bis heute beklemmend und untrüglich erkennbar – die Beute aus der Eroberung Jerusalems, allem voran die Menora, der siebenarmige Leuchter aus dem Tempel. Man kann sich diese Protzzüge, gesäumt von jubelnden Volksmassen, lebhaft vorstellen. In Paris und Rom gibt es sie bis heute. Und der Irre im Weißen Haus hat befohlen, demnächst so etwas nun auch in Washington nachzuspielen. Eines wird dabei gern vergessen und es ist zweifelsfrei verbürgt: dass auf dem Triumphwagen ein Sklave hinter dem Feldherrn oder Kaiser stand und ihm inmitten des Jubels und Trubels alle paar Meter zurief: „Respice post te! Hominem te memento!“ – Schau hinter dich! Denke daran, dass Du ein Mensch bist! Und das schloss auch das „Memento mori“ ein: Denk daran, dass Du sterben musst.

II
Von solchem Realismus – man könnte auch sagen: solcher Humanität –, sind die wirklichen Feldherren und Kaiser von heute, die selbsternannten Halbgötter und Weltverbesserer aus dem Silikon-Valley um Lichtjahre entfernt. Die Irrwitzigsten unter ihnen träumen davon, das Sterben ganz abzuschaffen, die Bescheideneren wären zufrieden, menschliches Leben im Normalfall auf 120 bis 130 Jahre zu verlängern. Pharmakologisches Enhancement, chirurgische Eingriffe und die nanotechnische Aufrüstung des menschlichen Leibes rücken solche Visionen in den Nahbereich. Wollen, können Menschen so leben? Ich zweifle, wenn ich mir auch nur die Gebrechen derer vor Augen halte, die bereits heute die neunzig oder gar hundert überschreiten. Und selbst gigantischer Aufwand wider all dies, der übrigens nur Wenigen zugutekäme, würde nicht gegen einen plötzlichen Tod durch Krankheit oder Unglück immunisieren. Die ganze Maschinerie der Lebensverlängerung ist im Grunde nichts anderes als eine Reaktion auf die Urangst des Menschen, die Angst vor dem Ende, das irgendwann denn doch unvermeidlich kommt. Da waren die alten Römer etwas weiter als die Nerds von der amerikanischen Westküste.

III
Wäre darum nicht viel klüger, mit anderen Augen auf dieses Enden des Lebens zu blicken und zum Beispiel die alte christliche Ars moriendi, die Kunst des Sterbens, wiederzuentdecken? Das mag gegen den eben angedeuteten Mainstream schwierig sein. Aber es könnte sich lohnen – um des gelebten Lebens willen.

Bis dato ist uns mehr oder weniger selbstverständlich, dass eines Menschen Dasein einmal zu Ende geht. Und doch gräbt sich jedes Mal unvergesslich in unsere Erinnerung, wenn der Tod einen Menschen fortnimmt, mit dem wir unser Leben – oft Jahrzehnte lang – geteilt haben und er mit uns: die Freude und die Trauer, die Hoffnung und das Bangen. Von einem Augenblick auf den anderen ist das Vergangenheit. Wo geht das Gelebte eines Menschen hin? Bleibt etwas davon für immer? Oder verliert es sich mit jedem Tag mehr im endlosen Mahlstrom der Zeit? So fragen wir, wenn wir Abschied nehmen müssen von einem unserer Lieben.

An dieser Frage merken wir schmerzlich, dass wir dieses scheinbar so Selbstverständliche eines Menschenlebens, sein Enden, nicht verstehen. Er fügt sich nicht ein in den Reim, in das geordnete Ganze, als das wir unser Dasein verstehen möchten. Der Tod ist stumm. Und er macht stumm. Das gerade ist ja für uns das Schlimme an ihm, dass er einen solchen Abgrund auftut zwischen uns – den Lebenden – und denen, die nicht mehr sind. Über diese Kluft hinweg zu tragen vermag – wenn überhaupt – nur etwas, das nicht von uns selber kommt und vom Menschen ausgedacht ist: Worte oder Zeichen also, die von jenseits unserer Verfügungen stammen und die wir uns darum nur schenken lassen können.

