Schmerzlicher Abschied
Kirchweihe A: 1 Kön 8,22-23. 27-30
I
Das Kirchweihfest gehörte und gehört bisweilen in manchen Gegenden noch immer zu den sinnenfreudigen Festen des liturgischen Jahres. Eine Gemeinde feiert den Weihetag ihres Gotteshauses. Sie freut sich, einen Ort zu haben, um die wichtigen Tage eines gläubigen Lebens zu begehen: die Taufen, die Ja-Worte von Ehepaaren, den Abschied von denen, deren Leben zu Ende ging. Auch Dankbarkeit gehört zu Kirchweih – Dankbarkeit, einen Ort zu haben, wo man in Stille verweilen, die Sorgen und Nöte hintragen kann – und wo die Gemeinde Woche für Woche das kleine Osterfest des Sonntags feiert, um den Glauben aufzurichten und immer neu auszurichten auf den hin, der Quelle und Mitte des christlichen Glaubens ist. Kein Wunder, dass sich um Kirchweih deshalb oft auch das fröhliche Feiern mit Speis und Trank, manchmal sogar mit Musik und Tanz gerankt hat.
II
Wir hier in der Dominikanerkirche feiern heute auch Kirchweih. Aber uns ist nicht nach Fest und Feier zumute. Denn es ist – wohl für immer – das letzte Gedenken des Weihetages dieses Hauses. Vor drei Jahren, 2014, haben wir das 40jährige Bestehen der Dominikanergemeinde gefeiert. Schon damals stand die Zukunft dieser Kirche seit Jahren auf unsicherem Boden, seit das Rektorat der Universität den Mietvertrag mit der Stadt Münster gekündigt hatte. Aber ich hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben. 40 sei eine Zahl mit biblischem Klang, sagte ich damals: 40 Tage dauerte die Sintflut, 40 Jahre zog Israel dem gelobten Land entgegen. 40 Tage verbrachte Mose auf dem Sinai. 40 Tage weilt Jesus nach seiner Taufe in der Wüste. Und immer führte dieses „40“ einer Veränderung zum Guten entgegen. „Dürfen wir hoffen?“, so hatte ich damals gefragt, und im Stillen gedacht, ob es denn nochmals 40 Jahre werden könnten.
III
Diese Hoffnung hat sich gründlich und schneller als gedacht zerschlagen. Unsere Gemeinde muss in einen Exodus aufbrechen, weil man ihr – noch vor dem Katholikentag – den Stuhl vor die Tür stellt. Und so endet mit dem kommenden 12. November, an dem dieses Gotteshaus profaniert, also entweiht, werden wird, das letzte Kapitel der Geschichte dieser Kirche. Was das bedeutet, kann nur ermessen, wer auf die turbulenten Epochen zurückblickt, die mit dem Namen der Dominikaner und dann auch mit diesem Gotteshaus verbunden sind.
