Jesuanische Umbesetzung
5. Fa A: Joh 11, 1- 45
I
Ein Rabbi wurde einmal gebeten, eine Geschichte zu erzählen. „Eine Geschichte“, sagte er, „soll man so erzählen, dass sie selber Hilfe sei.“ Und er erzählte: „Mein Großvater war lahm. Als man ihn einmal bat, von seinem Lehrer zu erzählen, da berichtete er, wie dieser heilige Mann beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater erzählte und erzählte, und die Geschichte riss ihn so mit, dass er hüpfend und tanzend zeigen musste, wie der Meister es gemacht hatte. Und von der Stunde an war mein Großvater geheilt.“
II
Eine Geschichte so erzählen, dass sie selber Hilfe sei – so mächtig sollen Wörter sein können, dass sie tun, was sie sagen. Auch die Wahrheit des Osterfestes, das wir bald feiern, steht und fällt damit, dass es solche mächtigen Wörter gibt. Vier Sonntage lang haben uns die Evangelien eingewiesen in das Geheimnis unserer Erlösung: Sie haben erzählt, dass Jesus gekommen ist, um uns aus der Macht des Bösen zu befreien; dass er – Gottes Sohn selber – als Retter der Welt für uns eintritt; und dass er uns Leben schenken will und das befreiende Licht der Wahrheit. Und heute – am letzten Sonntag vor der heiligen Woche –, heute legt uns Johannes mit seiner Geschichte von der Erweckung des Lazarus die Schlüssel dazu in die Hände, dass all das – dass Ostern wirklich und wirksam in unserem Leben geschehen kann. Denn auch die Lazarusgeschichte besteht aus mächtigen Wörtern, weil sie hier und jetzt – mitten unter uns – geschehen lässt, was sie erzählt. Wie ist das möglich?
III
Was Johannes erzählt ist so tiefgründig, dass jede Deutung eigentlich nur noch stören kann. Man kann die Geschichte – genauso wie ein Gleichnis – nur nacherzählen: Lazarus, ein Freund Jesu, ist krank. Krankheit signalisiert in der Bibel immer die Nähe des Todes. – Herr, dein Freund ist krank. In dieser Nachricht der beiden Schwestern Marta und Maria an Jesus schwingt schon leise die Hoffnung mit, die die drei Geschwister in Jesus setzen. Und dann die Reaktion Jesu: Er bricht nicht auf, sondern bleibt noch zwei Tage dort, wo er gerade weilt. Das ist einfach menschlich unmöglich – es irritiert uns. Johannes hat solche Stolpersteine aufgestellt, um uns aus den Bahnen unseres Bescheidwissens und unserer Erwartung zu werfen. Denn nur so können wir in die Tiefe seiner Botschaft gelangen. Der Evangelist will uns nämlich nicht über ein Mirakel informieren, sondern er will das verkünden, was Gott für die Menschen tut. Unter diesem Vorzeichen beginnt Jesus zu handeln.
Er bricht auf zu Lazarus. Sein Weg dorthin führt durch Judäa, jene Orte, wo sie ihn noch vor kurzem steinigen wollten. Jesus betritt also Feindesland. Freilich – die, die Jesus wegen seiner Botschaft vom Reich Gottes nicht ausstehen können und beseitigen wollen, sie sind Feinde in einem nur sehr äußerlichen Sinn. Sie sind im Grunde nur Handlanger eines anderen. Denn der wirkliche Feind sitzt ganz woanders. Er thront im Grab des Lazarus. Sein Bild ist der verwesende Leichnam. In der Vernichtung des geliebten Bruders und Freundes demonstriert der Tod seine Macht. Er – der Tod – ist der eigentliche Feind, dem Jesus entgegenzieht.
Die eine der Schwestern – Marta – eilt dem Herrn entgegen, als er sich nähert. Sie begegnet ihm in unbegrenztem Vertrauen, obwohl ihr Bruder gestorben ist. Und in der Atmosphäre dieses Vertrauens entfaltet sich ein kleines Gespräch zwischen ihr und Jesus über die Auferstehung der Toten. Dieses Gespräch, diese paar Sätze sind der Höhepunkt der ganzen Geschichte, nicht das spätere Ereignis der Totenerweckung. Diese imaginiert nur noch, fasst gleichsam in Traumbilder, was Jesus hier sagt.