IV
Eines der sprechendsten dieser Zeichen ist die Erde, die wir beim christlichen Begräbnis über den Sarg streuen mit den Worten: „Von der Erde bist Du genommen und zur Erde kehrst Du zurück. Der Herr aber wird dich auferwecken.“ Mehrfach ist mir bei Begräbnissen passiert, dass mich Angehörige vorher baten, ja darauf zu achten, dass man nicht das dumpfe Fallen der Erdklumpen auf den Sarg hören müsse. Solche Beklemmung verrät, wie tief dieses Zeichen trifft. In ihm kommt auf nicht mehr zu verleugnende Weise zum Ausdruck, dass alles, was ein Menschenleben ausmacht, vergänglich ist. Was eine oder einer sein wollte und geleistet hat, was ein Mensch zu erreichen suchte und gewesen ist – das alles hat ein unwiderrufliches Ende. Eine Weile noch lebt es weiter in der Erinnerung der Lebenden. Und später, wenn auch die, die darum wussten, nicht mehr sind, da versinkt es im Dunkel der Vergangenheit – als ob es nie gewesen wäre. Von der Erde bist du genommen und zur Erde kehrst Du zurück. Nichts, was wir tun - nichts, was wir sind, entzieht sich dem Vergehen. So erfahren wir unser Dasein Tag für Tag – und unentrinnbar an einem offenen Grab.

V
Der christliche Glaube weicht dieser Wahrheit nicht nur nicht aus. Er bekennt sich zu ihr im symbolischen Bedecken des Verstorbenen mit der Handvoll Erde. Aber er sagt auch hinzu, dass das noch nicht die ganze Wahrheit ist. Darum verbindet er das Zeichen mit dem Versprechen der Auferweckung. Wie kommt der Glaube zu diesem Wort? Er spricht es im Blick auf seinen Ursprung Jesus Christus. Dieser Jesus hatte sein ganzes Leben aufs Innigste mit Gott gelebt. Er war auch dann noch Gott treu geblieben, als man ihm dafür das Leben nahm – in der Gewissheit, dass ein Gott, der sich so sehr als der Nahe zu erfahren gibt, innerster als das Innerste eines Menschen selbst, – dass dieser Gott einen auch im Sterben nicht wird fallen lassen. Und dass darum der ganz an Gott sich anheim Gebende gar nicht untergehen kann. Wir sagen in unbeholfener Sprache dafür: Gott selber hat den Getöteten auferweckt und ihm neues, unzerstörbares Leben geschenkt. Und wir meinen damit: Gott bekundet und bezeugt, dass dieser Jesus sein Leben so gelebt hatte, dass es gültig war vor ihm. Vor Gott gültig sein aber heißt: endgültig und damit unverlierbar sein.

Gültig vor Gott lebt ein Mensch sein Leben dort, wo er es menschlich lebt. Das ist nichts Selbstverständliches. Denn menschlich Leben heißt: Liebe suchen und noch mehr: Liebe schenken heißt: lieber versöhnen als Zwietracht zu säen; heißt: Fehler verzeihen, aber mehr noch um die Vergebung eigener Verfehlungen bitten können, wo das Not tut; heißt: eingedenk bleiben, welcher Platz im Leben Gott gebührt. Und das ist auch der Quellpunkt alles Anderen, der an Jesus auf einzigartige Weise sichtbar geworden ist: Denn er hat in Wort und Tat Kund gemacht, dass letzter Grund und Halt für ein menschlich gelebtes Dasein nicht Besitzstand, nicht Ansehen, nicht Macht sein kann, sondern Gott allein: Auf ihn zu vertrauen, das reicht, um alle Prüfungen des Schicksals zu bestehen und die glücklichen Augenblicke nicht zu übersehen. Auf Gott zu vertrauen, das genügt, um übereingekommen sein zu können mit sich selbst und frei von allen Zwängen, die andere oder wir selbst meinen, uns aufladen zu sollen. Und darum war sich Jesus auch gewiss: Wenn Gott in allem, was mein Leben ausmacht, zu mir steht, dann wird er mich auch im dramatischsten Augenblick dieses Lebens, wenn es an sein Ende kommt, nicht fallen lassen. Dann wird er auch in dieser Stunde mich auffangen und für mich sein. Mein Leben samt meinem Sterben ist in seiner Hand geborgen.