1346, also nur 120 Jahre nach seiner Gründung, kam der Dominikanerorden von Osnabrück aus nach Münster. Der Anlass war dramatisch: Die Brüder dieses jungen Bettel- und Reformordens wanderten hierher, um der am Boden liegenden Seelsorge wieder aufzuhelfen. Denn das Bistum war verwahrlost: Der damalige Bischof trieb sich lieber mit seinen Mätressen auf Jagden im Teutoburger Wald herum. Die Münsteraner bauten ihm sogar das hiesige Schloss, um ihn mehr an sein Bistum zu binden. Das half aber auch nichts. Im Vergleich dazu nehmen sich etwa die Limburger Eskapaden vor einigen Jahren wie Peanuts aus. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts etwa waren die Dominikaner ungefähr hier an diesem Ort ansässig. 1708 begann man mit dem Bau dieser Kirche, 1725 war die Kuppel fertig, im Februar 1728 wurde sie feierlich konsekriert. Nächstes Jahr hätten wir ihr 290jähriges Bestehen feiern können. Ein knappes Jahrhundert später begannen wilde Zeiten. 1811 ließ Napoleon alle Klöster aufheben. Von 1826-1880 war die Kirche ein sogenanntes Landwehrmontierungsdepot – da hat man hier drinnen kaputte Kanonen und Haubitzen repariert. Als das zu Ende ging, machte man aus dem Gebäude die Schulkirche für das städtische Realgymnasium. Ab 1889 konnte hier dann wieder Gottesdienst gefeiert werden. Dann kam der Zweite Weltkrieg: 1943 wurde die Kirche durch Bomben schwer beschädigt, 1944 die Kuppel zerstört. Der Wiederaufbau der Ruine begann spät, 1961. Und dann 1974 wurde die renovierte Kirche der Katholisch-Theologischen Fakultät als Universitätskirche zur Verfügung gestellt. Der erste Rector ecclesia war der Dogmatiker Peter Hünermann, dann kam der Neutestamentler Karl Kertelge, ihm folgte der Kirchenhistoriker Arnold Angenendt, ich bin jetzt 18 Jahre in diesem Amt gewesen. Der Kampf um den Erhalt der Kirche ist zu Ende. Bald soll hier ein avantgardistisches Kunstwerk installiert werden. Man will halt lieber ein bisschen großstädtisch tun, als das historische Erbe zu sichern. Als 2016 der Großscheich der Kairoer Al-Azhar-Universität, Ahmad al-Tayyeb, die höchste Autorität des sunnitischen Islam, hier in Münster war, hat die Stadtspitze beim Empfang im Friedenssaal vollmundig vorgeschlagen, Münster auf dem Hintergrund seiner Geschichte zur Weltstadt des Dialogs der Religionen zu machen. Und welcher Ort wäre dafür geeigneter gewesen, als die Dominikanerkirche! Der Vorschlag blieb heiße Luft.
Dreierlei kam erschwerend hinzu: Der vorletzten und letzten Universitätsleitung lag nicht das Geringste am Erhalt der Dominikanerkirche. Zeitweise wollte man lieber auf dem Hochschulgelände für unsere islamischen Kollegen und Studierenden eine Moschee errichten, als der weltweit größten Katholisch-Theologischen Fakultät an einer öffentlichen Hochschule den Ort liturgischen Geschehens zu erhalten. In einer fehlerstrotzenden Hochglanzbroschüre aus dieser Zeit kann man das bis heute nachlesen Das Zweite: Auch das Bistum Münster hatte keinerlei Interesse an dem, was hier geschah. Es gab kreative Vorschläge für Kooperationen – alle vom Tisch gewischt. Und zum Dritten, ziemlich bitter: Die Dominikanerkirche ging seit vielen Jahren der Katholisch-Theologischen Fakultät – Entschuldigung – sonst wo vorbei. Im Grunde wurde das, was hier geschah, mehr oder weniger als persönliches Hobby der wenigen Kollegen erachtet, die hier gepredigt und zelebriert haben. Dass der Abschlussgottesdienst internationaler Studientage nicht hier gefeiert, sondern in den Dom verlegt wurde, wo der Anlass hinter der üblichen Kathedralliturgie schlichtweg verschwand – das war symptomatisch. Wenn schon der eigene Laden so wenig Interesse zeigt, kann man der politischen Gemeinde kaum mehr verdenken, dass sie einen Schlusspunkt setzt.
IV
Das war jetzt alles bitter, was ich gesagt habe. Aber es wäre verlogen, es nicht auszusprechen – und auch zu bekennen, dass mir nach so vielen Jahren, so viel Mühe und Kampf dieser Abschied in der Seele wehtut. Das alttestamentliche Buch der Klagelieder erinnert daran, dass es solche Abbrüche und Zerstörungen seit je gegeben hat und weiter geben wird. Momentan sind wir dran:
Dahin ist mein Glanz, [heißt es da],
Und mein Vertrauen auf den Herrn.
An meine Not und Unrast zu denken
Ist Wermut und Gift.
Immer denkt meine Seele daran
Und ist betrübt in mir
…
[Doch] das will ich mir zu Herzen nehmen
Darauf darf ich harren:
Die Huld des Herrn ist nicht erschöpft,
Sein Erbarmen ist nicht zu Ende.
