Vorhänge aus Licht
Im Zeichen des Alif - Gottes Schönheit als Brücke im Dialog der Religionen: [Systematisch]
I
Ein Künstler ist mit seinem Oeuvre zu uns in die Dominikanerkirche gekommen. Shahid Alam hat ältere seiner Werke mitgebracht und eine ganze Reihe von ihnen neu für diese Ausstellung geschaffen: Kalligraphien – zu Deutsch: Schön Geschriebenes. Und geschrieben hat er Verse aus der Tradition des Judentums, des Christentums und des Islam und dazu Worte einiger Dichter deutscher Sprache. Diese Ausstellung findet hier statt – nicht einfach, weil diese Kirche eben ein dafür gut geeigneter Raum ist, sondern weil der Künstler und viele in unserer Gemeinde überzeugt sind, dass Religion und die Kunst zutiefst miteinander zu tun haben. Der Philosoph Nikolaus von Kues meinte in seinem Buch De visione Dei, alles Sichtbare führe in eine Dunkelheit hinein, die ihrerseits enthüllt, dass über aller Verhüllung das Angesicht Gottes zugegen sei. Und wohl ohne um diesen Vorläufer zu wissen, schrieb wiederum Jahrhunderte später der Maler Max Beckmann, man müsse, wolle man das Unsichtbare begreifen, so tief wie möglich ins Sichtbare eindringen. In explizit theologischer Wendung sagte schließlich Hans Urs von Balthasar das Gleiche so:
„[J]e tiefer Gott sich selbst enthüllt, desto tiefer hüllt er sich in den Menschen hinein.“
Und am allermeisten gilt das natürlich für Werke der Kunst, in denen ja nichts anders geschieht, als dass in Ihnen der Menschen der Bewegung seines bewussten Lebens auf der Suche nach einer tiefen Stimmigkeit von allem Ausdruck verleiht.
II
Dieser Zusammenhang gilt für alle Religionen. Darum gehen sie alle auch sehr bewusst und vorsichtig mit Bildwerken um: Denken Sie an das Bilderverbot im Judentum, an die Zurückhaltung gegenüber bildlicher Darstellung im Islam und der damit einhergehenden Konzentration auf die Kalligraphie und Ornamentik. Deswegen werden auch diese beiden Stimmen im Rahmen dieser Ausstellung während der nächsten Wochen zu Wort kommen. Auch im Christentum gab es immer wieder Phasen des Bilderstreits. Aber immer wieder brach und bricht demgegenüber die Überzeugung Bahn, dass auch und gerade im Sinnlichen etwas von der Herrlichkeit Gottes aufleuchten kann. 227 Mal begegnen im Neuen Testament, dieser schmalen Broschüre, die Worte „doxa“ (Herrlichkeit, Erscheinung) und „doxazein“ (erscheinen, aufstrahlen). Mehr als alle anderen Bücher des Neuen Testaments bestimmt das Johannes-Evangelium eine solche ästhetische Achse: Von Anfang bis Ende redet es vom Menschen Jesus aus Nazaret als dem, an dem die „doxa“ Gottes aufleuchtet. In Vers 1,14 heißt es:
„Und das Wort ist Fleisch geworden
und hat unter uns gewohnt,
und wir haben seine Herrlichkeit gesehen,
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,
voll Gnade und Wahrheit [wörtlicher: voll Charme und Treue; K. M.].“ (Joh 1,14)
Und in Vers 13,31 steht:
„Als Judas [beim Abendmahl; K. M.] hinausgegangen war, sagte Jesus: Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht, und Gott ist in ihm verherrlicht“ (Joh 13,31) –
weshalb ja auch für Johannes der Gekreuzigte der Verherrlichte, also die Herrlichkeit Gottes Versinnbildende ist, der die auf ihn Schauenden ergreift, so dass für Johannes Karfreitag, Ostermorgen und Pfingsttag ineins fallen.
III
Diesem Ineinander von Sinnlichem und Unsichtbaren gerecht zu werden, ist für jeden Künstler eine Herausforderung ersten Ranges. Shahid Alam hat dafür den Weg der Kalligraphie gewählt. Und irgendwie scheint mir das auch besonders stimmig, weil sich in diesen kunstvollen Schriftzügen das Unanschauliche, das Sinnenhafte und der geistige Sinn in Gestalt der Worte, die da gemalt sind, unauftrennbar ineinander verschränken: Wie durch einen Vorhang aus Licht hindurch wird ahnbar, was uns bedeutet sein will. Diese Kalligraphien haben etwas Intimes an, man kann sie, wenn man sie eine Weile betrachtet und wenn man gar dem Künstler bei der Arbeit zusieht, wie Sie das hernach auch gleich tun können, fast als eine Art liebkosendes Umspielen des Gemeinten empfinden.