IV
Marta bekundet ihren Glauben an die Auferstehung ihres Bruders am letzten Tag. Jesus aber hält ihr lapidar entgegen: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Was will er damit sagen? Leben ist, was kein Mensch je hergeben und verlieren möchte. Leben heißt ja: Dasein dürfen, heißt miteinander reden und feiern, heißt frei sein, lieben und sein Glück finden. Leben meint: heil sein, unversehrt sein bis in die innerste Mitte. Ich bin das Leben, sagt der Herr. Also: Er verkörpert dieses Daseindürfen und -können, in ihm ist es gegenwärtig. Und dieses Ganz-Mensch-sein-können ist grenzenlos, sagt der Herr. Nicht einmal das Sterbenmüssen wird dieses Heil zerstören – das meint Auferstehung. Und er fügt hinzu: Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Dieses unverlierbare Ganzsein bleibt also nicht Privatsache Jesu. Im Gegenteil: Jede und jeder kann teilhaben an Jesu Lebendigsein, hier und jetzt und für immer. Jede und jeder kann das, die an ihn glauben – wer also eine vertrauensvolle Lebensgemeinschaft eingeht mit diesem Jesus; wer sich mit ihm zusammentut; wer seine Welt aus der Perspektive Jesu betrachtet; wer handelt und entscheidet, wie er es täte an meiner Stelle. Das verwandelt unsere verfliegenden Stunden, verleiht ihnen sozusagen eine Innenseite, die ans Ewige rührt. Wo Jesu Nähe eine unserer Lebensstunden prägt, da wird diese Stunde gültig und endgültig.
V
Genau an dieser Stelle geschieht das eigentliche Wunder der Lazarusgeschichte – ein Wunder, das unser Leben genauso verändern und heilen kann, wie die Geschichte in der Erzählung des Rabbi den lahmen Großvater geheilt hat. Jesus verheißt: Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Was geschieht da eigentlich? Etwas ganz Seltsames: Jesus besetzt Worte um. Er gibt diesen Urzeichen unseres Daseins, dem Tod und Leben, einen neuen Sinn. Leben heißt da nicht mehr einfach: auf Erden existieren und nicht gestorben sein, sondern: durch Glauben mit Jesus in Gemeinschaft stehen – und das heißt: mit Gott zusammen sein. Und Tod heißt nicht mehr: im Sarg liegen, sondern: außerhalb dieser Gottesnähe sein Lebenshaus zu bauen suchen. Die Grenze zwischen Tod und Leben verläuft aus Jesu Sicht genau quer zu der Grenzziehung, an der wir uns orientieren – mit der Folge, dass manche die, die auf dem Friedhof liegen, lebendiger sein können, als andere, die wir auf der Straße treffen.
Hier, mitten in der Lazarusgeschichte, beginnt Ostern, nicht erst in der Auferstehungsnacht. Es beginnt mit einer Revolution der Sprache aus dem Munde Jesu selbst. Er stellt unsere Menschenwörter auf den Kopf. Und dann fragt er Marta und mit ihr zusammen auch uns: Glaubst du das? Vertraust du diesen neuen Worten? Aber dürfen wir einem trauen, der einfach Wörter ändert? Kann das nicht jeder? Bleibt die ganze Revolution nicht doch eine Spiegelfechterei, eine Finte?
VI
Es gibt ein Ereignis im Leben Jesu, das darüber Klarheit schafft. Das Kreuz. Denn Jesus selber erlebte – gerade weil er wirklich Mensch war – keine größere Anfechtung für seine Revolution als das Sterbenmüssen. Noch dazu dieses Sterben, wo er von Gott und der Welt verlassen scheint. Hier fallen die Würfel über die Wahrheit seiner neuen Wörter. Und wenn wir bekennen: Am dritten Tage auferstanden von den Toten, dann sagen wir nichts anderes als dies: Ja, Jesu Worte sind wahr, weil sie wirken, was sie sagen. An ihm selber, der sein Leben ganz und gar mit Gott gelebt hat, an ihm selber bestätigt sich ihre Wahrheit.