Neu ist es an jedem Morgen;
Groß ist deine Treue. (Klgl 3, 18-23)
Eben deswegen geben wir nicht auf. Am 12. November begeben wir uns auf den Exodus. Er wird uns in die St. Lugderi-Kirche führen. Die beiden neuen Pfarrer von St. Lamberti und der Kirchenvorstand von St. Ludgeri heißen uns willkommen. Dafür danke ich ihnen jetzt schon. Natürlich: Vieles wird nicht mehr so sein wie bisher, allein schon wegen des ganz anderen Gottesdienstraumes. Doch an diesem Punkt müssen wir uns auch vergegenwärtigen, dass auch ein Kirchengebäude – und sei es noch so vertraut und so schön wie dieses Gotteshaus – geistlich gesehen nur ein Vorletztes ist. Bei meinem Besuch letztes Jahr im Iran habe ich gelernt, dass es für eine Moschee im Grunde fast nichts braucht: Nur eine kleine Umgrenzung, ein Zeichen für die Orientierung nach Mekka und eine Markierung, die den Bereich der Männer von demjenigen der Frauen abgrenzt. Alles andere: Dach, Kuppel, traumhaft schöne Ornamentik, Innenhöfe mit Brunnen, kostbare Teppiche – alles Zutat. Natürlich helfen solch schönen Dinge uns Menschenkindern, etwas von der Schönheit Gottes und des Himmels zu erahnen. Aber vor Gott stehen und ihm die Ehre geben, das geht auch ohne all das. Wichtiger ist anderes.
V
Von diesem Wichtigeren war in der heutigen ersten Lesung die Rede. König Salomos Vater David hatte den Plan gefasst, in der Hauptstadt des Volkes Israel dem rettenden und befreienden Gott ein Haus zu bauen. Auf Gottes Geheiß durch den Mund des Propheten Nathan darf David aber nur die Vorbereitungen treffen. Er hat zu viel Blut an den Händen, als dass er dem dreimal Heiligen, gelobt sei er, ein würdiges Haus errichten könnte. Erst sein Sohn Salomo wird das Werk ausführen. Wunderbarer und großartiger als je sonst, so wird das Heiligtum errichtet. Seitenweise schwelgt das Alte Testament in der Beschreibung dieses Bauwerks aus Zedernholz, Marmor und gleißendem Gold. Nach 46 Jahren Bauzeit ist es endlich so weit. Der Tempel wird eingeweiht – und schon die Art und Weise, in der die Tempelweihe geschieht, ist bedeutsam:
Die Weihe erfolgt nämlich nicht durch die Unterzeichnung einer Urkunde, nicht durch eine feierliche Deklaration, auch nicht durch majestätische Riten – ein levitiertes Hochamt sozusagen mit Monsignori, Kapitularen, Prälaten, Protonotaren und sonstiger Klerusfolklore, sondern ganz einfach: durch ein Gebet. Aber was für eines! Salomo betet: Herr, Gott Israels, im Himmel oben und auf der Erde unten gibt es keinen Gott, der so wie du Bund und Huld seinen Knechten bewahrt, die mit ungeteiltem Herzen vor ihm leben. Das Allererste in des Menschen Umgang mit seinem Gott ist also – Erinnerung: Erinnerung an das, was Gott von sich aus seinen Geschöpfen an Zuwendung und Treue erweist. Gottes Initiative ist das Erste; alles, was Menschen auf Gott hin tun, alle Religion also, bezieht ihren Sinn und ihre Wahrheit daraus, dass sie Antwort ist auf Gottes aus Liebe zuvorkommende Anrede an uns. Das ist das Erste.
