Sehnsuchtsgeschichten – alt und neu

Osternacht C: [Alle alttestamentlichen Lesungen]

     
I
Jetzt feiern wir Osternacht – Mitte, Quelle und Höhepunkt aller Gottesdienste des Jahres. Vieles an dieser Feier ist besonders: die Feuersegnung draußen, der Einzug der brennenden Osterkerze in die dunkle Kirche, das uralte Lob der Osterkerze, das Exsultet – und dann nicht weniger als sieben Lesungen aus dem Alten Testament. Sieben, natürlich eine heilige Zahl in der biblischen Überlieferung, und dazu dann noch eine Lesung aus dem neuen Testament und das Evangelium – macht insgesamt neun Schriftlesungen, drei mal drei, Inbild der Vollkommenheit. Nur wenige Gemeinden begehen die Osternacht in dieser Vollform. Wir tun das hier schon lange. Und wer sich darauf einlassen mag, vermag zu spüren, wie ihn oder sie die uralten Worte gleichsam hineinziehen in die Geschichte Gottes mit den Menschen:

II
Zuerst das Schöpfungsgedicht aus den ersten Seiten der Bibel, das uns versichert, dass alles gut war und gut ist, was Gott geschaffen hat. Dann der Neuanfang dieser Geschichte mit Abraham, diese – von außen gesehen – Gehorsamsprobe, hinter der sich freilich ungleich Tieferes verbirgt: das gottgewollte Ende aller Menschenopfer, die – übrigens bis heute – in Religionen weiterleben, etwa in Ländern des Subsahara-Afrika. Danach die Exodusgeschichte vom Durchzug durch das Rote Meer. Darauf Zeilen aus dem Exilspropheten Jesaja, notwendig geworden, weil Israel durch eigene Schuld erneut in Gefangenschaft geraten war und nun auf einen neuen Exodus hofft. Auch die folgende fünfte Lesung stammt vom Jesaja Babylons und sagt, worauf es ankommt, um nicht wieder und noch einmal in ein Ägypten-Desaster zu geraten: Hören auf das Wort aus Gottes Mund, auf das man sich unerschütterlich verlassen kann. In der sechsten Lesung zeigt uns der Prophet Baruch in beinahe betörenden Bildern die Souveränität und Weisheit des Schöpfers:
Er entsendet das Licht, und es eilt dahin: er ruft es zurück, und zitternd gehorcht es ihm. Froh leuchten die Sterne auf ihren Plätzen. Ruft er sie, so antworten sie ihm: Hier sind wir! Sie leuchten mit Freude für ihren Schöpfer. Das ist unser Gott […]
Und alle, die glauben, werden in diese Weisheit eingeweiht und finden ihr Lebensglück, wenn sie ihr auch selber folgen. Und dann am Ende dieses alttestamentlichen Parcours der Prophet Ezechiel, für den klar ist, dass Gottes Zorn nur die Kehrseite seiner Liebe darstellt und der darum eine nochmalige Neuschöpfung, eine innere, ankündigt, eine, die Herzen aus Stein zu Herzen aus Fleisch wandelt und Gottes Geist ins Innere des Menschen legt, damit alle in einem neuen Bund sein Volk und er ihr Gott sein könne.

III
Diese sieben Lesungen und die dazu gehörenden Antwortpsalmen sind nichts anderes als ein symbolisches Lesen des ganzen Alten Testaments, dessen ersten Kommentar dann das Neue Testament bildet, das davon erzählt, wie sich die uralten Verheißungen Gottes in Christus erfüllen und zugleich mit Ostern etwas geschieht, das seinerseits nach vorne offen ist bis zum jüngsten Tag.

Nur an wenigen Orten wird das Wort Gottes in dieser Nacht so umfänglich zur Sprache gebracht (wie bei uns hier). Wo das nicht möglich ist, darf aber eine Lesung niemals fehlen: die vom Durchzug durch das Rote Meer. Schon die Kirchenväter der frühchristlichen Jahrhunderte sahen in dieser Geschichte so etwas wie eine symbolische Vorwegnahme der Taufe: Wie Israel durch die Fluten des Roten Meeres hindurch vor der Übermacht der Ägypter gerettet wird und sich dann auf den – übrigens mühseligen und abenteuerlichen – Weg in die Freiheit machen kann, so betrete der Täufling, wenn er aus der Wasserflut des Taufbeckens wie neugeboren auftaucht, den „neuen Weg“ – griechisch „kaine hodos“, eine Selbstbezeichnung der frühen Christinnen und Christen.