Im Maße solcher Menschlichkeit reift in einem Menschenleben eine Innenseite, die an das Ewige rührt. Alles, was gültig war an einem irdischen Leben, weil es menschlich war, bleibt in Gott bewahrt. Das macht auch den Ernst unseres Daseins aus – und seine Würde. Das ist die Würde der Endlichkeit. So groß hat uns Gott gewollt: Wir selber dürfen darüber befinden, was wir werden wollen und was von uns bleiben soll.

V
Freilich heißt das nicht, der anderen und unser eigenes Leben einmal ließen sich am Ende so einfach als Siegergeschichten erzählen. Dem steht entgegen, dass sich in das menschlich Geglückte unseres Daseins immer auch Zerbrochenes, Verfehltes und Verschuldetes mischt. Darum trägt die christliche Hoffnung das Siegel des Kreuzes. Das Kreuzzeichen steht für die Hoffnung, dass Gott auch aus den Bruchstücken gelebten Daseins bei sich ein gutes Ganzes zu machen vermag. Darum tragen wir genauso wie bei jeder Prozession und jedem festlichen Einzug beim Gottesdienst auch beim Begräbnis das Kreuz dem Verstorbenen voran. Es ist das Feldzeichen der Christen. Wir richten das Kreuz noch über dem offenen Grab auf und zeichnen dann dieses Grundbild unseres Glaubens auf die Grabmäler unserer Gottesäcker. Es drückt nicht aus, dass das Leben nur Plage und Mühsal bereit hält für uns, sondern es ist ein Erinnerungszeichen an Gottes Treue, die sich dafür verbürgt, dass nichts, was wir im Vertrauen auf ihn gesagt, getan, gelebt und gelitten haben, vergeblich gewesen sein wird.

VI
So erinnert es uns an das Ostergeheimnis, das uns fähig macht, in der Trauer, die gewiss menschlich ist, dennoch in Frieden Abschied zu nehmen von unseren Lieben. Und zugleich gemahnt uns das Kreuz, unsere eigenen Erdentage, die uns noch geschenkt sind, im Vertrauen auf Gott zu leben, damit wir im Frieden mit uns selber einmal diese Welt verlassen können, um mit allen, die uns nahe waren, in Gott wieder vereint zu sein „am jüngsten Tag“, wie wir in der Sprache des Bekenntnisses sagen.

VII
Der Dichter Reiner Kunze hat um seinen 85. Geburtstag herum, im letzten August, nochmals ein schmales Gedichtbändchen veröffentlicht mit ganz vielen Abschiedsgedanken darin. "Die Stunde mit dir selbst", hat er es betitelt. Dort zitiert er unter anderem den berühmten Literaturwissenschaftler George Steiner, der einmal aus seiner atheistischen Überzeugung geschrieben hat: "Argumente für ein ewiges Leben, für die Auferstehung – welch schrecklicher Gedanke." Steiner erzählt auch gern einen Witz zum Thema: "Gott hat endgültig genug von den Menschen; darum komme in zehn Tagen wieder eine Sintflut. Aber diesmal gebe es keine Arche. Einfach Aus. Der Papst ruft die Katholiken zum Gebet auf. Die Protestanten sagen: Lasst uns beten, aber zuvor die Bankkonten und Bilanzen ordnen. Der Rabbi ruft hingegen: Zehn Tage? Das reicht locker, um das Atmen unter Wasser zu lernen."
Diesem galligen Humor gegen alle Endlichkeits- und Ewigkeitsgedanken stellt Reiner Kunze ein fast schüchternes Gedicht aus wenigen Zeilen entgegen:

In der wallfahrtskirche zu Brunnenthal
hält der heilige Nepomuk
das kreuz mit dem gekreuzigten,
als halte in den händen er,
vertieft im spiel,
die gitarre

Vielleicht war der skulpturenschnitzer
frohgemut, denn die gewißheit führte ihm die hand,
auferweckt zu werden von den toten.