Das Zweite, was uns Salomons Gebet über Gott und unsern Glauben lehrt, ist: das Staunen. „Wohnt denn Gott wirklich auf der Erde? Siehe, selbst der Himmel und die Himmel der Himmel fassen dich nicht, wie viel weniger dieses Haus, das ich gebaut habe.“ Wer sich der Wundertaten Gottes erinnert, der wird bald zu ahnen beginnen, dass die menschlichen Gedanken, Worte und Werke, in denen der Glaube sich Ausdruck schafft, hinter dem, was Gott tut und wie er ist, unendlich zurückbleiben. Keine menschliche Antwort, die je auf Gottes Ruf an uns erging, entspricht dem, worauf sie antworten möchte. Ist der Jubelton der Lieder noch so festlich, mögen die Gotteshäuser im Prunk überborden – Gott ist unendlich größer. Jede Ähnlichkeit zwischen ihm und seinen irdischen Sinnbildern bleibt von einer umso größeren Unähnlichkeit umgriffen, hat das IV. Laterankonzil im 13. Jahrhundert gelehrt.
Darum mündet auch Salomons Staunen wieder zurück ins Bittgebet: „Wende dich, Herr, dem Beten und Flehen deines Knechtes zu! Halte deine Augen offen über diesem Haus, über der Stätte, von der du gesagt hast, dass dein Name hier wohnen soll.“ Salomo hat glaubend erkannt: Gott ist wirklich zugegen im Tempel, sein Name, also sein Wesentliches, sein Geheimnis wohnt da, aber er weiß auch, dass Gott zugleich über dem Tempel wohnt, ihn unendlich überragt: Höre unser Gebet im Himmel, dem Ort wo du wohnst. Obwohl das Heiligtum der Ort ist, wo die Menschen mit Gott in Gemeinschaft treten durch Gebet und heilige Feier, lässt sich Gott nicht beschränken auf den Tempel. Der ist auch nicht die Burg, in der er sich gleichsam verschanzt, erst recht nicht der Ort, da Menschen ihren Gott be-greifen im buchstäblichen Sinn und darum von ihm Besitz ergreifen könnten. Obwohl da in Gestalt seines frei geschenkten, unverfügbaren Namens, thront er unendlich über diesem Ort. Immer und immer wieder taucht dieses Motiv des Darüber-Hinaus, der Transzendenz Gottes über alles Sichtbare und Sinnliche hinaus in der biblischen Tradition auf, um uns diese Unverfügbarkeit Gottes unauslöschlich in die Seele zu schreiben: So etwa besonders eindrücklich auch in der Gottesvision des Propheten Jesaja, an die uns bei jeder Eucharistie das „Heilig, heilig, heilig“ erinnert, das zum ersten Mal in ihrer Mitte erklingt, jenem Moment, da der Prophet Gottes Herrlichkeit schauen darf und dabei sieht, wie allein schon die Schleppe des Königsmantels den Tempel erfüllte, die Schleppe allein! Das steht dahinter, wenn Juden bis heute den Namen Gottes, geschrieben als Tetragramm in vier Konsonanten, nicht aussprechen, sondern dort, wo es in der Bibel steht, immer Adonai – Herr – sagen: Salomonische Frömmigkeit der Transzendenz ist das!
Und seltsamerweise schließt Salomo sein Gebet mit der Bitte: Höre, Herr, unsere Gebete! Höre sie, und verzeih! Das ist nichts anderes als das nüchterne, aber eben darum aus tiefster Weisheit kommende Eingeständnis, dass jedes Wort an und über Gott und jede Tat für diesen Gott unzulänglich und armselig, ja etwas schuldig bleibt vor diesem Gott und seinem Geheimnis. Das macht Salomons Tempelweihe so ergreifend, das hält sie frei vom Prahlen und der Anmaßung und lässt auch das gleißende Wunderwerk des Heiligtums durchsichtig bleiben auf den hin, für den es gedacht ist und auf den es von Ferne verweisen darf.
Salomo lehrt uns damit: Die Erinnerung an Gottes Liebestun, das Staunen über ihn und seine Größe, die Demut der Einsicht in das Ungenügen aller menschlichen Antwort darauf – diese drei sind es, was uns auf gottgewollte Weise gläubige Kirche sein lässt. Alles andere wird uns dazugegeben werden, wenn wir denn Gott und unserem Glauben treu bleiben. Bleiben Sie, bleiben wir Gott und bleiben wir uns treu, wenn wir am Ersten Advent an neuem Ort neu anfangen mit unserer Gemeinde. Das ist meine Bitte.