In Gottes Namen

1. Advent B: Jes 63, 16b-17. 19b; 64, 3-7

I
Schon seltsam: Seit mehr als einer Woche tobt in den Städten der vorweihnachtliche Trubel. Der ursprüngliche Anlass, die Zeit des Advent, christliche Zeit der Vorbereitung auf die Geburt Christi, eine Art kleiner Fastenzeit, die für das Weihnachtsgeheimnis hellhöriger und feinfühliger machen soll, ist dahinter völlig verschwunden. Aber noch seltsamer: Die allererste Schriftlesung am ersten Sonntag des neuen Kirchenjahres, die erste Adventsperikope, ist keine froh stimmende Verheißung, nicht einmal ein Trostwort, sondern ein fast verzweifelter Gebetsschrei.

II
Unsere erste Lesung von heute stammt aus dem Buch des sogenannten Dritten Jesaja. Es handelt sich um ein Klagelied, das ein evangelischer Alttestamentler einmal den gewaltigsten Volksklagepsalm der Bibel genannt hat. Israel hatte das Exil hinter sich. Es wusste, warum es dazu gekommen war, zu dieser bitteren Zeit in der babylonischen Fremde. Das Gottesvolk hatte alles verspielt, was ihm lieb und teuer war, weil es den eigenen politischen Kungeleien mehr getraut hatte als den Verheißungen seines Gottes. Jetzt aber, nach dem Ende dieser Trauerzeit und einem neuerlichen Exodus wird es nicht einfach besser und leichter. Jetzt wird noch dazu der Glaube der Heimkehrer auf eine harte Probe gestellt: Der kurz nach der Rückkehr begonnene Wiederaufbau des Tempels – Sinnbild und Inbild der Gottesnähe – scheitert, weil ihn die Bewohner Samarias hintertreiben. „Geht denn alles daneben?“, „Ist Gott überhaupt noch da?“, beginnt sich Israel zu fragen, in einer Schärfe im Übrigen, die viel, viel später formulierten atheistischen Argumenten nur dadurch nachsteht, dass sie in Frageform gefaßt ist. Vom jesajanischen „Warum läßt du uns, Herr, von deinen Wegen abirren und machst unser Herz hart...?" ist es nicht mehr weit zur finalen These von Büchners Wozzeck, der festeste Fels des Atheismus sei allemal das Leiden.  

Doch auf dem Hintergrund der Erinnerung an Gottes große Taten in der Geschichte wird der Notschrei Israels zum Anschrei seines Gottes, die Klage zur Anklage, ohne dass darum vergessen würde, warum alles so gekommen ist, wie es gekommen ist. Aber anklagen kann man auch nur jemanden, von dem man glaubt, dass er überhaupt noch da ist und einen hört. Solches Klagen hängt freilich am seidenen Faden einer Gotteshoffnung wider alle Menschenhoffnung.

III
Was uns da aus Prophetenmund aus ferner Geschichtstiefe entgegenkommt, ist freilich nur scheinbar alt und fremd. Die gleiche Erfahrung kann immer wieder neu aufbrechen, im Großen ganzer Völker – wir brauchen derzeit nur an Menschen ohne eigenes Land zu denken, wie die Kurden im Irak oder die Rohingyas, die muslimische Minderheit im buddhistischen Myanmar, die man momentan regelrecht auszurotten versucht. Aber genauso kann es zu dieser Erfahrung auch im kleinen Geviert eines individuellen Lebens kommen. Eben darauf bin ich neulich in der Biographie eines Schriftstellers gestoßen, von dem das kaum jemand wissen dürfte. Er ist der bis dato meist gelesene und am häufigste übersetzte Literat deutscher Sprache, die weltweite Auflage seiner Werke wird auf 200 Millionen geschätzt, die deutsche auf 100 Millionen. Aber sein Leben – eine einzige Katastrophe: Eine schwere Zeit als Kind und junger Mann, die ihn teils durch Naivität, teils durch persönliches Ungeschick, teils durch Verleumdung anderer mehrfach ins Gefängnis führt. Dann steiler Aufstieg als Erfolgsautor, wieder niedergeworfen durch missgünstige Geschäftspartner, unter Verdacht gestellt als Hochstapler, Betrüger, Plagiator, verstrickt in unglückliche Beziehungen, die ihn um alles Erarbeitete bringen und so weiter und so fort. Das Desaster will kein Ende nehmen. Und dann, während einer großen Reise 1899/1900 schreibt er ein Gedicht nieder, das in Wahrheit ein Gebet ist, nicht weit entfernt von den Jesaja-Worten vorhin:

Ich bin so müd, so herbstesschwer
Und möcht am liebsten scheiden gehen.
Die Blätter fallen rings umher;
Wie lange, Herr, soll ich noch stehn?
Ich bin nur ein bescheiden Gras,
Doch eine Ähre trag auch ich,
Und ob die Sonne mich vergaß,
Ich wuchs in Dankbarkeit für Dich.

Ich bin so müd, so herbstesschwer,
Und möcht am liebsten scheiden gehen,
Doch brauche ich der Reife mehr,
So lass mich, Herr, noch länger stehn.
Ich will, wenn sich der Schnitter naht
Und sammelt Menschengarben ein,
Nicht unreif zu der Weitersaat
Für dich und deinen Himmel sein.

In seiner Autobiographie bekennt er, dass ihn einzig sein unerschütterlicher Glaube an Gott gehalten habe in all dem Auf und Ab seines Geschicks. Von Karl May ist die Rede. Nur wenig überraschen kann dann noch, dass etliche seiner späten und berühmten Bücher wie Im Reich des silbernen Löwen oder Winnetou IV im Tiefsten religionsphilosophische Werke sind.

IV
Karl May hatte, als er die eben zitierten Verse niederschrieb, wohl kaum die heutige Jesaja-Passage vor Augen. Dennoch stellen sich bei ihm ähnliche Bilder ein wie einst dem Propheten: Israel fühle sich wie dahin gewelktes Laub, sagt er, seiner Schuld wegen fortgetragen vom Wind. Und May fragt „herbstesschwer“ angesichts der fallenden Blätter, wie lange er noch stehn, sein Leben also währen soll.

Es ist genau eine Situation wie diese, in der damals, in der Zeit nach dem Exil, Israel das Wagnis eingeht, Gott direkt als seinen Vater anzusprechen. Ein Wagnis ist es deswegen, weil das alte Israel diese Gottesanrede lange gemieden hatte, um jeglicher Ähnlichkeit mit dem Selbstverständnis altorientalischer Völker zu vermeiden, demgemäß Götter als Erzeuger eines Stammes oder Volkes gefeiert wurden.

Dennoch wird jetzt, in der Zeit der Not, Gott „Vater" genannt, in Erinnerung an den Ruf aus Ägypten und das damit verbundene Ende der Knechtschaft, aber genauso an die Gabe des gelobten, doch jetzt verwüsteten Landes. Oder um es zugespitzt zu sagen: „Vater“ wird Gott in der biblischen Tradition zum ersten Mal genannt, als er abwesend scheint.

V
Wir Christinnen und Christen können uns diesen Zusammenhang gar nicht drastisch genug vor Augen bringen. Denn christlich geht seit langem um, was unser ehemaliger Alttestamentler Erich Zenger spitz, aber treffend die kirchliche „Abba"-Ideologie nennt: Nämlich, dass es Jesus gewesen sei, der als erster Gott „Vater“ genannt habe. Davon kann – wie eben erinnert – keine Rede sein. Gleichzeitig gibt es auch eine Art Gegenposition zur Abba-Ideologie: Vor ein paar Jahren schrieb der Ex-Dominikaner Hans Conrad Zander: Wer schamlos genug ist, distanzlos genug, Gott mit „Abba", also zu Deutsch “Papi" anzusprechen, der ist auch im Umgang mit Menschen zu jeder Grenzüberschreitung bereit – weshalb es im Evangelium und in der Praxis der Kirche bis heute von Beherrschung unter dem Vorwand der Betreuung, Belästigung unter dem Vorwand des Mitleids und von Einmischung ins Innerste unter dem Vorwand der Nächstenliebe nur so wimmle.