IV
Liebkosen, Intimität – damit ist genau jener Horizont von Eros und Liebe aufgetan, unter dem in der Philosophie schon früh und bis heute nicht eingeholt der Zusammenhang von Kunst und religiöser Erkenntnis durchbuchstabiert wurde, in Platons Dialog „Phaidros“. Er gehört nicht zuletzt durch seine komplexe – um nicht zu sagen: verwirrende – Binnenstruktur zum Herausforderndsten im geschriebenen Oeuvre des Atheners.
Von all dem erwähne ich für unseren Zusammenhang nur, dass im ersten Teil des Dialogs hintereinander drei Reden auf den Eros begegnen: zuerst eine, die Sokrates’ Gesprächspartner Phaidros als Werk des sophistischen Lysias, eines Literaten von gefeierter Könnerschaft wiedergibt; dann eine improvisierte, ebenfalls ausgefeilte des Sokrates, in der freilich eine tiefgründige Inhumanität der sophistischen Auffassung von Eros und Liebe offengelegt wird, die darin besteht, das Erschütternde, Hinreißende am Eros, also die pathische, die Leidensdimension am Widerfahrnis der Liebe aufklärerisch kleinzureden und den Eros sozusagen in eine Funktion der Triebstillung zu technifizieren. Aber weil Sokrates in für ihn typischer Ironie bei dieser Rede so tut, als vertrete er selbst diese Position, hört er auf einmal sein „daimonion" sprechen, das ihm verbietet, von Phaidros wegzugehen, ohne seinen eben begangenen Frevel an Eros zu sühnen, was in einer dritten, diesmal das wahre Wesen des Eros kündenden Rede geschieht. Und dort erläutert Sokrates seinem Gegenüber, dass und wie die "mania" das Außer-sich-Sein, Verrückt-werden im buchstäblichen Sinn, also das Enthusiastische zutiefst zum Menschen gehört. Wie es sich vierfach äußert, dieses Manische: in der prophetischen Ekstase, in der Katharsis, wohl – modern gesprochen – im Sinn der Befreiung von seelischen Lasten, in der dichterischen Entrückung und – in der Erschütterung durch den Eros, die Liebe – alles Weisen gottgegebener aufschließender Erschütterung, durch die der Mensch das Nächstliegende übersteigt.
Die erotische Erschütterung, die oberste und zugleich prinzipiell jedem Menschen offen stehende Weise der "mania" ereignet sich für Sokrates/Platon dabei in der Begegnung mit sinnlicher Schönheit. Der ehemalige Münsteraner Philosoph Josef Pieper sagt darüber:
„Schönheit, irdische Schönheit, sofern sich der Mensch ihr nur offenen Sinnes stellt, vermag ihn mehr als irgendein ‚Wert’ sonst zu treffen und betroffen zu machen und ihn hinauszuwerfen aus dem Bereich des überschaubar Gewohnten, aus der ‚gedeuteten Welt’, in der man sich […] vielleicht sehr verläßlich zu Hause dünkte. Auch die Auskunft des alltäglichen Sprachgebrauchs besagt, ‚hinreißend’ sei vor allem Schönheit. ‚Hingerissen’ aber ist, wer die ruhige Sicherheit des Selbstbesitzes, und sei es auch nur für einen Augenblick, verloren hat; er ist, so sagen wir ‚bewegt’ von etwas anderem; er ist ein Erleidender.“
Das Über-sich-Hinaus in jeder Begegnung mit dem Schönen, das in sich keine Grenze kennt, reißt den vom Eros Ergriffenen dem Göttlichen entgegen, das die Seele nicht aussprechen, nur ahnen kann, sofern sie sich (in Platonischer Perspektive gedacht) an es aus ihrer Präexistenz erinnern kann. Aber diese Macht, Erinnerung und mit ihr Erkenntnis zu wecken, ist das Spezifikum des sinnlich Schönen. Dieses prägt die Form des Versprechens, nicht die der Einlösung, so dass wirklich erschütternd Schönem sich ein Sehnen verbindet, das bis an die Schmerzgrenze und darüber hinaus geht.
