Krisen-Szenario   


1. Advent C: Lk 21, 25-28. 34-36            

I
Ein Mann befahl seinem Diener, das Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand ihn nicht. Er ging selber in den Stall, sattelte das Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte er eine Trompete blasen. Er fragte den Diener, was das bedeute. Der wusste nichts und hatte nichts gehört. Beim Tor hielt der Diener seinen Herrn auf und fragte. Wohin reitet mein Herr? Ich weiß es nicht, sagte der. Nur weg von hier. Nur weg von hier. Immerfort weg von hier. Nur so kann ich mein Ziel erreichen. Du kennst also das Ziel, fragte der Diener. Ja, natürlich, darauf der Herr. Ich sagte es doch: Weg von hier – das ist mein Ziel.

II
So beginnt Franz Kafkas Erzählung „Der Aufbruch“, geschrieben 1922. Seine beklemmende Vision von damals tritt uns heute in grellen Life-Bildern vor Augen: Hunderttausende in Afrika vom Kongo über Eritreia bis Libyen sagen sich: Weg von hier! Noch viele mehr in Vorder- und Mittelasien sage das Gleiche: Weg von hier aus Syrien, dem Irak, dem Jemen und Afghanistan! Bis aus dem fernasiatischen Pakistan gellt der Ruf: Weg von hier. Weil Menschen es in ihrer Welt von Armut, Krieg, Bedrohung, Gewalt einfach nicht mehr aushalten.

Aber! Jetzt muss ich noch etwas Verrücktes anfügen, was vielleicht noch gar nicht so vielen aufgefallen ist: Ausgerechnet dort, wohin all diese Millionen flüchten möchten, hierher zu uns in den Westen, dort macht sich bei nicht Wenigen längst unterschwellig auch so ein Gefühl des „Weg von hier“ breit, freilich aus ganz anderen Gründen. Da ist das „Weg von hier“ geboren aus der Beklemmung darüber, dass da eine Welt zu entstehen beginnt, die man nicht mehr überblicken kann und die einem Angst macht, die einem sozusagen den inneren Boden der Seelenruhe und des Vertrauen ins Leben unter den Füßen wegzieht: Da ist der Raubtierkapitalismus, der die Kluft zwischen arm und reich immer weiter aufreißt, auch bei uns. Weltkonzerne wie VW erweisen sich als gigantische Betrugsmaschinen. Die größte Ersatzreligion der Welt, der Fußball, ein einziger Sumpf korrupter Mafia-Gangs. Die Großmächte rüsten wieder auf zur nächsten Konfrontation. Fünf amerikanische Weltkonzerne reißen sich das gesamte Internet unter Nagel, um durch ihre nicht mehr vorstellbaren Datensammlungen die Totalkontrolle über Menschen zu gewinnen. Und zugleich frisst sich Stück für Stück die Angst vor dem Terror der ISIS-Schlächter in unsere Seelen. Weg von hier! Aber wohin?

Als Kafka in seiner Antwort auf die Frage seines Dieners Aufbruch und Ziel in eins setzte, bekannte er, dass sein Leben und seine Welt sich aus sich und für sich nicht mehr zu einem Ganzen runden. Eben das erfahren mit erschütternder Wucht heute wir als Realität. Was aber bleibt, wenn die Rechnungen nicht mehr aufgehen, weil Welt und Leben – wie sie eben sind – aus sich kein Ziel und keine Vollendung mehr verheißen?

III
Christinnen und Christen suchen Antworten auf diese Frage in ihrem Glauben. Dort finden sie sie auch. Sie steht in den sperrigen Zeilen des heutigen Evangeliums.

Worte Jesu wie dieses waren Gläubigen und Theologen schon immer ein rechtes Kreuz. Denn was sollen sie denn anfangen mit solchen apokalyptischen Ankündigungen, dass die Elemente des Himmels und der Erde erschüttert werden, dass die Welt untergeht und Christus wiederkommt? Sollen sie Jesu Worte als zeitbedingte und daher bedeutungslose Redeweisen abtun – oder sollen sie wie die Fundamentalisten nach Kriegen und Katastrophen Ausschau halten, die Jesu Ansagen bald erfüllen würden? Beides verfehlt Jesu Botschaft, denn beides vergisst, dass das Evangelium immer und überall vom Wesentlichen redet - und das heißt: Vom Geistlichen, von dem, was zwischen Gott und Mensch zuinnerst geschieht. Davon redet das Evangelium zuerst – nie einfach nur vom äußeren Geschehen und der Geschichte – wenn auch nie ohne sie, weil das Geistliche und das Äußere untrennbar ineinander verschlungen sind. Wer so das heutige Evangelium geistlich zu lesen anfängt, dem kommt daraus dann plötzlich nicht mehr eine höchst eigenartige Prophezeiung über eine ferne Zukunft entgegen, sondern: eine unzweideutige Ansage über sein Leben hier und heute – und in dieser Ansage eine Antwort darauf, wie es ausgehen wird mit ihm. Denn Jesus sagt seinen Jüngern, also denen, die mit ihm gehen, dies:

Ihr glaubt mir und meiner Botschaft. Ihr setzt darauf, dass auf diese Weise euer Leben ein gutes Ganzes werden kann. Das ist bis heute unser aller Glaube an den guten Schöpfer und daran, dass sich alles einmal im Guten vollenden wird – trotz des dramatischen Einbruchs der Sünde und des Bösen. Aber – und jetzt beginnt Jesus die geistliche Sprache der Apokalypse zu sprechen –: Das, was ihr sucht, dieses Ganz- und Gutwerden des Lebens, das ich verheiße –, das gibt es nicht einfach dazu, als Draufsatz und Jenseits des gelebten Lebens. Dieses Heilwerden gibt es vielmehr nur um den Preis einer radikalen Krise. Die Welt, die wir erleben und die wir sind, lässt sich nicht halten, wenn sie heil werden soll. Denn so, wie sie ist, ist sie heillos. Wenn wir unsere Welt einmal besähen bar aller Zukunftsträume und bar der Hoffnung wider alle Hoffnung –, da bleibt wirklich nichts anderes mehr übrig als diese schonungslose Bilanz, die zwischen den Zeilen des heutigen Evangeliums mitschwingt: die Angst, der Hass, die Häme, die Lüge, der Tod in abertausend raffiniert getarnten Masken führen Regie. Das alles lässt sich nicht einfach entschärfen, nicht bruchlos überführen in eine gute Vollendung. Wer an ihr aber trotz allem glaubend festhält, der führt dadurch – sagt der Jesus – seine Welt unausweichlich in eine erschütternde Krise. Die Erschütterung der Welt, von der Jesus spricht, beginnt also im Herzen derer, die an ihn glauben. Wer wirkliches Heilwerden von ihm erwartet, der kann seine Lebensdeutung und Lebensführung nicht einfach wie selbstverständlich weitergehen lassen. Er verlässt sich nicht darauf, dass die Dinge, wie sie sind, schon zum Guten führen werden. Nicht dem Träumer, sondern dem aus Glauben unbestechlichen Realisten wird deshalb der Boden unter den Füßen schwanken und der Himmel regelrecht auf den Kopf fallen. Er wird bestürzt und ratlos sein über das, was um ihn herum geschieht – und manchmal auch über sich selbst.

Wer ernsthaft glaubt, löst also gerade durch seinen Glauben eine an seine eigene Wurzeln gehende Krise aus. Aber er wagt diese Entfesselung im kühnen Vertrauen, dass ihm gerade aus dem Szenario seiner Krise Heilendes entgegenkommt: Wenn alles erschüttert wird, sagt Jesus, werdet ihr den Menschensohn in großer Macht und Herrlichkeit auf einer Wolke sehen; dann richtet euch auf, eure Erlösung ist nahe.

Damit enthüllt uns Jesus, was dieses Heil eigentlich ist, das die Glaubenden von ihm erwarten dürfen – wenn es denn dieses Heil für die Welt überhaupt gibt: Der Erlösung – sagt er – kommt auf einer Wolke mit großer Macht und Herrlichkeit. Wolke und Herrlichkeit sind in der Sprache des Alten Testaments die ehrfurchtgebietenden Sinnbilder der unfassbaren Gegenwart Gottes in der Welt. Das Heil besteht also in nichts anderem als darin, dass Gott selber sich der Welt schenkt. Und diese heilende Gegenwart Gottes ist der Menschensohn. Menschensohn, das bedeutet: Das Heil selber kommt nicht fremd, als kalte Majestät von oben, sondern: es trägt menschliche Züge. Damit es uns nahe sein kann, so nah als möglich. Gott mit menschlichem Antlitz – das rettet, das löst den Knoten der Krise, in die der Glaube alles führt, was der Fall ist.