Man kann wohl sagen, dass diese Exodus-Geschichte neben der Christus-Geschichte die Leiterzählung des abendländischen Denkens repräsentiert. Besonders eindrücklich greifbar wird das übrigens an einem weltberühmten Komponisten: Georg Friedrich Händel. Dessen Oratorium „Der Messias“ kennt nun fast jede und jeder, zumindest das berühmte „Halleluia“, das bisweilen fast zum Gassenhauer verkommt. Weniger bekannt ist, dass Händel wenige Jahre vorher ein gigantisches Oratorium mit dem Titel Israel in Egypt schuf – bestehend exklusiv aus biblischen Versen und fast ausschließlich Chorszenen –, d.h. Protagonist ist nicht eine Einzelperson wie bei anderen Werken des Künstlers, besonders seinen Opern, sondern Protagonist ist das Gottesvolk, also auch wir, die wir mit unserem Glauben auf den Schultern unserer älteren Glaubensgeschwister aus dem Judentum stehen.

Mit diesem Opus hat Händel kompositorisch völliges Neuland betreten. Bis heute ist nicht klar, warum er sich an dieses Riesenwerk machte. Einen Auftrag von außen – wie sonst oft – hatte er nicht. Kann gut sein, dass es einfach seiner Dankbarkeit nach einer überstandenen schweren Gesundheitskrise und der schwierigen Vollendung eines anderen Werkes entsprang – Befreiungserfahrungen, die sich fast wie von selbst mit der Exodusgeschichte verbinden mögen und immer auch mit seinem christlichen Hintergrund. Von Händel war bekannt, dass er täglich, manchmal sogar zwei Mal, die Kirche seines Namenspatrons St. George zu Gottesdienst oder persönlichen Gebeten besuchte. Darum kann nicht überraschen, dass er im Egypt-Oratorium dem Aufschrei des Volkes Israel, das sich so sehr nach der Freiheit sehnt, die erste Zeile der Melodie des lutherischen Chorals Christ lag in Todesbanden unterlegt. Durch ein solches Ineinanderlesen von Traditionen wird greifbar, wie und dass diese alten Geschichten nicht einfach Vergangenes berichten, sondern in immer neuen Variationen Urthemen menschlichen Lebens durcharbeiten – mit dem Ziel, dass wir, wenn wir sie hören oder lesen, uns in sie hineinverstricken lassen, um selbst aus ihnen Trost, Ermutigung und Klärendes über unser Leben erfahren.

IV
Vor einiger Zeit bin ich auf eine solche relecture, ein aneignendes Wiederlesen der Ostergeschichte gestoßen, die in sich die ganze Fülle unserer alttestamentlichen Lesungen von vorhin mitträgt und dabei auch noch die Glut der Exodus-Geschichte wachhält. Es ist Rudolf Otto Wiemers Gedicht Entwurf für ein Osterlied.:

Die Erde ist schön, und es lebt sich leicht im Tal der Hoffnung.
Gebete werden erhört. Gott wohnt nah hinterm Zaun.

Die Zeitung weiß keine Zeile vom Turmbau.
Das Messer findet den Mörder nicht. Er lacht mit Abel.

Das Gras ist unverwelklicher grün als der Lorbeer.
Im Rohr der Rakete nisten die Tauben.

Nicht irr surrt die Fliege an tödlicher Scheibe.
Alle Wege sind offen. Im Atlas fehlen die Grenzen.

Das Wort ist verstehbar.
Wer ja sagt, meint Ja, und Ich liebe bedeutet: jetzt und für ewig.

Der Zorn brennt langsam. Die Hand des Armen ist nie ohne Brot.
Geschosse werden im Fluge gestoppt.