VI
Wer unsere Lesung vorhin recht gehört hat, weiß von selbst, wie daneben beides liegt: die Abba-Ideologie und Zanders Invektive. Die Vater-Anrede Gottes ist biblisch ein Krisen-Name. Und klar, dass das auch für Jesu Rede vom himmlischen Vater gilt. Warum sonst auch würde diese Anrede aus dem Mund Jesu besonders in der Passionsgeschichte zu finden sein?

Das bedeutet freilich auch: Wir müssen das Vaterunser neu beten lernen. Weit entfernt von jeder Vertraulichkeit, erinnert uns das Vatersagen Gott gegenüber nicht zuletzt, sondern zu allererst an unser Angefochten sein. Angefochten sein kann viele Gesichter haben – und verdammt schwierige.

Ich war gerade sechs Wochen Kaplan. Eine 33-jährige Frau findet am Morgen ihren gleichaltrigen Mann tot neben sich im Bett; nie krank, keine Vorzeichen, keine Erklärung der Mediziner, Herzstillstand sagten sie halt. Beim Gespräch über das Begräbnis: Warum? Sagen Sie mir: Warum? Wir haben uns doch so geliebt!

Ein paar Monate später: Ein 16-jähriger ertrinkt in einem seichten Badefluß, weil er ein paar Mädchen imponieren wollte und deswegen waghalsig über eine kleine Staustufe balanciert, ausrutscht, dabei mit dem Kopf auf einer Betonfassung aufschlägt und nicht mehr auftaucht. Die Großmutter, die ihn aufgezogen hat – untröstlich. Herr Kaplan, warum? Sagen Sie mir: Warum ist das passiert? Wo ist denn der Herrgott? Ich bet' doch so viel! Die alte Frau, zum Erbarmen, hielt meine Hand wie mit Eisen umklammert. Fragen Sie mich nicht, warum: Ich wußte nichts anderes. Ich habe damals einfach angefangen: Vater unser im Himmel. Und die Frau stimmte ein: Geheiligt werde Dein Name. Angefochtenes Beten. Wahrscheinlich gibt es kein ehrlicheres Beten.

[…] du hast dein Antlitz vor uns verborgen, uns preisgegeben in die Hand unserer Schuld. Nun aber, Herr, du bist unser Vater. Wir sind der Ton, du bist unser Töpfer, das Werk deiner Hand sind wir alle […]

heißt es bei Jesaja. Eben dies letzte Gottvertrauen hallt bei Karl May nach, wenn er gegen seine herbstesschwere Lebensmüdigkeit Gott anheimstellt, ihn noch länger im Dasein zu lassen, wenn er noch mehr an Reife bedürfe, um am Ende nicht unreif zu der Weitersaat für Gott und seinen Himmel zu sein. Seine Verse folgen auf geheime Weise irgendwie auch der Logik jenes berühmten Gebets des Heiligen Klaus von der Flüe:

Mein Herr und mein Gott,
nimm alles von mir,
was mich hindert zu Dir.

Mein Herr und mein Gott,
gib alles mir,
was mich fördert zu Dir.

Mein Herr und mein Gott,
nimm mich mir
und gib mich ganz zu eigen Dir.

Eine Art existenzialistischer Transkription des in einer Krise gesprochenen Vaterunsers scheint mir das.

VII
Ja, das Vaterunser ist ein Krisengebet und darum auch durch und durch adventlich. Advent hat ja zutiefst mit Krise zu tun, wie im heutigen Evangelium deutlich wird. Advent hat mit Krise zu tun, weil er an das befristet-sein alles Irdischen erinnert. Wer glaubt, dem stellt sich darum unabweislich die Frage nach der Scheidung zwischen dem, was trägt, und dem, was trügt. Und die letzte Antwort wird, fragt jemand ehrlich genug – sie wird ein Gebet sein. Eines wie in unserer Lesung, der das Gedicht von Karl May. Oder die Zeilen des Schweizer Einsiedlers. Oder das Vaterunser. Aber wie schon gesagt – doch ich wiederhole es, damit es niemand überhört: Dafür müssen wir das Vaterunser neu beten lernen.