Wer als Christin und Christ nach dem Sinn des Ganzen von Welt und Leben sucht, geht also nicht hinaus auf einen leeren Horizont zu. Seine Zukunft ist vielmehr gefüllt. Diese Zukunft ist Gott selber. Gott mit menschlichem Antlitz – aus Liebe zu uns. So kommt er auf uns zu. Gott ist also vor uns solange und sofern wir das Heil suchen. Die uns zu-kommende Zukunft Gottes bringt unser Leben und unsere Welt ans Licht – ungeschminkt wie sie sind. Wir dürfen von Gott etwas erwarten. Nein, nicht etwas, sondern ihn. Aber wer ihn erwartet, für den bleiben die Dinge nicht, was sie bisher waren. Er belässt sie nicht, wie sie sind. Im Angesicht der ihn rettenden Zukunft wird er sich für diese bereiten. Das geschieht, indem ich mich zusammentue mit dem, der diese Zukunft kennt wie kein anderer – und sie mir deshalb zusprechen kann. Ich bereite mich, indem ich Jesu Leben teile, also ihm nachfolge: indem ich die kalten Gemächte meiner Gewohnheiten, meine Lieblosigkeit, die giftigen Egoismen von ihm aufbrechen lasse, damit Platz wird für Barmherzigkeit und Liebe. Nachfolge und Naherwartung gehören also zusammen. Sie begründen und bedingen einander. Mein christlich gelebtes Leben bezeugt - quer zu allen öffentlichen Gepflogenheiten –, dass ich noch etwas erwarte von Gott. Meine Hoffnung auf Gottes rettende Zukunft befeuert mich, an Jesu Hand so zu leben wie er.

Deshalb ist das Christsein bis in seine Wurzeln hinein vom Advent, von der ausstehenden Ankunft Gottes geprägt – davon, dass wir etwas erwarten dürfen. Viel mehr als wir erträumen. In jeder und jedem Einzelnen von uns beginnt deshalb die Endzeit, von der Jesus redet. Sie beginnt in dem Moment und in dem Maß, in dem ein Mensch den Weg der Nachfolge betritt. Die Welt selber ist dabei nicht einfach eine Bühne, die ein jeder besteigt und nach seinem Part wieder verlässt. Sie steht ja nicht außerhalb, sondern gehört gänzlich hinein in das Drama zwischen Gott und Mensch. Deshalb kennen auch Welt und Geschichte als ganze einmal eine Vollendung und ein Ende. Auch dies gehört daher zum ernstgenommenen Glauben.

IV
Unser Glaube ist also von seinem Grundriss her adventlich verfasst. Und dennoch bleibt uns diese Botschaft sehr, sehr fremd: Dass wir Gott im wiederkommenden Christus erwarten dürfen. Warum sie uns so fremd vorkommt, sagt uns das Evangelium selber, wenn es uns vor Rausch und den Sorgen des Alltags mahnt. Flitter und Jammer, Glanz und Not des gelebten Lebens können uns so besetzen, dass wir unempfindlich werden. Wir merken gar nicht mehr, wie brüchig wir für gewöhnlich unser Lebenshaus bauen – und: dass es sich – für sich allein genommen gar nicht halten lässt, wenn alles gut ausgehen soll. Wer da zu arglos ist, dem stürzt eines Tages das Haus ein. Und die Trümmer des eigenen Lebens begraben ihn.

Wie aber dem entrinnen? Wachet und betet – antwortet uns das Evangelium. Wachen, das heißt: sich täuschen lassen von den versprechen der Mächte, die nach unserem Leben greifen. Und das Beten behütet uns vor dem überraschenden Einsturz, weil Beten heißt: innehalten in den Kreisläufen des Alltags; unterbrechen des Automatischen und der Selbstverständlichkeiten. Betend führe ich ganz bewusst mein Leben in die Krise. Ich lasse es kritisieren von der Zukunft, auf die ich meine Erwartung auf das Gute setze. Eben deshalb ist christliches Beten auch ein kühnes Abenteuer, weil selbst ein kleines Gebet – wenn es aus dem Herzen gebetet ist – unabweislich radikale Änderung meines Lebens zu Folge haben kann. Ein einziger Satz zu Gott kann meine Welt ins Wanken bringen. Und manchmal sogar mein Schweigen vor ihm, wenn sich mir schlicht die Sprache verweigert. Meine Stummheit kann dabei mehr Gebet als noch so schön gesetzte Worte.

Mit dem Advent, den wir heute beginnen, ruft uns Christus in die christliche Krise. Betend würden wir diesen Ruf ernstnehmen und uns auf diese Krise einlassen. In ihr tut sich uns der Weg auf zu jenem Leben, das wir zutiefst suchen. Wir dürfen dieses Risiko eingehen, weil wir wissen, wen wir im Ereignis der Krise in unser Leben hereinlassen: Gott selber. Gott mit menschlichem Angesicht. Er wird kommen. Wir werden in dieser Erwartung auch tiefer zu ahnen beginnen, was es bedeutet, dass er schon einmal da war – als einer von uns. Er war da, damit wir ihn erkennen, wenn er kommt. Erkennen wird ihn freilich nur, wer ihn zuvor – also jetzt – in der Zweisamkeit des Gebetes kennenlernt und sich den Weg der Nachfolge zu betreten getraut. Jetzt ist Zeit dazu.