Der Engel steht abends am Tor.
Er hat gebräuchliche Namen und sagt, wenn ich sterbe:
Steh auf.

V
Man kann Wiemers Gedicht geradezu als eine Neufassung des Schilfmeerliedes des Mose verstehen, das der Anführer Israels zusammen mit seinem Volk nach dem Durchzug durch das Rote Meer anstimmte – übrigens das erste Loblied, das in der Bibel überhaupt erklingt und das zu den neun Hymnen der Bibel gehört, die sich außerhalb des Psalmenbuchs finden. Wir haben es vorhin als Antwort auf die Exodus-Lesung singen hören und haben unsererseits mit dem mehrfach wiederholten Kehrvers gleichsam bestätigt, dass wahr ist, was es sagt. Ich wiederhole ein paar Verse daraus nochmals in einer Sprache, die sich nahe an der englischen Version hält, die Händel vertonte, übrigens als allererstes Stück seines großen Oratoriums:

Ich will dem Herrn singen, denn er hat eine herrliche Tat getan, Ross und Mann hat er ins Meer gestürzt.
Der Herr ist meine Stärke und mein Lobgesang, und ist mein Heil.
Er ist mein Gott; ich will ihm eine Wohnung bereiten
Er ist meines Vaters Gott,
und ich will ihn erheben.
[…]
Herr, wer ist Dir gleich unter den Göttern?
Wer ist Dir gleich, der so mächtig, heilig, schrecklich,
löblich und wundertätig sei?
[…]
Du hast geleitet durch Deine Barmherzigkeit Dein Volk,
das Du erlösest hast, und hast sie geführt durch Deine Stärke zu Deiner heiligen Wohnung.
[…]
Du bringest sie hinein, und pflanzest sie auf dem Berge
Deines Erbteils, an dem Ort, den Du, Herr, Dir zur
Wohnung gemacht hast, zu Deinem Heiligtum, Herr,
das Deine Hand bereitet hat.
Der Herr wird König sein auf immer und ewig.
Und dann nahm Mirjam, die Schwester des Mose und Aaron, die Pauke und stimmte ein und fing mit den Frauen zu tanzen an.

VI
Uns heute mag seltsam anmuten, dass die Erhabenheit und Größe des rettenden Gottes da mit einem Poem gefeiert wird, in dem der Tod der Feinde bejubelt wird. Aber Israel konnte damals in seinem Umfeld gar nicht anders von Gott sprechen als von einem siegreichen Kriegsherrn – genauso, wie es die Völker ringsum taten. Nur so konnte sich Israel verständlich machen und seiner Existenz versichern. Umso bemerkenswerter aber ist, dass in der Pessach-Haggada, der Liturgie zum Sedermahl, bis heute Zeilen stehen, die auch der Ägypter gedenken. Als die Engel, heißt es da, beim Anblick der untergegangenen Feinde Israels ein Loblied anstimmen wollten, habe Gott es ihnen verboten mit den Worten: Das Werk meiner Hände ertrinkt im Meer und ihr wollt singen? Die Freude kann deshalb auch nach dem geglückten Exodus noch keine vollkommene sein. Das wird erst eintreten, wenn geschieht, was Jesaja 19, 24 prophezeit: Wenn Israel
[…] als drittes dem Bund von Assur und Ägypten beitreten (werde), zum Segen für die ganze Erde. Denn der Herr der Heere wird sie segnen und sagen: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk, und Assur, das Werk meiner Hände, und Israel mein Erbbesitz.
Mit Ostern wird die trennende Mauer zwischen Juden und Heiden niedergerissen, wie Paulus sagen wird, und hebt eine versöhnte Schöpfung an, die keine Feindschaft mehr kennt, weil selbst der schlimmste Feind entmachtet ist: der Tod. Freilich, wer sähe nicht, wie ungeheuer viel da noch aussteht an Versöhntsein, gerade heute, gerade jetzt zwischen Völkern, Rassen, Sprachen und Religionen. Umso dringlicher ist darum, dass wir als Christinnen und Christen die Ostervision durch unser eigenes Leben am Glühen halten.