Zu dieser Wahrheit gehört aber auch das Zweite, was Jesus verheißen hat: dass nämlich jeder, der an ihn glaubt, genauso leben wird wie er – richtig leben jetzt schon und auch dann noch, wenn er stirbt. Leben heißt deshalb so viel wie glauben. Und Tod so viel wie nicht glauben. Der Herr will uns diese Wahrheit seiner Worte schenken und dazu wartet er auf unseren Glauben. Wo immer eine Stunde dieser Wahrheit schlägt, geschehen mitten in dieser Welt, mitten in unserem Leben Dinge, die unwahrscheinlich sind – so unwahrscheinlich wie die Erweckung eines Toten, der schon vier Tage im Grab liegt. Der Tod der Gottesferne, wie ihn Jesus meint, hat viele Gesichter in unserem Leben: Hass und Feindschaft, der Egoismus und alles Lieblose gehören dazu. Solche Tode ersticken und vergiften das Leben. Mögen sie sich auch noch so tief in uns hineingefressen haben – wo immer wir diese Wunden durch das Ja unseres Glaubens in Gottes Nähe bringen, werden sie geheilt und kann das Leben neu erwachen. Ich bin die Auferstehung und das Leben. Dieses machtvolle Wort will in seiner Kraft von uns erfahren werden.
VII
Am Glauben liegt es also, ob wir tot sind oder leben, ein Satz, den auch Martin Luther sinngemäß so oder ähnlich gesagt hat. Genau da aber liegt die große Not. Denn in Vielen steckt trotz aller Lebenssehnsucht ein unbegreiflicher Hang zum Totseinwollen – fast möchte ich sagen: Totseinmüssen. In der Sprache unseres Glaubens nennen wir diesen Hang Erbschuld. Sie ist ein abgründig tiefer Todestrieb, weil sie uns mit aller Gewalt von Gott wegziehen will mit dem Versprechen uneingeschränkter Lebensmacht aus eigenem Vermögen. Und das Ergebnis: der Tod der Seelen, deren Verwesung sich in die Gesichter der Lebenden zeichnet und selbst die Schöpfung ringsum noch ansteckt. Die Spuren der Vernichtung unserer Erde sind da verräterisch – genauso aber auch die Totenstarre mancher Glieder der Kirchen, auch auf der Ebene der Amtsträger.
Gegen diesen Todestrieb in uns kämpft Jesus an. Er weiß, was da auf dem Spiel steht. Und nicht umsonst redet Johannes zweimal davon, dass Jesus im Innersten erregt war, als er sich dem Grab des Lazarus, dieser Burg des Todes näherte. Mit machtvoller Stimme ruft er uns heraus aus unseren Gräbern des Egoismus und der Heuchelei, der Herzenshärte und Gleichgültigkeit gegen die Not unserer Menschengeschwister. Er ruft uns aus den Prunkgrüften kirchlicher Selbstgefälligkeit und Machtausübung – denn in all dem trägt der Tod, der Feind Gottes, unablässig seine Siege davon.
Wo immer ein Mensch diesem Ruf Jesu zum Leben folgt, dort bahnt sich ein Ostern an – das Fest des Lebens. Wo immer einer auf Jesu Wort hin anfängt, Mensch zu sein und wo immer der eine dem anderen dabei hilft, dort kommt es zu einem Aufstehen, fängt Auferstehung an. Mit der Frage: Glaubst du das? legt Jesus uns den Schlüssel in die Hände zu der Tür, die aus dem Grab zum Leben führt. An uns liegt es, diese Tür zu öffnen mit dem Ja unseres Glaubens. Dieses Ja empfängt seine Kraft aus der Macht jener neuen Worte Jesu über Tod und Leben. So mächtig können Wörter sein. Gleich jetzt im Glaubensbekenntnis sprechen wir dieses Ja.