V
Ein byzantinischer Theologe des 14. Jahrhunderts, Nikolaos Kabasilas, hat 1700 Jahre nach Platon diesen Zusammenhang von Eros, Liebe und Erkenntnis mit Blick auf Christus reformuliert. Im Zusammenhang von Gedanken über die Wirkung der Taufe schreibt er:
„Menschen, die ein so mächtiges Sehnen in sich haben, dass es ihre Natur übersteigt, und sie mehr begehren und vermögen, als zu erstreben den Menschen zukommt, solche Menschen hat der Bräutigam selber verwundet, deren Augen hat er selber einen Strahl seiner Schönheit gesandt. Die Größe der Wunde verrät ja den Pfeil, und das Sehnen deutet hin auf den, der den Pfeil geschossen hat.“
Und weil man überhaupt nicht etwas lieben kann, dessen Schönheit man nicht zuvor erfahren hat, weil Erkennen das Lieben gebiert, gehören für ihn wunderbares Ungestüm – mania – und höchste Erkenntnis – philosophia – konstitutiv zusammen. Erkenntnis und Verwundung greifen untrennbar ineinander: Die Seele wird vom Schönen, das sie erkennend berührt, mitgerissen und in diesem Ungestüm verwundet dergestalt, dass sie an der Verwundung die wahre Größe des Schönen, sein Unendliches erahnt.
VI
Dass so etwas geschehen kann, schließt aber noch etwas anderes als inneres Ferment ein: Sokrates erwähnt nicht zufällig, dass in der menschlichen Erfahrung auch Verzerrungen des Eros auftreten: Der plane, unmittelbare Sinnengenuss – ein Mitnehmen ohne großes inneres Engagement, was sich eben an Genuss gerade bietet, und die typisch sophistische instrumentelle Erzeugung von Sinnesbefriedigung. Ihnen stehen gegenüber der Eros, der auf Sinnengenuss heroisch verzichtend ganz im Aufschwung der Sehnsucht aufgeht, und – erstaunlich, weil von Platon besonders hervorgehoben – der Eros, der nicht ganz enthaltsam ist, gleichwohl aber jenseits einfachen Begehrens sich ohne Berechnung wirklich hinreißen lässt, darum des Lohnes wahrer Liebe nicht entbehrt und so aufgewogen bekommt, was dem Leben an Philosophischem noch fehlt.
Was Sokrates/Platon eher umwegig erzählt, hat eine einfache Mitte: dass Liebe und die zu ihr gehörende Erkenntnis ohne einen Zug von Genussverzicht und Askese ihr Ziel nicht erreichen. Bei Kabasilas kehrt diese Einsicht darin wieder, dass seine Überlegungen zum verwundenden Pfeil der Schönheit eingebettet sind in eine Tauftheologie, in deren Mitte das Martyrium steht. Die höchste philosophia zu der die christliche mania treibt, ist „Wissen aus der Taufe“, die ein Begraben werden mit Christus bedeutet. Und der zeitgenössische große theologische Ästhetiker der Orthodoxie, Paul Evdokimov, sagt im Blick auf die Erkenntnis aus Malerei im Fall der Ikonen, dass sie seitens der Ikonenmaler ein „Fasten des Sehens“ voraussetzt, einen Weg betender Askese, der dazu befähigt, im Sinnlichen das Sinnliche überschreitend durch dessen Transparenz das Transzendente zu ahnen.
Shahid Alams Kalligraphien tun für mich genau das: Sie faszinierenen, reißen mit, lassen nach mehr verlangen. Und sie üben ein Fasten der Augen als
„[…] Vorhänge des Bleibenden, welche das Besondere, Zufällige zudecken“,
wie einmal der legendäre Wiener Domprediger Otto Mauer schon 1960 angesichts moderner Kunstwerke formulierte.
VII
Und wenn es katholisch einen Ort für solche Erfahrung des Schönen gibt, dann die Liturgie mit allem, was zu ihr gehört. Würden wir dem gerecht, folgte daraus nicht zuletzt eminent Politi-sches: Nicht nur die ganze Gipsmadonnen-Romantik der Pius-Brüder erledigte sich von selbst. Sondern ungleich bedeutsamer täte sich für uns ein ganz neuer Weg für den Dialog mit dem Islam auf, aus dessen Tradition Shahid Alam selber kommt. Denn hinter dessen uns Westler so beirrenden wie betörenden Rezitationskunst des Kor’an und der Kalligraphie steht nichts anders als die bis in die Herzmitte gläubiger Muslime reichende Überzeugung: Gott ist schön. Allein solche Tiefenströme des Geistes schon, die einen wirklichen Dialog der Religionen angstfrei zu tragen vermögen, sind es wert, dem Schönen in unserer Liturgie einzuräumen, was ihm gebührt.